Berliner Pop-Up-Radwege rechtswidrig: Verkehrsverwaltung will Beschwerde gegen Gerichtsentscheid einlegen
Das Verwaltungsgericht hat einem Eilantrag eines AfD-Abgeordneten gegen temporäre Radwege stattgegeben – nun will die Verkehrsverwaltung dagegen vorgehen.
Die Senatsverkehrsverwaltung will gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin zu Pop-up Radwegen Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht einlegen – und zugleich die aufschiebende Wirkung dieser Beschwerde beantragen. Das teilte die Senatsverkehrsverwaltung am Montagnachmittag mit.
Es ist die Reaktion auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin, einem Eilantrag der AfD gegen die sogenannten Pop-up-Radwege in Berlin stattzugeben. Das Verwaltungsgericht hatte in einem Eilverfahren entschieden: Die Voraussetzung zur Errichtung von acht verschiedenen temporären Radwegen in Berlin lag nicht vor. Demnach sind die sogenannten Corona-Radwege rechtswidrig.
Die 11. Kammer verpflichtete den Antragsgegner, die Senatsverkehrsverwaltung, die entsprechenden Schilder zu entfernen. Betroffen sind folgende Pop-up-Radwege: Gitschiner Straße/ Skalitzer Straße zwischen Halleschem Tor und Kottbusser Straße, Hallesches Ufer zwischen Halleschem Tor und Köthener Straße, Kottbusser Damm/Kottbusser Straße zwischen Kottbusser Tor und Hermannplatz, Lichtenberger Straße zwischen Holzmarktstraße und Strausberger Platz, Petersburger Straße zwischen Bersarinplatz und Landsberger Allee, Tempelhofer Ufer zwischen Schöneberger Straße und Halleschem Tor, Schöneberger Ufer zwischen Potsdamer Brücke und Köthener Straße, Kantstraße und Neue Kantstraße zwischen Messedamm und Budapester Straße. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts fiel am Montag.
Zur Begründung der Radwege habe die Behörde von Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) nach Angaben des Verwaltungsgerichts angegeben, es sei in der Pandemie erforderlich, systemrelevante Mobilität zu gewährleisten, da ein Großteil der Berliner kein Auto habe und in Bus und Bahn der Mindestabstand kaum einzuhalten sei, was es rechtfertige, beschleunigt und gegebenenfalls provisorisch Radwege zu schaffen, so das Verwaltungsgericht zum Hintergrund.
Die AfD als Antragsteller hingegen ist der Meinung, die Radwege würden einer Rechtsgrundlage entbehren. Sie argumentierte unter anderem, so das Gericht, "verkehrsfremde Erwägungen" wie die Corona-Pandemie könnten nicht als Begründung herangezogen werden und darüber hinaus habe die Senatsverwaltung keine konkrete Gefahrenlage dargelegt.
Aus Sicht der Senatsumweltverwaltung hingegen habe das Verwaltungsgericht grundsätzliche Fragestellungen in seiner Eilentscheidung nicht berücksichtigt. "Hier bedarf es einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, um auch in Zukunft Rechtssicherheit für das weitere Vorgehen bei Anordnungen von Radwegen zu erhalten", hieß es zur Beschwerde am Nachmittag. Aus Sicht der Verkehrsverwaltung seien die Pop-Up-Radwege rechtmäßig angeordnet worden. Sie dienten besserer Sicherheit im Straßenverkehr und es sei auch kein Verkehrsteilnehmer in seinen Grundrechten verletzt, wenn Radwege angeordnet werden, hieß es. Man verfolge weiterhin das Ziel, die bisher nur provisorischen Strecken auch dauerhaft als Radwege auszuweisen.
Verkehrssenatorin Günther hatte bereits am Mittag angekündigt, dass die Juristen ihrer Verwaltung "fieberhaft das Urteil prüfen". Zu der Prüfung gehöre auch, ob die Radwege jetzt tatsächlich sofort beseitigt werden müssen.
Aus der Verkehrsverwaltung hieß es, der Beschluss des Gerichts sei durchaus überraschend gekommen und der Verwaltung erst Montagmorgen zugegangen. Dem Vernehmen nach hat die Verkehrsverwaltung einen solchen Beschluss für nicht möglich gehalten.
Die Pandemie im Zusammenhang mit der Errichtung der Pop-Up-Radwege sei lediglich ein zusätzliches Argument gewesen. Alle Radwege seien auf Grundlage der Straßenverkehrsordnung angeordnet worden, hieß es. Nur als zusätzliches Argument, der Bevölkerung die Radwege zu vermitteln , sei die Pandemie genannt worden - das ist in etwa die Verteidigungslinie im Hause Günther.
Ein Mitarbeiter der Verwaltung sagte, dass mit dieser Begründung auch andere Radwege als Corona-Radwege weggeklagt werden könnten, zum Beispiel der Pollerradweg an der Hasenheide.
Gericht: "Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Radwegeinrichtung"
Das Verwaltungsgericht gab dem Eilantrag laut Begründung auch statt, weil "ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Radwegeinrichtung" bestünden. Radwege dürften "nur dort angeordnet werden, wo Verkehrssicherheit, Verkehrsbelastung und/oder der Verkehrsablauf ganz konkret auf eine Gefahrenlage hinwiesen und die Anordnung damit zwingend erforderlich sei".
[Der Verkehr in der Metropole: Das ist regelmäßig auch ein Thema in unseren Leute-Newslettern aus den zwölf Berliner Bezirken. Die Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de]
Eine solche Gefahrenlage habe die Senatsverkehrsverwaltung nicht dargelegt, sondern sei fälschlich davon ausgegangen, sie müsse sie nicht begründen. "Tatsachen, die auf eine konkrete Gefahr für den Radverkehr auf den betroffenen Straßenabschnitten hindeuteten, ließen sich der Begründung zur Anordnung nicht entnehmen."
Auch mit Blick auf die Coronakrise als Begründung gab das Gericht dem Antragsteller Recht: Die Pandemie könne nicht zum Anlass der Anordnungen herangezogen werden - es handele sich dabei "nicht um verkehrsbezogene Erwägungen". Ferner hieß es in der Mitteilung des Gerichts: "Die weitere Begründung der Senatsverwaltung bleibe ohne konkrete Belege und gehe über allgemeine, an einer Vielzahl von Straßenzügen gültige Situationsbeschreibungen nicht hinaus."
Senat hätte für jeden der acht Radwege eine Begründung liefern müssen
„Man muss aufzeigen, dass es an den Stellen, an denen die Radwege eingerichtet werden, zwingend geboten ist, und zwar aus verkehrsbezogenen Gefährdungsaspekten heraus“, sagte Gerichtssprecher Dominic Hörauf dem Tagesspiegel. Die Senatsverwaltung habe gedacht, dass es ausreicht zu sagen, dass der Radweg allgemein eine Verbesserung der Verkehrssituation bedeutet und dazu noch pandemiebedingt geboten ist. Das reiche jedoch nicht aus.
Rechtsgrundlage ist Paragraph 45 Absatz 9 der Straßenverkehrsordnung. Ziel aller Regelungen ist die „Flüssigkeit und Leichtigkeit des Verkehrs“, und zwar für alle Verkehrsteilnehmer. Radfahrer sind gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer. Sie dürfen die Fahrbahn nutzen; entschließt sich aber eine Verkehrsbehörde, einen Teil der Fahrbahn als Radfahrstreifen abzutrennen, so braucht sie dafür einen ganz konkreten Grund. Der Senat hätte also für jeden der acht Radwege einzeln und konkret auf diesen Ort bezogen begründen müssen, warum der neue Radstreifen an dieser Stelle zwingend erforderlich ist.
Geklagt hatte ein AfD-Abgeordneter
Der Beschluss richtet sich keineswegs grundsätzlich gegen neue Radwege. Es stellt nur die fehlende notwendige Begründung von konkreten Gefahren an bestimmten Stellen fest. Möglicherweise kann also die Senatsverkehrsverwaltung später auch Radwege mit einer erneuten und besseren Begründung wieder einrichten. Der Senat will sich auf seiner Sitzung am Dienstag mit dem Thema Verkehrsplanung befassen.
Der AfD-Abgeordnete und Verkehrspolitiker Frank Scholtysek hatte im Juni gegen die Einrichtung von acht neuen, kurzfristig angelegten Fahrradwegen in Kreuzberg, Friedrichshain, Schöneberg und Charlottenburg geklagt. Weitere neue Radwege sind von diesem Beschluss nicht betroffen, weil sie später gebaut wurden.
AfD: "Sieg der individuellen Mobilität gegen den Autohass"
Die AfD feierte den Beschluss des Gerichtes in einer Mitteilung so: "Die Pop-up-Radwege sind illegal!" AfD-Verkehrsexperte Frank Scholtysek sagte: "Dies ist ein Sieg der individuellen Mobilität gegen den Autohass. Wir freuen uns, dass erstmals linke Ideologen von Richtern in ihre Grenzen verwiesen wurden. Jetzt müssen die rechtswidrigen Barrikaden sofort abgebaut und die Straßen wieder frei gemacht werden."
AfD-Rechtsexperte Marc Vallendar erklärte: "Das Gericht ist unserer Klagebegründung vollumfänglich gefolgt. Damit haben die Richter ohne Einschränkungen bestätigt, dass die Einrichtung und der Betrieb der Radweg durch Rotrotgrün komplett rechtswidrig ist. Klarer geht es nicht."
Die AfD kündigte an, sich "weiter gegen das verkehrspolitische Umerziehungslager Berlin wehren" zu wollen, die Partei nannte "Straßensperren, Parkplatzverbote und immer höhere Gebühren". Rechtsanwalt Vallendar hatte seine Partei in dem Verfahren vertreten.
Betroffen sind Radwege, die von Fahrradverbänden besonders gelobt wurden
Betroffen von dem Gerichtsbeschluss sind gerade die Radwege in Friedrichshain-Kreuzberg und Charlottenburg, die von Fahrrad- und Umweltverbänden besonders viel Lob bekommen hatten. Zum Kottbusser Damm / Kottbusser Straße zum Beispiel hatte der Bezirk angegeben, dass diese dauerhaft erhalten werden sollen.
Die Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Monika Herrmann (Grüne), sagte dem Tagesspiegel, dass man sich "das erst einmal in Ruhe ansehen" werde. "Dann entscheiden wir, ob und was zu tun ist." Da alle Corona-Radwege an Hauptstraßen liegen, werde man eng mit der Verkehrsverwaltung von Regine Günther (Grüne) beraten. Ragnhild Soerensen vom Verein "Changing Cities", der aus dem Volksentscheid Fahrrad hervorging, forderte die Verkehrsverwaltung zum Nachbessern auf. Die Begründungen für die Gefahrenlage an den einzelnen Straßen müssten präzisiert werden, "dann ist das Problem hoffentlich aus der Welt". Angesichts von 14 getöteten Radfahrern in Berlin in diesem Jahr sei der Beschluss ein "Affront", sagte Soerensen dem Tagesspiegel.
CDU: "Niederlage erster Klasse"
Der verkehrspolitische Sprecher der CDU im Abgeordnetenhaus, Oliver Friederici, sprach von einer "Niederlage Erster Klasse" für den Senat. Er sei nicht zwar nicht grundsätzlich gegen Pop-up-Radwege, doch sie müssten juristisch zweifelsfrei begründet sein. Friederici forderte deshalb, alle Pop-up-Radwege "unverzüglich" zu entfernen.
Erst nach eindeutiger Klärung und einer hinreichenden Bürgerbeteiligung könne über temporäre Radwege nachgedacht werden. In der Kantstraße und am Landwehrkanal erlebe er tägliches Verkehrschaos wegen der neuen Radstreifen. "Der Radverkehr hat in der Pandemie zugenommen, der Autoverkehr hat aber auch nicht abgenommen", sagte er und prognostizierte mit Blick auf den Winter einen sinkenden Anteil von Radfahrern in der Stadt.
[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Auch der Fraktionsvorsitzende der Berliner FDP, Sebastian Czaja, kritisierte Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) scharf: "Ausgerechnet bei ihrem Kernthema hat die grüne Verkehrssenatorin auf ganzer Linie versagt." Er forderte eine Neuprüfung aller temporären Radwege unter Beteiligung von Anwohnern, BVG und anderen Betroffenen.
Czaja sagte weiter: "Nur wenn dieser wirklich zur Verbesserung des Verkehrsflusses und zur Beseitigung von Gefahrenlagen beiträgt, darf der Radweg verstetigt werden, ansonsten sind diese unmittelbar zu beseitigen."
Zurückhaltender äußerte sich der ADAC: Die Entscheidung des Gerichts sei keine Überraschung, aber auch "kein Grund zum Feiern", sagte Volker Krane, Verkehrsvorstand vom ADAC Berlin-Brandenburg. „Die Corona-Pandemie zu nutzen, um Straßenraum dauerhaft umzuverteilen, war der falsche Ansatz. Die Niederlage des Senats darf jedoch kein Anlass dafür sein, die ideologischen Fronten zwischen Auto- und Fahrradfahrern weiter zu verschärfen."
Beim ADFC sieht man die Entscheidung gelassen: Die Errichtung der Pop-Up-Radwege sei sinnvoll gewesen, Berlin verzeichne durch die Corona-Pandemie einen Anstieg des Radverkehrs um 25 Prozent. "Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat bestätigt, dass man die Sicherheit im Verkehr für Radfahrende schnell auch durch Pop-Up-Radwege verbessern kann – und das ist auch unsere Rechtsauffassung", sagte Sprecherin Lisa Feitsch dem Tagesspiegel. Das Verwaltungsgericht stoße sich an der Corona-bezogenen Begründung der Verkehrsverwaltung, es solle stattdessen die Verkehrssicherheit im Vordergrund stehen. "Bei einer mehrspurigen Straße mit schnellem Autoverkehr ohne Radweg lässt sich leicht begründen, dass ein geschützter Radweg die Verkehrssicherheit steigert. Insofern sehen wir das Urteil gelassen", so Feitsch.
Der Geschäftsführer der Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg, Sven Weickert, sagte: "Die Einrichtung von Pop-up-Radwegen war vorschnell, das hat der Senat vom Verwaltungsgericht nun schriftlich. Daraus muss die Senatsverwaltung für Verkehr schnell Konsequenzen ziehen. Bevor solche Radwege ausgewiesen werden, muss die Politik in Zukunft auch klären, welche Folgen der Umbau der Straßen für den Wirtschaftsverkehr hat." Etwa beim Pop-up-Radweg auf der Kantstraße seien die Belange der Unternehmen übergangen worden. "Mehr Sicherheit für Radfahrer und eine funktionierende Logistik für die Stadt müssen zusammen gedacht werden."