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Strittige Pop-up-Radwege: So eng wurde auf den Strecken überholt

Einige Pop-up-Radwege sind rechtswidrig. Tagesspiegel-Daten zeigen, wie gefährlich die Abschnitte vorher waren. Diese Daten werden nun vor Gericht verwendet. 

Die Pop-up-Radwege sollten mehr Sicherheit für Radfahrende in Berlin bringen. Doch nun müssen möglicherweise einige von ihnen wieder entfernt werden. Das Berliner Verwaltungsgericht hatte vergangene Woche im Eilverfahren acht der 17 temporären Radwege für rechtswidrig erklärt. Das Problem: die Begründung.   

Die Senatsverwaltung hatte die Einrichtung der neuen Radwege mit der Pandemie begründet. Sie sollten die Kapazitäten für Radfahrende auf diesen Strecken erhöhen und es ihnen ermöglichen, Abstand zueinander zu halten. Dem Gericht reichte das nicht. Die Entstehung von neuen Radwegen dürfte "nur dort angeordnet werden, wo Verkehrssicherheit, Verkehrsbelastung und/oder der Verkehrsablauf ganz konkret auf eine Gefahrenlage hinwiesen und die Anordnung damit zwingend erforderlich sei" – also wo es wirklich für Radfahrer gefährlich ist.  

Tagesspiegel-Messungen zeigen, wie eng es auf den Strecken vorher zuging 

Dass die Verwaltung die Popup-Radwege unsauber begründete, heißt jedoch nicht, dass diese Strecken tatsächlich ungefährlich sind. Ohne Pop-up-Radwege wurde auf diesen Abschnitten gefährlich eng überholt. Wie dicht und wie oft dort überholt wurde, bevor es die abgegrenzten Wege gab, hat 2018 erstmals das Tagesspiegel-Projekt Radmesser mithilfe speziell entwickelter Sensoren in Berlin belegt. Ein Pkw muss bei einem Überholmanöver mindestens 1,5 Meter Abstand zu einem Radfahrenden halten. Das ist seit April in der StVO vorgeschrieben, zuvor war es bereits geltende Rechtsprechung. 

Im Rahmen der Diskussion um die Pop-up-Radwege haben wir uns die Daten erneut angeschaut – für die von dem Gericht beanstandeten acht Strecken. Die Analyse zeigt: Ohne Pop-Up-Radweg wird dort gefährlich eng überholt.  

Die Verkehrsverwaltung hat am 16.September Beschwerde gegen das Urteil eingelegt. Dabei hat sie auf die offenen Daten des Tagesspiegel-Projektes Radmesser zurückgegriffen, wie die Senatsverwaltung am Mittwoch bestätigte: “Im Rahmen der Beschwerde (gegen den Eil-Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin) sind auch die Daten des Radmesser-Projekts ausgewertet worden”, teilte Pressesprecher Jan Thomsen per E-Mail mit. Die Messungen waren die ersten, die Überholabstände zwischen Auto- und Radfahrenden systematisch erfassten. Neben weiteren Daten wie Unfallstatistiken, die dem Gericht vorlegt wurden, könnten diese Messungen nun neuen Schwung in das Verfahren bringen.  

100 Testfahrerinnen und Testfahrer aller Altersgruppen waren vor zwei Jahren mit den vom Radmesser-Team entwickelten Sensoren unterwegs. Dabei waren 56 Prozent aller gemessenen Überholvorgänge zu dicht. Per Ultraschall haben die Geräte den Abstand zu den vorbeifahrenden Autos gemessen. 2018 wurden 100 dieser Sensoren von Ende August bis Mitte November 2018 an 100 freiwillige Radfahrerinnen und Radfahrer im Alter von 20 bis 78 Jahren verteilt. Während ihrer Fahrten durch Berlin erhoben die Teilnehmer acht Wochen lang Daten in der ganzen Stadt, auf deren Basis das Projekt ermittelte, wo der Verkehr in der Hauptstadt für Radfahrer besonders eng und gefährlich ist. Insgesamt legten die Freiwilligen 13.300 Kilometer Strecke zurück.   

Weniger als 50 Zentimeter Platz zwischen Auto und Rad 

Blickt man auf die Pop-up-Radwege, so wurden vor allem an der Kantstraße die Teilnehmenden besonders oft und besonders dicht überholt. Dreimal wurde sogar ein Abstand von unter 50 cm gemessen – von insgesamt 191 Überholmanövern auf der Strecke. Nicht alle Strecken wurden von den Teilnehmenden gleich häufig gefahren, sodass die Gesamtzahl der gemessenen Überholmanöver stark variieren kann. Das Teilstück des Schöneberger Ufers etwa, auf dem einer der strittigen Pop-up-Radwege liegt, wurde nur zweimal befahren. Dabei wurden zu diesem Zeitpunkt keine Überholvorgänge gemessen. Wo genau die Überholvorgänge passierten, können Sie auf der Projektseite von Tagesspiegel Radmesser nachschauen.  

[Interaktive Grafiken und Datenanalysen: Lesen Sie hier die neusten Projekte aus dem Tagesspiegel Innovation Lab.]

Diese Abstandsmessungen legen nahe, dass Fahrradfahren auf den strittigen Strecken durchaus brenzlig war. Weitere Datenanalysen kommen zu ähnlichen Schlüssen. So enthält der Unfallatlas alle Verkehrsunfälle, bei denen eine Person verletzt wurde. 5005 Unfälle mit Radfahrer-Beteiligung gab es demnach 2019 in Berlin, zahlreiche davon auf den Strecken der strittigen Radwege, wie diese Karte zeigt.  

Dazu kommt die gefühlte Sicherheit, die fundamental dafür ist, wie bedrohlich sich Straßen anfühlen – nicht nur auf dem Fahrrad, sondern auch im Auto. Auch hierzu gab es eine große Umfrage vom Tagesspiegel und dem Berliner Startup FixmyBerlin – den Berliner Straßencheck. Eines der Hauptergebnisse war. Radwege sollten möglichst klar vom motorisierten Verkehr getrennt sein und möglichst breit sein. Auf solchen Straßen fühlen sich demnach auch Autofahrer sicherer. 

Die sachlichen Fakten, um die strittigen Pop-Up-Radwege zu begründen, waren also durchaus vorhanden. Auf Corona hätte die Verkehrsverwaltung die Entscheidung nicht schieben müssen. 

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