Jens-Holger Kirchner wird versetzt: Verkehrssenatorin trennt sich von Verkehrsfachmann
Staatssekretär Jens-Holger Kirchner wird überraschend in den Ruhestand versetzt. Aber wer kümmert sich jetzt um den Verkehr in Berlin?
Die Bestandsaufnahme der Verkehrssenatorin war ernüchternd: Der Beitrag des Verkehrs zum Klimaschutz „ist bisher null“, Berlin sei geprägt von Investitionsstau und Problemen des öffentlichen Nahverkehrs, „von einer Fahrrad-Infrastruktur kann man kaum sprechen“. Aber: Die Tage der fossil angetriebenen Privatautos seien gezählt, und „die vielen Verkehrstoten und Verletzten werden wir nicht mehr ausblenden können“. Das sprach Regine Günther Mittwochfrüh zum Auftakt einer Mobilitätskonferenz – und prominente Gäste hörten zu: Die für Verkehr zuständigen Vizebürgermeister von Paris und Moskau, der Verkehrsminister der Region Brüssel, der Planungsdirektor der Londoner Transportbehörde, der Vizechef der Pekinger Transportverwaltung.
Während die Fachleute im Spreespeicher am Osthafen zwei Tage lang ihre Erfahrungen darüber austauschen, wie die Verkehrswende gelingen und die Städte vom Autoverkehr entlastet werden können, versetzt Günther ihre dafür zuständige Spitzenkraft in den einstweiligen Ruhestand – den schwer erkrankten Verkehrsstaatssekretär Jens-Holger Kirchner (Grüne). Der frühere Pankower Stadtrat hat – im Gegensatz zu Günther und deren Umweltstaatssekretär Stefan Tidow – langjährige Erfahrungen in der Berliner Landespolitik und kennt die Stadt und ihre Behörden wie kaum jemand sonst.
Ingmar Streese soll als Nachfolger antreten
Kirchners Nachfolge als Verwaltungschef soll nach Tagesspiegel-Informationen Ingmar Streese antreten, der unter Renate Künast im Bundeslandwirtschaftsministerium gearbeitet hat und zuletzt den Geschäftsbereich Verbraucherschutz beim Verbraucherzentrale-Bundesverband leitete. Damit ist es an einem Biologen, die Verkehrswende voranzubringen, deren Umsetzung vielen Grünen und Initiativen wie dem Fahrrad-Volksentscheid viel zu langsam vorankommt. Hinzu kommen die Probleme der BVG und die Lähmung der Verkehrslenkung, deren Chef im Frühjahr entnervt wegging. Bei der Verbraucherzentrale ist Streese neben Mobilität auch für Energie, Gesundheit, Lebensmittel und Reisethemen zuständig.
„Übergangslösungen können nicht auf Dauer bestehen bleiben“
Günther begründete die Absetzung von Kirchner damit, „mein Haus wieder voll funktionsfähig zu machen. Übergangslösungen können nicht auf Dauer bestehen bleiben.“ Die Entscheidung ist auch bei den Grünen umstritten. Befürworter folgen Günthers intern geäußerter Begründung, dass die Stelle nicht länger vakant bleiben könne. Kritiker halten seine Absetzung nicht nur für unanständig, sondern auch für töricht, weil der beste Verkehrsexperte der Stadt kaum durch einen fachfremden Verbraucherschützer zu ersetzen sei. Bei der Senatsbildung 2016 galt Kirchner als Favorit für den Senatorenposten, passte aber als Mann und Realo nicht ins Proporz-Schema der Grünen.
Seit dem Frühjahr wird Kirchner wegen Darmkrebs behandelt. „Ich bin gern Staatssekretär und wäre es auch gern weiter“, sagte er am Mittwoch. Nach drei Operationen und sechs Chemotherapien sei er „ein bisschen wacklig auf den Beinen, aber fit“. Weiter wollte sich der 59-Jährige nicht äußern.
„er fehlt hier fachlich und menschlich“
Aus Kirchners Umfeld ist allerdings zu hören, dass er Günther und Tidow im September detaillierte Vorschläge zu einer Teilzeitarbeit gemacht hat – die ihm verwehrt wurde. Im Frühjahr 2019 wollte Kirchner zurückkehren. „Er ist ein ganz feiner Mensch“, ist aus der Verwaltung zu hören, „er fehlt hier fachlich und menschlich“. Mit Günther habe es keinen offenen Krach gegeben, aber das Verhältnis sei schwierig gewesen – was sich auch daran zeigte, dass der streitlustige Kirchner öffentlich keine Themen mehr setzen durfte, nachdem er Anfang dieses Jahres beispielsweise mit markigen Worten die billigen Anwohner-Parkvignetten infrage gestellt hatte.
Auch außerhalb seiner Verwaltung war Kirchner hoch geachtet: Landesunternehmen lobten ihn als ungewohnt verlässlichen Ansprechpartner, Initiativen beschrieben ihn als engagierten und kompetenten Antreiber seiner Verwaltung.
Welches menschliche Drama Kirchners Quasi-Rauswurf abgesehen vom enormen fachlichen Verlust bedeutet, zeigt der Rat eines behandelnden Arztes vom September: Kirchner möge möglichst schon während seiner Erkrankung weiter arbeiten. „Dies ist nicht nur ein gut gemeinter Rat, sondern von immanenter Bedeutung für den Heilerfolg“ und durch Studien eindrucksvoll belegt, attestierte der Mediziner. Ein – schlimmstenfalls sogar ungewollter – Rückzug aus dem Beruf lasse nicht nur Depressionen befürchten, sondern bewirke erfahrungsgemäß „eine nachweisbare Schwächung des Immunsystems. Dies ist aber das Letzte, was wir in Ihrer Situation brauchen.“
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