Stasi-Mitarbeit von Verleger Holger Friedrich: Vergangenheit lässt sich zudecken, aber sie bleibt gegenwärtig
Verleger Holger Friedrichs Umgang mit seiner Stasi-Mitarbeit zeigt, wie vielschichtig ostdeutsche Geschichte ist – und dass Verantwortung nicht vergeht.
Es ist schon verrückt: In dem Moment, in dem Deutschland denkt, jetzt reiche es aber langsam mal mit diesem anstrengenden Ost-West-Gerede, in dem die Stasi-Akten-Behörde abgewickelt und der Solidaritätszuschlag nahezu abgeschafft wird; in dem Moment, in dem man zum 30-jährigen Jubiläum des Mauerfalls noch mal eine große Party raushaut, weil dann bestimmt zehn Jahre Ruhe ist mit Revolution; genau dann ist das Land voller ungehörter und unerhörter Geschichten made in Ost-Berlin and born in the GDR.
Deutschland begreift endlich als Ganzes: Es gibt viele unerforschte Schichten in uns allen, die sich im Leben im Osten (und auch in hiesigen Wahlergebnissen) widerspiegeln. Um sie zu verstehen, lohnt es sich, den beständigen Blick in Richtung Westen, den Ost und West beide getrennt voneinander eingeübt hatten und der es ihnen verwehrte, sich gegenseitig besser zu erkennen, endlich einander zuzuwenden. Beim Zuhören fängt das Reden an.
Am Ende einer erstaunlichen Festwoche voller bisher unerzählter Wendewundergeschichten tritt eine Geschichte zu Tage, die schon jetzt filmreif ist, auch wenn oder gerade weil sie bei einer Zeitung spielt. Holger Friedrich, gerade erst ins Scheinwerferlicht der Stadt und des ganzen Landes getretener neuer Verleger der „Berliner Zeitung“, muss auf Nachfrage anderer zugeben, für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR gearbeitet zu haben.
Und diese, seine Geschichte offenbart uns allen so viele Schichten, wie sie womöglich nur der zerklüftete ostdeutsche Erfahrungshorizont zu bieten hat. Das Gefühl dazu beschreibt Udo Lindenberg wohl immer noch am besten mit seinem Liebeslied, das schon damals über die Mauer in Richtung Osten klang: Hinterm Horizont geht’s weiter. Auch hinterm Horizont der eigenen Vorstellungen.
Verletzte Verleger-Gefühle
Allein der Ort des Geschehens, die „Berliner Zeitung“, öffnet mit ihrer Geschichte einige Erfahrungshorizonte: einst dem Zentralkomitee der DDR-Staatspartei SED unterstellt und zum sozialistischen Jubeln angehalten, dann nach der Friedlichen Revolution ein Sammelbecken von Journalisten, die den aufrechten Gang lernten, später auf dem Weg zu einem Gesamt-Berliner Blatt, dann in Turbulenzen gebracht von abwechselnd größenwahnsinnig agierenden oder kleinkariert rechnenden Verlegern.
In Stellung gehalten von einer unabhängigen, kämpferischen aber inzwischen auch ausgelaugten Redaktion, nun aufgekauft vom Berliner Unternehmer-Ehepaar Silke und Holger Friedrich, das mit IT-Start-ups viel Geld gemacht hat und nun voller Stolz den Verlag zum Start up des Journalismus umzumodeln gedenkt – und zu einer Art ostdeutschem Erfolgsmodell. Womöglich auch aus Enttäuschung über eine „westdeutsche Selbstvergewisserung, Sieger der Geschichte zu sein“.
Immerhin diesen Zwischenruf aus ihren vielen in der eigenen Zeitung publizierten Zwischenrufen in eigener Sache hatten die jungen Verleger nicht exklusiv.
Aber eignet sich eine Zeitung, die als unabhängige Stimme wichtig ist für die Berliner Pressevielfalt und mit der der Tagesspiegel bei aller Konkurrenz gerade gemeinsam mit einer Debattenserie, einem Fest in der Volksbühne und einer rollenden U-Bahn-Redaktion zwischen Ost und West 30 Jahre Meinungsfreiheit gefeiert hat; eignet sich ein solches für die Stadt wichtiges Medium wirklich als Schreibgeschütz für verletzte Gefühle ihrer Verleger?
Mehr noch: Musste es soweit kommen, dass die Redaktion am Freitagabend in einer eigenen Erklärung ihre Unabhängigkeit betonen muss – eine Unabhängigkeit, die sie sich über Jahrzehnte voller Zeitenwenden und persönlicher Lebenswenden hart erkämpft hat? Die neuen Inhaber haben es zumindest soweit kommen lassen, weil sie die Schichten der eigenen Vergangenheit offenbar selbst unterschätzt haben.
Die Reichhaltigkeit ostdeutscher Geschichtsgegenwart
Im jetzigen Geschehen und im vorher Nicht-Geschehenen zeigt sich die ganze Problematik, aber auch die ganze Reichhaltigkeit ostdeutscher Geschichtsgegenwart. Nach Recherchen der „Welt am Sonntag“ hat Holger Friedrich unter dem Decknamen „Peter Bernstein“ bei der Staatssicherheit zwischen Dezember 1987 und Februar 1989 Menschen aus seinem Umfeld mit persönlichen Details oder Beobachtungen belastet.
Mindestens einer von seinen Kameraden bei der Nationalen Volksarmee, bei der er als Unteroffizier diente, habe aufgrund seiner handschriftlichen Berichte persönliche Konsequenzen fürchten müssen, gegen andere verfügte die Stasi demnach „Maßnahmen“. Friedrich behauptet zwar, er sei nicht „aktiv für das MfS tätig gewesen“. Solche Selbsteinschätzungen taugen allerdings nicht für das schnelle Ende einer Spitzelgeschichte.
Der gern gebrauchte Satz von enttarnten Helfern der DDR-Geheimpolizei, man habe zumindest „niemandem geschadet“, hat noch nie gestimmt. Woher sollte ein Zuträger wissen, welches Bild die Stasi mit seinem Puzzleteil, und sei es noch so klein, über einen Menschen zusammensetzte, um ihre „zersetzenden Maßnahmen“ gegen angeblich „feindliche Elemente“ des Sozialismus einzuleiten? Diese reichten von der systematischen Zerstörung von Biografien und Familien bis hin zu Haft oder auch Erpressung zu eigener Spitzeltätigkeit.
In einer Erklärung „in eigener Sache“, die Friedrich am Freitag über die Webseite und am Sonnabend in der gedruckten Ausgabe der Berliner Zeitung verbreiten ließ, stellt er sich selbst als Opfer einer solchen Erpressung dar. Ihm habe wegen des Verdachts einer geplanten Flucht in den Westen eine Gefängnisstrafe gedroht, als „Wiedergutmachung“ habe er sich als Spitzel verpflichtet. Den Inhalt eines Spitzelberichts, in dem der Bruder eines Soldaten wegen angeblicher Ausreisegedanken belastet wurde, habe er vorher mit dem Bespitzelten abgesprochen, sagt Friedrich heute. Danach habe er sich aktiv dekonspiriert und so für die Stasi als Mitarbeiter unmöglich gemacht.
Die Akten sind nicht vollständig öffentlich
Unabhängig davon, dass diese Behauptungen noch zu überprüfen sind, klingen sie – in der Erfahrung gelernter DDR-Bürger und mit der Erfahrung jahrelanger Stasi-Forschung – nicht unbedingt unglaubwürdig. Stimmen müssen sie trotzdem nicht. Die Akten – von der Stasi-Unterlagen-Behörde übrigens als Täter-Akten auf Antrag herausgegeben – sind nicht vollständig öffentlich, der Bespitzelte hat sich noch nicht geäußert.
Was aber ganz sicher stimmt: Die Stasi hat Menschen auch durch Erpressung zu einem Teil von ihr gemacht (umso erstaunlicher, dass sich Spitzel in West-Berlin und Westdeutschland ganz freiwillig oder nur des Geldes wegen dem Schreckensministerium als Helfer angedient haben). Und es gab immer auch Nuancen, was man als Spitzel über andere berichtet, was man vielleicht nicht berichtet hat. Aber jeder in der DDR wusste zumindest, auf wen er sich bei Erich Mielkes „Firma“ einlässt. 90.000 hauptamtliche Mitarbeiter und bis zu doppelt so viele inoffizielle Helfer hatte die Stasi. Die meisten Täter sind weiterhin, oft noch laut schweigend, unter uns. Die Opfer, oft noch leise leidend, sind es auch. Immerhin die Akten sind offen zugänglich, ostdeutsche Bürgerrechtler hatten dies erkämpft und als eine von wenigen Errungenschaften und gegen westdeutsche Widerstände bis hinein in die Bundesregierung in das neue gemeinsame Land einbringen dürfen.
Deutschland hat viele Stasi-Debatten erlebt in drei Jahrzehnten zuweilen hektischer Aufarbeitung. Dabei war es wichtig, dass insbesondere Amtsträger, Politiker, Schuldirektorinnen, Richter überprüft wurden, ob sie einst integer gehandelt haben und damit für eine neue Zukunft in der Demokratie tragbar sind. Für viele Ostdeutsche traten dabei schmerzhafte Wahrheiten zutage, war doch mancher ihrer Hoffnungsträger wie etwa SPD-Politiker Ibrahim Böhme stärker in Lügen verstrickt als beschworen; und manche Frage, etwa an Gregor Gysi, bleibt bis heute offen.
Erinnerungsraum mit Leerstellen
Erinnerungsraum mit Leerstellen
Doch hinter alledem lauerte eine eigentlich größere Frage, die sich viele lieber nicht selbst stellen wollten: Welche Tante, welcher Neffe war es womöglich an unserem Familientisch? Viele mochten das am Ende nicht so genau wissen, um den Familienfrieden nach dem Umbruch nicht zu stören. Doch was war der früher eigentlich wert unter diesen Umständen?
Hinzu kam die hastige deutsche Einheit, die jede einzelne Biografie, jeden einzelnen Landstrich Heimat auf den Kopf stellte – wer hatte da noch einen Kopf dafür, sich und seine Nächsten zu befragen, warum er wann was getan hat oder eben nicht? Für viele war es inmitten der Brüche auch zwischen Ost und Ost leichter, gemeinsam dem Westen die Schuld an allen erhofften Träumen zu geben, die nicht in Erfüllung gingen. Und so entstand nach ihrem Untergang die DDR auf eine gewisse Art neu – als Erinnerungsraum, in dem die Erzählungen allerdings weiterhin viele Leerstellen hatten.
Das Leben der Anderen. Der Turm. Weißensee. Unter Leuten. Gundermann. In Filmen, Fernsehserien und Büchern wurde das vielschichtige Leben und Leiden in der DDR, auch an der Stasi im eigenen Haus, auf großartig vielseitige Weise dargestellt. Und jedes Mal spielt eine ganz universelle Frage die Hauptrolle: Was hätte ich eigentlich damals getan für meine Karriere, für meine Liebe, für meine Kinder – wen hätte ich womöglich verraten, über wen mich erhoben? Und welche Preise bin ich heute bereit zu zahlen, damit sich meine Lebenswünsche erfüllen – und die von anderen damit womöglich nicht?
Allzu schnell und zweifarbig sollte man jedenfalls nicht über ostdeutsche Biografien urteilen, auch nicht über die eines sendungsbewussten Verlegers, denn „auch in Westdeutschland lebten nicht nur Mutbolzen“. So sagte es gerade Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich des Mauerfall-Jubiläums in einem ihrer wenigen erhellenden ostdeutschen Momente. Auch über ihre DDR-Familiengeschichte weiß man trotz 14 Jahren Kanzlerschaft allzu wenig.
Selbstkritischer Umgang mit dem Gestern im Heute
Dabei offenbart sich gerade in Ostdeutschland: Ohne die Vergangenheit ist die Gegenwart nicht zu verstehen und die Zukunft nicht frei zu gestalten. Dazu gehört, was gerne vergessen wird, der selbstkritische Umgang mit dem Gestern im Heute. Holger Friedrich hat seine Stasi-Tätigkeit erst nach einer Journalistenanfrage öffentlich gemacht, also keineswegs von selbst.
Auch die Redaktion der Zeitung, die er mit seiner Frau in die neue Zeit führen will, wurde von den für die Integrität der Marke so wichtigen Tatsachen am Freitag überrascht. Eine Redaktion, die selbst einen schmerzhaften öffentlichen Prozess der Stasi-Aufarbeitung hinter sich hat – inklusive Kündigungen nahezu sämtlicher Inoffizieller Mitarbeiter Mitte der Neunzigerjahre.
Der damalige Chefredakteur Michael Maier begründet dies damit, dass eine „Arbeit als Redakteur in einer den freiheitlichen Werten der Presse verpflichteten Zeitung“ mit einer früheren IM-Tätigkeit „nicht vereinbar ist“ – Maier nennt das rückblickend einen Neuanfang.
Nun ist er seit kurzem Herausgeber der Zeitung, zurückgeholt von den Friedrichs, und ließ in dieser Eigenschaft in einer eigenen Erklärung am Sonnabend wissen: „Die Thematisierung der Akte des Verlegers Holger Friedrich durch die Zeitung ‘Welt am Sonntag‘ zeigt, dass der Neuanfang immer noch nicht abgeschlossen ist.“
Diese schwierige Situation zumindest hätte Friedrich – wie so viele einstige Mitarbeiter der Stasi – verhindern können: durch eigene Offenbarung, durch Reue und Einsicht, auch durch die Bitte ums Verzeihen und Empathie für die Opfer. Von Holger Friedrich war dies alles bisher nicht zu vernehmen. Und der richtige Moment dafür ist jetzt schon vorbei.
Wenn er tatsächlich Erpressungsopfer war, wie er sagt, hätte er dies schon längst von selbst sagen können und – in der Verantwortung als wichtiger Verleger in Berlin - auch sagen müssen. Gerade in der einstigen Mauerstadt, wo die Vergangenheit noch überall gegenwärtig ist. Gerade in einem Medium, das jetzt damit wirbt, dass es von Berlinern für Berliner ist. Vergangenheiten kann man zudecken. Davon verschwinden sie aber nicht.
Seltsamer Oststolz
Silke und Holger Friedrich haben in einem viel beachteten Essay zum Mauerfall nicht ihre eigenen Vergangenheiten thematisiert, sondern andere, eher allgemeine. In dem zweiseitigen Editorial wurde dem zwischenzeitlichen SED-Chef Egon Krenz gedankt, dass er 1989 angeblich nicht zu den Waffen habe greifen lassen.
So viel – seltsames – Geschichtsbewusstsein war vorhanden, einem überführten Wahlfälscher, Mauerschießbefehl-Decker, Oppositionsverfolger bis in die Schule seines Sohnes in Pankow hinein und Peking-Massaker-Gutheißer noch einen Lorbeerkranz für einen friedlichen Umbruch zu flechten.
Diesen Umbruch hatten doch vielmehr die Menschen auf den Straßen bewirkt mit Kerzen in den Händen und Mut in ihren Herzen - viel mehr jedenfalls als ein damals sowieso eher ohnmächtiger als mächtiger SED-Genosse, der den Mauerfall über sich und sein halbes Land ergehen ließ.
Dieser Dank wurde nach Protesten auch in der eigenen Redaktion von Holger Friedrich in einem später hinterhergeschobenen Interview mit der eigenen, durchaus nachvollziehbaren Angst als Soldat in der Kaserne begründet, auf das eigene Volk schießen zu müssen. Dass zu diesem „moralischen Dilemma“ aber das eigene gehörte, Kameraden an die Stasi verraten zu sollen und dies dann auch handschriftlich getan zu haben, davon las man damals vor einer Woche kein Wort.
Stattdessen wirkten viele der Zeilen der Friedrichs von einem seltsamen Oststolz getragen. Einem Stolz, der ganz offensichtlich nicht vorrangig auf einer gelungenen friedlichen Revolution und der mühsamen Meisterung von Millionen persönlichen Lebenswenden danach beruht. Sondern eher darauf, die Welt anders als der Westen, eben irgendwie ostdeutsch zu sehen.
Es gab den einen Osten nicht
Ein bisschen so, wie 30.000 Dresdner Fußballfans, die bei den Dynamo-Spielen aus Trotz zum Ruf „Ost-, Ost-, Ost-Deutschland“ über die Tribünen tanzen. Dieses neue „Wir sind jetzt auch wieder wer“ im Osten, das auf Abgrenzung setzt und selbst Berliner Fußballfunktionäre vom wieder aufgelegten „Klassenkampf“ schwadronieren lässt (Union-Präsident Dirk Zingler vor dem Derby gegen Hertha BSC), verkennt allerdings eines: Es gibt den einen Osten gar nicht.
Auch im Osten gab es viele Wege. Es gab Mitmacher, Mitläufer, Abhauer, Oppositionelle, Schein-Oppositionelle, Ideologen und Idioten – wie in jeder Gesellschaft. In einer Diktatur, in der kein Recht galt außer das der Partei, waren alle Menschen ständig zu Entscheidungen verdammt.
[Mehr zum 30-jährigen Mauerfalljubiläum lesen Sie auf unserer Sonderseite „Wovon träumst du?"]
Viele lernten eine doppelte Sprache, lasen und sangen schon als Kinder zwischen den Zeilen – und entkamen dennoch der mit jedem Lebensjahr dröhnender gestellten Frage des Staates nicht: Sag mir, wo Du stehst. Geh zu den schulischen Schießübungen im Wehrlager, wenn Du zum Abitur zugelassen werden möchtest!
Verpflichte Dich drei Jahre zur Armee, wenn du studieren willst! Beweise Deine sozialistische Überzeugung mit dem Eintritt in die SED! Mache einen Ausfallschritt wieder gut, indem Du Deinen Nachbarn bespitzelst! Werde belohnt mit einem Arbeitseinsatz im westlichen Ausland, wenn Du Deine Kinder zu Hause in einem Heim lässt! Wie weit wäre man selbst gegangen?
Die Wendekinder von damals (ich war 14 beim Mauerfall) haben Glück, dass sie all diese Fragen noch kennengelernt haben, dass sie beide Seiten des gewendeten Blattes kennen, ohne auf einer Seite unterschrieben haben zu müssen. Die jungen Wendeerwachsenen von damals (Holger Friedrich war 23 und bei der Armee) hatten das Pech, schon zu Antworten auf diese Fragen gedrängt worden zu sein - mit möglicherweise harten Konsequenzen für ihr damaliges Leben in einem Land, von dem keiner glaubte, dass es so schnell untergeht.
Ein paar Jahre Altersunterschied beim Mauerfall – in Ostdeutschland ist dies eine ganze Generationenerfahrung mehr oder weniger. Schon allein in dieser Hinsicht gibt es unendlich viele Ostdeutschlands. Nicht zu reden von den Nachwendekindern, die nach dem Umbruch in Scharen ihre Heimat in Richtung Westen verließen – meist wegen der Jobs in den Ballungsräumen, aber auch wegen des Schweigens zuhause. Heute fehlt an vielen Orten des Ostens diese aufgeklärte, abgeklärte Mitte - auch mit ihren Fragen an die Eltern.
Verantwortung für die eigene Vergangenheit
Osten ist nicht gleich Osten. Und ja, nicht mal Stasi ist gleich Stasi. Auch das zeigt der Fall Friedrich. Man kann auf eine gewisse Art unverschuldet der DDR-Geheimpolizei gedient haben und sich dann doch etwas zuschulden haben kommen lassen. Die eigene Schuld, wenn nicht wenigstens Verantwortung ist es aber, wie man heute damit umgeht.
Das wurde schon vor knapp drei Jahren im Fall des anerkannten Stadtsoziologen Andrej Holm deutlich, dessen nach seiner Berufung als Bau-Staatssekretär publik gewordene Stasi-Vergangenheit die ganze Stadt überraschend heftig emotional durchschüttelte.
Am Ende musste Holm nicht zurücktreten, weil er in seiner Stasi-Schreibstube angeblich nahezu unbeteiligt die Wende verpasste (so war zumindest seine Darstellung, an der es durchaus Zweifel gab), sondern weil er später bei seiner Einstellung an der Humboldt-Universität falsche Angaben über seine Vergangenheit gemacht und seine einstige Tätigkeit lange öffentlich beschwiegen hatte, auf diese Weise als politischer Vertreter und Vorgesetzter einer Verwaltung unglaubwürdig wurde und für die Koalitionspartner der Linken nicht länger politisch tragbar war. Wie man im Heute mit dem Gestern umgeht, das bestimmt über das Morgen.
Mit Holger Friedrich scheint sich ein ähnlich emotionaler Fall abzuzeichnen – zumindest im aktuellen Umgang mit zu lange verdeckten Vergangenheiten. Mit dem fatalen Schaden, dass damit die für die Vielfalt der Stadt und sicher besonders auch für das Selbstverständnis mancher Ost-Berliner wichtige „Berliner Zeitung“ in ein Glaubwürdigkeitsproblem zu geraten droht, dass außerdem eine ausnahmsweise mal von Reichen aus Ostdeutschland verkündete, mit einem technologischen Wandel verknüpfte Aufbruchstimmung in Mitleidenschaft gezogen werden könnte.
Im Stasi-Fall Holger Friedrich geht es deshalb jetzt vor allem um etwas, was für den Journalismus und die kollektive Erinnerung gleichermaßen wichtig ist: Fragen zu stellen. Und selbstkritisch nach Antworten zu suchen. Nur so lassen sich die Schichten der Geschichte freilegen.
Eines immerhin macht diese besondere Berliner Wendung nach 30 Jahren deutscher Zeitenwende klar: Ostdeutschland ist so vielschichtig, vielgeschichtig und vielgesichtig, dass es längst nicht auserzählt ist. Hinterm Horizont geht’s weiter. Und das Leben ist mehr als die eigene Vorstellung davon.