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Nur noch Erinnerungsstücke: Mauerreste am Platz des 9. November an der Bornholmer Straße.
© REUTERS/Fabrizio Bensch

Die Wende-Erinnerungen unserer Leser: „Omi, weine nicht, wir fahren in den Urlaub“

Eine Geburtstagsparty am Brandenburger Tor, kostenlos Sprit und ein verstörter Pionier: Das sind bemerkenswerte Wende-Erinnerungen unserer Leserinnen und Leser.

Der 9. November ist vorbei, doch die Erinnerungen bleiben. Immer wieder erreichen uns Nachrichten von Leserinnen und Lesern, die uns ihr ganz persönliches Mauerfall-Erlebnis schildern. Es sind überwiegend Geschichten der Freude, doch manchmal zeigen sie auch, wie viel Leid diesem Tag vorangegangen ist, der vielen eine Erlösung war. Und immer wieder hören wir die dollsten Kuriositäten: von dem Pionier zum Beispiel, der auf gar keinen Fall in den Westen wollte, oder dem Transitreisenden, der aus gutem Grund bereits eine Flasche Sekt im Gepäck hatte; von Mauerfallsongs, Freibier und Bananen. 30 Jahre nach der Wende mischt sich auch Nachdenklichkeit in die Erinnerungen. All diese Geschichten, wenn auch zum Teil etwas gekürzt, wollen wir Ihnen nicht vorenthalten.

Eine wirkliche Wiedervereinigung erlebte unsere Leserin mel81 durch den Mauerfall:
Ich war noch sehr jung (acht Jahre alt), aber ich kann mich an die Mauerfall-Zeit sehr gut erinnern. Wir sind kurz vor dem Mauerfall in den Westen geflüchtet. Ich war ahnungslos, es hieß nur, wir fahren in den Urlaub. Ganz früh am Morgen müssten wir aufstehen, und mit großer Freude sah ich, dass meine Oma (meine Oma ist wie eine zweite Mama für mich) da war, und ich dachte, sie kommt mit uns in den Urlaub, aber nein. Sie weinte. Ich sagte weinend zu ihr: Omi, weine nicht, wir fahren in den Urlaub und sind bald wieder zurück – worauf sie noch mehr weinte.

Ich verstand das alles nicht, und in mir waren so viele Gefühle, der Abschied von Oma, die Freude auf Urlaub, und dann wurde alles anders. Es war komisch, wir Kinder sollten ruhig sein, unsere Fragen wurden nicht beantwortet, es war eine große Anspannung zu spüren. Dann waren viele Menschen dort, man verspürte Angst. Uns wurde gesagt: Schön zusammen bleiben – und wenn ihr einen großen Zaun oder eine Mauer seht, dann müssen wir da rüber.

Irgendwann waren wir mit vielen anderen Menschen in der Prager Botschaft, und ich war müde von den ganzen Eindrücken und Gefühlen. Dann erfuhr ich, dass wir nach Westberlin gehen und es kein Zurück mehr gibt, dass wir das alte Zuhause nicht mehr wiedersehen. Und plötzlich schossen mir die Tränen in die Augen, ich dachte an Oma und daran, ob ich sie wohl jemals wiedersehe. Ich weinte, ich war wütend und traurig, bis ich irgendwann einschlief.

Wir wurden einige Tage später nach Hannover gebracht und von dort aus sind wir nach Westberlin geflogen. Dort wohnten wir in einem Wohnheim, und alles war so neu und unvertraut. Einige Wochen später, erlebte ich einen der schönsten Tage meines Lebens, meine Oma stand in der Tür, ich sah sie, ich schrie, umarmte sie, und wir weinten vor Freude. Auch habe ich so viele andere Menschen gesehen, die glücklich und so voller Emotionen waren. Das ist meine Erinnerung an den Mauerfall.

30 Jahre nach dem Mauerfall, wieder am 9. November, luden Tagesspiegel, Berliner Zeitung und BVG in die rollende Redaktion: Im Sonderzug aus Pankow und nach Pankow, einer U-Bahn der Linie U2, die zwischen Ost und West pendelte, teilten viele weitere Leserinnen und Leser ihre Erinnerungen. Einige Geschichten haben wir hier zusammengetragen, einige Impressionen finden Sie in diesem Video:

Schon vor dem Fall der Mauer wusste unser Leser Wolf333, dass er am 9. November 1989 feiern würde:
Der Fall der Mauer war an meinem Geburtstag. Ich fuhr an dem Tag mit dem Auto von Süddeutschland nach Berlin. An der Grenze Bayern/Thüringen stellte ich fest, dass ich meinen Kfz-Schein vergessen hatte. Die DDR-Grenzbeamten boten mir aber an, gegen eine Gebühr einen Ersatz-Fahrzeugschein auszustellen. So saß ich dann in ihrem Büro und wartete. Mit der Zeit wurde es dort immer unruhiger, aber um mich kümmerte sich niemand.

Plötzlich kamen Kameraleute reingestürmt und riefen: "Wo sind sie? Wo sind sie?" Ich verstand nur Bahnhof und wollte einfach nur weiter. Schließlich erbarmte sich jemand und machte meinen Schein fertig. Als ich dann im Auto saß, sah ich, was los war: Die allerersten Autos aus der DDR warteten genau in dem Moment, um die Grenze zu passieren. Als ich dann in Dreilinden ankam, waren es schon hunderte Autos, die darauf warteten, nach Westberlin reinzufahren.

Ich bin dann direkt durchgefahren zum Brandenburger Tor, wo schon Tausende feierten in einem regelrechten Glückstaumel. Dort habe ich dann auch meine Flasche Sekt aufgemacht, die ich wegen meines Geburtstags dabei hatte, und habe sie mit irgendwelchen Leuten zusammen geleert.

Jubelnde Menschen auf der Berliner Mauer am Brandenburger Tor am 10. November 1989.
Jubelnde Menschen auf der Berliner Mauer am Brandenburger Tor am 10. November 1989.
© Wolfgang Kumm/dpa

Danach habe ich mir den nächsten Grenzübergang gesucht und bin rüber nach Ostberlin, wo ich dann den Rest der Nacht rumgelaufen bin und mit den Ostberlinern gefeiert habe. Dieser Abend war einer der beeindruckendsten in meinem Leben.

Was allerdings die Politiker und die großen Konzerne dann daraus gemacht haben, ist in meinen Augen eine reine Schande! Vieles wurde niedergemacht oder aufgekauft im reinen Stil des Neokolonialismus, anstatt den DDR-Bürgern zu helfen, ihr Land und ihre Wirtschaft sinnvoll aufzubauen. Dabei wäre es eine einmalige Chance gewesen, aus den beiden Systemen etwas Neues zu schaffen, vielleicht sogar als Vorbild für die ganze Welt.

Ein historisches Zeitdokument: "Das sind die ersten beiden Jungs, die auf der Mauer standen", schreibt unser Leser Knut Hoffmeister. Er hat das Foto selbst gemacht – am 9. November 1989 gegen 21.30 Uhr am Brandenburger Tor, "nach einem geplatzten Date".

Mauer offen? Unser Nutzer Nicetomitja wollte gar nicht in den Westen:
Ich war knapp 13 Jahre alt. Wir wohnten im beschaulichen Pankow. Ich kann mich erinnern, dass am 9. November eine große Aufregung im Wohnzimmer herrschte. Die Mauer war offen? Wahnsinn. Allerdings war ich stolzer Thälmann-Pionier und überhaupt nicht einverstanden mit der Entwicklung. Deswegen bin ich, sehr zur Belustigung meiner Eltern und Geschwister, erst nach ungefähr fünf Monaten das erste Mal in den Westen rüber. Bin dann mit meinen Eltern Wollankstraße rüber – und ehrlich gesagt war ich zwar von den bunten Waren in den Geschäften geflasht, aber ansonsten war ich relativ erschüttert.

Den "goldenen Westen" hab ich kurz darauf in Nikolassee kennengelernt, als wir die Schwester meiner Oma besuchten. Insgesamt habe ich die Grenzöffnung und die damit einhergehende Einnahme der DDR durch die BRD skeptisch gesehen und sehe das auch heute wieder so. Aber erst seit ungefähr fünf Jahren. Mein Eindruck ist, dass die Einheit vor ungefähr zehn Jahren sehr viel weiter fortgeschritten war als heute.

[Mehr zum Thema: Kinder von heute fragen ihre Eltern und Großeltern – wie war das damals, als die Mauer fiel?]

Mit Musik verbindet unsere Leserin jessica666 die Wende – aber nicht den üblichen Mauerfallsongs:
Genauso wie einige Forumteilnehmer [gemeint die die Tagesspiegel-Community, Anm. d. Red.] war ich zu damaligem Zeitpunkt ein sorgenfreies Kind. Und obwohl ich die Ausländerin bin, kann ich mich ein bisschen erinnern, wie enthusiastisch in meinem Herkunftsland die News angenommen wurden – und dementsprechend konnten diese auch meine Eltern sowie deren Freunde begeistern. Erst ein paar Jahre später habe ich kapiert, warum Frau Mama etwas vom "wichtigen Tag für die moderne und freie Welt" erzählte.

Für mich wichtig waren damals nämlich meine Lego-Burg sowie die Hits wie "Straight Up" von Paula Abdul, "Toy Soldiers" von Martika beziehungsweise "Good Thing" von Fine Young Cannibals, die damals so häufig in TV oder im Radio liefen. Mir war jedoch völlig unbewusst, dass in demselben Jahr die Werke wie "Altars of Madness" von Morbid Angel, "Severed Survival" von Autopsy, oder "World Downfall" von Terrorizer erschienen – es mussten noch zwei weitere Jahre vergehen, damit ich diese kennenlernen konnte und um dementsprechend auch die große Wende beziehungsweise neue Epoche in meinem Leben einzuleiten.

Die ersten beiden Männer am 9. November 1989 auf der Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor.
Die ersten beiden Männer am 9. November 1989 auf der Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor.
© Knut Hoffmeister

Apropos Mauerfallsongs - da darf dann ein Held doch nicht fehlen. Unser Leser roque war damals wahnsinnig beeindruckt:
Ich war ein Knirps, noch keine zehn Jahre alt, und verstand nicht ganz, was jetzt der Grund für die vielen Menschen auf der Mauer war, die ausgelassen feierten. Das Grauen der Grenze, die Zusammenhänge kannte ich nicht. Ich weiß nur, dass meine Eltern wie gebannt in den Fernseher schauten, meine Mutter weinte und viel telefonierte.

Ich erinnere mich an die Westpakete, die auch unsere Familie verschickte, an eine Familie, die meine Mutter durch einen Luftballonwettbewerb Jahre zuvor brieffreundschaftlich kennengelernt hatte. Sie meinte, dass diese Familie nun Freiheit hätte, und man sich endlich besuchen und persönlich kennenlernen könne. Die stärkste Erinnerung habe ich persönlich, wie vermutlich viele andere meiner Altersklasse, an das abgefahrene Lampenkostüm von David Hasselhoff. Das war für mich unglaublich, dass jemand eine leuchtende Jacke trägt. ;-)

Brigitte Sommer, Jahrgang 1938, verschlief den 9. November 1989, dafür feierte sie am 10. November umso mehr – bei ihr gab's Freibier für alle und kostenlos Sprit:
Am 10. November weckte mich der Radiowecker um 6 Uhr mit dem Lied „Berlin, Berlin“ und der lapidaren Mitteilung: „Die Mauer ist gefallen“. Noch schlaftrunken meinte ich, mich verhört zu haben, dann stellte ich das Radio lauter – es war Tatsache. Während ich friedlich schlief, war „Weltgeschichte“ passiert. Aufgeregt informierte ich meinen Mann, der gerade seinen Rasierapparat in der Hand hielt und mich auf Grund meiner Mitteilung etwas zweifelnd ansah. Ich stürmte die Treppe ins Wohnzimmer hinunter, den Fernseher eingeschaltet: und wirklich, es war wahr, die Mauer war gefallen, die Bilder der Nacht wurden wiederholt gezeigt.

Trotz allem musste ich in mein Büro. Schon der Weg dahin war aufregend, die Menschen strahlten sich an, fremde Autokennzeichen überall. Als ich endlich meine Wirkungsstätte in der Raststätte Avus am Funkturm, an der Autobahn gelegen, erreichte, war meine Freude überschäumend. Sofort stellte ich ein mitgenommenes Radio an und hörte, Mitteilungen, Berichte, Nachrichten und Berliner Musikstücke. Und dann begann das Telefon zu klingeln.

Mein Arbeitgeber hatte seinen Sitz in der provisorischen Hauptstadt Bonn. Kollegen riefen an und fragten: „Ist das wirklich wahr?“ Aus dem Fenster guckend, beschrieb ich die Situation: Aus Richtung Dreilinden kommen die Autoschlangen zweispurig: Trabi, Opel, Wartburg, Trabi, Wartburg, Mercedes, BMW, Trabi, Wartburg, Trabi, Trabi – eine friedliche Invasion.

Und die kalte Wintersonne strahlte mit den Menschen um die Wette. Auch aus anderen Städten, zum Beispiel Stuttgart, München, Koblenz, Frankfurt am Main, kamen Anfragen von Kollegen: „Ist das wirklich wahr? Was sehen Sie? Wie ist die Stimmung?“ Mir lief eine Gänsehaut nach der anderen über den Körper.

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Ich war an diesem Tag allein im Büro und wusste nicht wohin mit meiner Aufgeregtheit und Freude. Kurz entschlossen ging ich zur nebenan gelegenen Raststätte. Auf dem Parkplatz fremde Automarken mit fremden Kennzeichen und strahlende Menschen. Pächter der Raststätten und Tankstellen an der A115 meldeten sich, teilten meine Freude und erzählten, was sie mit den Menschen erlebten.

Aus unserer Zentrale kam ein Anruf: Alle Autobahntankstellen können Kraftstoff kostenlos abgeben und müssen darauf keine Pacht zahlen. Bier, Brötchen und andere Dinge wurden verschenkt und von den Menschen, die jetzt das erste Mal im Westen waren, sehr gewürdigt. Einfach unfassbar!

Noch heute denke ich mit freudigen Schauern an diese wundervolle Stimmung am 10. November 1989 und wünschte mir, dass alle Menschen, die diesen Tag miterlebten, sich diese Erinnerung erhalten haben. Und sich erinnern, auch wenn für sie beide – damals noch „Wessis“ und „Ossis“ – die Erinnerungen aus anderen Lebenserfahrungen kamen. Heute sind wir endlich wieder vereint und sehen doch nur die nicht in Erfüllung gegangenen Wünsche und Träume – aber wie viele davon Wirklichkeit geworden sind, wird oft vergessen.

Aus Westend schreibt uns Lothar G. Kopp, wobei er 1989 den Mauerfall noch viel tiefer im Westen erlebte, wenn auch erst am nächsten Tag:
Vor 30 Jahren schlief ich wie gewohnt nach den Tagesthemen ein und wachte in einem neuen Deutschland auf. Morgens musste ich bereits um 5.45 Uhr aufstehen, um von Bad Marienberg/Westerwald mindestens eine Stunde mit dem Auto nach Bonn zur Arbeit zu fahren. Ich war baff, als ich frühmorgens am 10. November 89 unterwegs im Autoradio Einzelheiten von der Grenzöffnung in Berlin und entlang der innerdeutschen Grenze erfuhr.

Unser sozialdemokratischer Referatsleiter lud uns spontan in sein Büro ein. Meine Kollegen, alle SPDler und ich als einziger CDUler, feierten an diesem Tag in Bonn im Gesamtdeutschen Institut mit Sekt und belegten Brötchen den Sieg der Freiheit, den absehbaren Untergang des Sozialismus in der DDR und das vermeintliche Ende der kommunistischen Partei SED. Bei letzterem Punkt täuschten wir uns über die Chamäleon-Taktik der SED-Genossen, dann SED/PDS, PDS und schließlich sehr viel später Die Linke.

Am 11.11.89, lustigerweise Beginn der Karnevalszeit (fünfte Jahreszeit nennt man die im Rheinland), fuhren wir zu meinen Eltern nach Heringen/Werra, denn die wohnten damals nur einen Kilometer entfernt von der innerdeutschen Grenze. Vormittags wurde dort im hessischen Philippsthal und thüringischen Vacha der Grenzzaum provisorisch geöffnet. Was für ein schöner Tag mit zigtausenden Trabis, die uns bereits auf der Autobahn bei Bad Hersfeld hupend, knatternd und mit nebelartigen Auspuffwolken entgegen kamen, Richtung Kassel und Frankfurt/M. fuhren.

Es war ein kalter Tag bei strahlend blauem Himmel und Sonnenschein den ganzen Tag über. An der Grenze auf westdeutschem Gebiet verteilten wir den Fußgängern aus Vacha und den Trabant-Fahrern Bananen und Schokolade, kein Witz. Heute lacht man darüber, aber viele waren damals dankbar und freuten sich.

Komische Nebensache: Einseitige Reisefreiheit nur für Deutsche aus der DDR! Die Mitteldeutschen aus Vacha und Umgebung durften an diesem Tag und einigen weiteren Tagen visafrei in den Westen, wir – diesseits der Demarkationslinie – aber nicht in den Osten. Wir erlebten kurzzeitig eine verkehrte Welt. So war das damals. Die Freude über die dann folgende Wiedervereinigung empfinde ich als Kind eines Westfalen und einer Schlesierin heute immer noch.

Motel und Raststätte an der Avus im Jahr 2004.
Motel und Raststätte an der Avus im Jahr 2004.
© imago/Schöning

Als Wiedervereinigung der Karnevalisten erlebte Michael Korb aus Nikolassee den Mauerfall, wobei die Narren in Berlin und Brandenburg sich nach dem 9. November noch zwei Tage Zeit ließen:
Als geborener Düsseldorfer hatte ich die Mauer stets als sehr belastend und erdrückend empfunden. Die Sonne ging dann bei mir aber am 11.11.1989 auf, als ich auf der Glienicker Brücke dann einen Spielmannszug einer Potsdamer Karnevalsgesellschaft zum Karnevalsbeginn bei dem Freudengetümmel des Mauerfalls spielen sah.

So habe ich für alle Berliner einen "Berliner Remix" komponiert, mit einem Berliner Leierkasten wird die Melodie gespielt, gestartet wird mit einer "anfahrenden S-Bahn" (dem typischen Berlin-Geräusch), mit einem flotten Berliner Rhythmus und den wichtigsten Berliner Original-Zitaten hatte ich versucht, diese freie Stadt mit den 1000 Gesichtern in ein Lied zu fassen.

Mit selbstgemalten Plakaten wird dieser Trabi am 10. November 1989 auf der Glienicker Brücke von den West-Berlinern begrüßt.
Mit selbstgemalten Plakaten wird dieser Trabi am 10. November 1989 auf der Glienicker Brücke von West-Berlinern begrüßt.
© dpa

Aus Bad Bevensen in der Lüneburger Heide erreichte uns eine Mail von Isolde Engel. Sie schildert ihre Erinnerungen an die deutsch-deutsche Grenze zwischen Walkenried in Niedersachsen und Ellrich in Thüringen:
Wir waren über 25 Jahre selbständiger Taxi-Unternehmer im Ober- und Südharz und erlebten noch die DDR-Zeit, unter anderem Taxifahrten nach West-Berlin und den kleinen Grenzverkehr – mit allen Qualen bei der Ein- und Ausreise. Viele Berliner besuchten bis zur Wende als Touristen den Harz und auch heute noch.

Ein Fahrgast teilte mir während einer Taxifahrt mit, dass ein Bericht im Tagesspiegel über Walkenried (damals mein Wohnort) veröffentlicht wurde. Ich wandte mich an Sie und erhielt eine Ausgabe - und dieser Bericht befindet sich seit 1983 in meinem Archiv. Ich wandte mich an den Autor, Herrn Matthes, weil sein Bericht – darum hatte ich gebeten – in der hiesigen Zeitung "Harzkurier" veröffentlicht werden sollte. Dieser erschien dann auch.

Die Rede ist an dieser Stelle von Günter Matthes, dem frühen Lokalchef des Tagesspiegels. Er ist der Vater des Schauspielers Ulrich Matthes. Am 14. Juni 1983 erschien von ihm eine Randnotiz, in der er sich ausmalte, "wie da eines Tages auf der Landstraße ein Mann von Ellrich nach Walkenried gehen und unter dem großen Baum seinem Sohn sagen wird, hier sei früher die Grenze zwischen Ost und West gewesen. Vielleicht erlebt sie's noch, die alte Rotbuche". Isolde Engel erklärt, was es damit auf sich hat:

Die Rotbuche - es wurde an der gleichen Stelle eine neue gepflanzt - dieser Punkt ist ein Wahrzeichen, denn der große Flüchtlingsstrom nach dem Zweiten Weltkrieg führte über Ellrich nach Walkenried, d.h. direkt an der Rotbuche vorbei, in die Freiheit - zum Bahnhof Walkenried. 1990 hatten viele Taxifahrgäste den großen Wunsch, noch einmal jenen Punkt zu besuchen. Als Kind führte ihre Flucht mit ihrer Mutter, ihren Großeltern als Vertriebene (Flüchtlinge) aus den deutschen Ostgebieten, nach Walkenried an diesem Baum vorbei.

Am 11. November 1989 öffnete sich die Grenze an der Rotbuche, in Ellrich feierte man Karneval, und eine Musikkapelle öffnete den Grenzzaun!

Die Sopranistin Margret Bahr hat als Konzert- und Oratoriensängerin Auftritte über die Grenzen Deutschlands hinaus. Prägend für sie waren hingegen die Grenzen innerhalb des Landes. Aus Zehlendorf schrieb sie uns über ihren Traum, dass sich Mentalitäten und Identitäten künftig nicht mehr an diesen Grenzen orientieren. Das macht sie auch fest an diesem Satz: „Man merkt gar nicht, dass Du aus dem Osten kommst.“
Immer noch erschrecke ich mich, wenn ich nach meiner Herkunft gefragt werde. Ähnlich wie ein Schulkind, das seine Hausaufgaben vergessen hat, antworte ich dann hastig, dass ich in Rostock geboren und in Potsdam aufgewachsen bin. Schnell schicke ich noch hinterher, dass mein familiäres Umfeld, und damit auch ich, nonkonform mit dem DDR-System gewesen seien und schon höre ich mich – wie reflexgesteuert – eine endlose Geschichte erzählen.

Der Erklärungsschwall zu meinen biografischen Eckdaten ist mir über die Jahre selbst unerträglich geworden. Ich bin mehr als nur müde, immer wieder weit ausholen zu müssen und damit jedem Smalltalk fast penetrant Tiefe und Ernsthaftigkeit aufzuzwängen. Überhaupt, warum muss ich mich dafür rechtfertigen, dass ich in eine Diktatur hineingeboren wurde?

Wenn ich früher häufig gefragt wurde, ob ich nicht vielleicht aus Frankreich, Italien oder Spanien komme, fühlte ich mich geschmeichelt. Andersartig, individuell, das wollte ich immer schon sein. Für meine ostdeutsche Andersartigkeit hingegen schämte ich mich. Aus Furcht vor den gängigen Stigmatisierungen begann ich damit, sie mehr und mehr unerwähnt zu lassen, ja nahezu zu verleugnen.

[Mehr zum Thema: Wir wurden als etwas Besonderes gesehen und mochten das nicht – Erinnerungen des Regisseurs Christian Petzold.]

Als ich fünf Jahre alt war, sagte meine Patentante aus Münster zu mir, dass sie mich gerne in ihrem Koffer über die Grenze mitnehmen würde. Mich faszinierte der Gedanke daran so sehr, dass ich irgendwie bis zum Ende der DDR darauf hoffte, in einem Koffer der Enge und dem Mief zwischen Staatsbürgerkunde, FDJ-Liedern und dem Handgranaten-Imitat-Werfen im Sportunterricht zu entkommen.

Ich fieberte geradezu den jährlichen Besuchen meiner Tante und unzähliger weiterer Verwandtschaft aus Westdeutschland, Schweden und Amerika entgegen. Auch bei meiner Großmutter in Mecklenburg kam die Familie aus West und Ost in jedem Sommer über Wochen zusammen. Ich genoss diese gemeinsamen Zeiten mit meinen Cousinen und Cousins in vollen Zügen, fuhr im Porsche oder Saab zum Baden an die Ostsee und fühlte mich einfach fantastisch.

Die besuchsfreien Zeiten zwischen Sommerferien und Weihnachten wurden für mich zu bloßen Überbrückungsphasen. Ich hörte West-Radio und war über die Hausbesetzerszene im westlich regierten Teil Berlins eindeutig besser informiert als über die ostdeutsche Innenpolitik. Selbst Schulfreundschaften waren mir nicht so wichtig wie die Briefpost nach Schweden. Auch der allwöchentliche Philosophiekurs im Wohnzimmer eines Potsdamer Pfarrers brachte mich mit Jugendlichen aus Holland und Westdeutschland zusammen. Permanent richtete sich mein Blick sehnsuchtsvoll bewundernd in Richtung Westen.

Anfang der 90er Jahre finde ich mich dann in einem der idyllischen Innenhöfe der Rostlaube der FU Berlin wieder, mit einem attraktiven Geschichtsstudenten im Gespräch, der mir, unverkennbar als Kompliment gemeint, sagt: „Man merkt gar nicht, dass Du aus dem Osten kommst“. Die Anmaßung, die in der schmeichelnd gemeinten Bemerkung mitschwang, war mir in dem Moment nicht bewusst. Im Gegenteil, mich hatte die Äußerung nicht nur gefreut, sondern auch beruhigt. Endlich angekommen, dachte ich. Dass ich gleichsam eine Art Verrat an mir selbst beging, verstand ich erst viel später.

Ist es nicht längst an der Zeit, sich von den klischeehaften Identitätszuschreibungen „ostdeutsch“ und „westdeutsch“ zu verabschieden? Dann würden auch keine nervigen biografischen Rechtfertigungstiraden mehr unseren nicht zu unterschätzenden Smalltalk beschweren. Nach dreißig Jahren Mauerfall möchte ich endlich auf die Frage nach meiner Geburtsstadt gelassen antworten können: Rostock.

Nicht nur schöne Erinnerungen verbindet unser Leser Lemming42 mit dem Mauerfall:
Ich kann mich noch an eine sehr große Gruppe Rechtsradikaler (mindestens 50 Personen) erinnern, die in der Nacht vom 9. auf den 10. November vor dem Reichstag mit Deutschland- und Reichskriegsflaggen standen und krakeelten. Und, ich musste am 10. November wieder sehr früh zur Arbeit.

Unser Nutzer widersprechen345 mahnt deshalb auch, die andere Bedeutung des 9. November im Blick zu behalten:
Und irgendwo laufen in dem veranstalteten Dauersiegestaumel einer Revolution einer kleinen Minderheit zwei verzweifelte Rabbiner, die an die anderen Zeiten des 9. November erinnern – oder ist diese Geschichte im Siegestaumel doch zu einem Vogelschiss à la Gauland geworden? Man kann es nicht mit anhören, wie diese Festbesoffenheit die Geschichte umschreibt, besser könnten es Rechte auch nicht. Aber wir sind ja so fröhlich, auch wenn die rechte Gewalt im Zuge der Wiedervereinigung signifikant zunimmt. Wer wollte da nicht feiern, lieber als Erinnern.

Unser Leser Frank Fornacon sieht das anders – und erinnert sich eher an Gelassenheit denn Besoffenheit:
Wir saßen stocknüchtern im Quartier Napoleon zusammen und sahen diese Pressekonferenz. Unmittelbar nach dem "ab sofort" ging die Glocke los. Ab zur Bösebrücke (da muss also wohl jemand mehr gewusst haben). "Trabbiklatschen" war nicht auf dem Programm. Jede sichtbare Waffe hätte auf beiden Seiten ein Chaos auslösen können. Also abtauchen und fermer sa gueule.

Dass diese Nummer so friedlich abgelaufen ist und man dieses Ereignis heute feiert, hat nichts mit "Festbesoffenheit" zu tun. Vielleicht ein "Versprecher" und viele "coolbleibende" Leute haben dies ermöglicht.

Mein schönstes persönliches Erlebnis war die "Inaugenscheinnahme" des Wohnhauses und des Grabes meiner Urgroßmutter. Die Einreise in die DDR war mir, von beiden Seiten, zuvor verwehrt. Ich bin jetzt fast 60 und freue mich über diese Wiedervereinigung.

Eine doppelte Erinnerung erreichte uns von Helga Haftendorn. Die emeritierte Professorin für Politikwissenschaft an der Freien Universität sprach nicht nur den Mauerfall an, sondern schickte uns auch eine Geschichte aus ihrer Kindheit:
Die Grenzöffnung am 9. November 1989 war ein echter Tag der Freude. Bei allem Glücksgefühl über die Grenzöffnung 1989 sollten wir jedoch den Tag der Scham nicht vergessen: den 9. November 1938, die Pogromnacht am 9./10. November 1938. Obwohl damals noch ein Kind, erinnere ich mich gut.

Als Hitler mir die Rote Grütze stahl
Wir wohnten damals in Neuwestend. Am 10. November 1938 fuhr meine Mutter mit der damals Fünfjährigen in die Stadt. Wir stiegen am U-Bahnhof Wittenbergplatz aus und wollten über den Tauentzien ins KaDeWe gehen. Ich freute mich sehr; nach dem Einkauf machten wir dort oft in dem damals in der Mitte des Kaufhauses gelegenen Wintergarten eine Pause, und Mutter spendierte mir eine Rote Grütze. Mit Vanillesoße. Sie war natürlich viel leckerer als die, die es gelegentlich bei uns zu Hause gab.

Als wir jedoch auf die Straße traten, lagen überall Glasscherben; die Schaufenster der großen Geschäfte waren zerstört. Meine Mutter war entsetzt; sie zerrte mich zurück in den U-Bahnhof, und wir fuhren zurück nach Hause. Ohne dass es Rote Grütze gab. Hitler hatte mir meine Rote Grütze gestohlen.

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