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Hätte der Breitscheidplatz-Anschlag mit zwölf Toten und dutzenden Verletzten verhindert werden können?
©  Michael Kappeler / dpa

Vor Breitscheidplatz-Anschlag: Verfassungsschutz übersah monatelang brisante Amri-Fotos

Brisante Fotos von Amri lagen dem Verfassungsschutz vor – doch sie wurden erst nach dem Attentat gesichtet. Weil eine Mitarbeiterin dauerkrank war.

Direkt neben dem Panzerschrank lag ein Stapel Akten mit brisanten Dokumenten. Diese Fotos, die den späteren Breitscheidplatz-Attentäter Anis Amri mit zwei bekannten Islamisten zeigten, wurden nicht etwa bei Hausdurchsuchungen von Salafisten entdeckt. Sie befanden sich vielmehr monatelang unentdeckt beim Verfassungsschutz selbst, in einem Büro einer dauererkrankten Mitarbeiterin.

Es waren Verfassungsschützer, die nach Tagesspiegel-Informationen diese Akte entdeckten, nachdem es eine hausinterne Anweisung gegeben hatte, alle sogenannten Verwahrgelasse der Behörde zu öffnen und nach Material zu Amri zu suchen. Das war im März 2017, drei Monate nach dem Anschlag am 19. Dezember 2016 auf dem Breitscheidplatz, bei dem Amri zwölf Menschen ermordete. Die Causa Amri war also kein reiner Fall, für den der polizeiliche Staatsschutz verantwortlich war. Der Verfassungsschutz versäumte es, wichtiges Material auszuwerten.

Offenbar hatte sich niemand in der Sicherheitsbehörde nach der Krankheit einer Verfassungsschützerin um ihren Aufgabenbereich gekümmert. Die Beamtin war mit der Auswertung von Materialien rund um den Komplex „Fussilet 33“ betraut. Dieser Ort in der Perleberger Straße in Moabit war bekannt als eine der Brutstätten des islamistischen Terrorumfeldes. Dort verkehrten Gefährder, Salafisten, Sympathisanten der Terrormiliz „Islamischer Staat“ – und Anis Amri.

Schon Ende 2015 begann das Verbotsverfahren gegen den Moscheeverein. Doch 2016 passierte diesbezüglich wenig in der Innenverwaltung. Erst nach dem Attentat wurde die Verbotsverfügung geschrieben, am 8. Februar 2017 von Innensenator Andreas Geisel (SPD) unterschrieben, und am 28. März wurde sie rechtskräftig.

Grüne und Linke: "Kann nicht sein, dass eine Auswerterin nicht vertreten wird"

Bisher waren damalige Personalengpässe im Verfassungsschutz bekannt. Hinzu kamen wohl diverse Krankenstände. Ein Regierungsdirektor, der für das Verbotsverfahren maßgeblich verantwortlich war, erkrankte von Januar 2016 bis zu seinem Ruhestand Oktober 2016 ebenfalls dauerhaft. Wie die Mitarbeiterin in der Auswertung.

Die Zeit vergeht, der Schmerz nicht.
Die Zeit vergeht, der Schmerz nicht.
© imago

„Es kann nicht sein, dass eine Auswerterin oder andere Beamte nicht ordentlich vertreten werden“, sagten die Innenpolitiker Benedikt Lux (Grüne) und Niklas Schrader (Linke). „Ein Vorgesetzter hätte von dem Material, das ohne Auswertung vor sich hinschlummerte, wissen müssen.“ Das war offenbar nicht der Fall: Auf dem Bildmaterial ist nachTagesspiegel-Informationen Amri im Beisein von bekannten Islamisten wie Feras Y. und Soufiane A. in der Nähe der Moschee zu sehen. Soufiane A. wurde im März 2019 mit zwei weiteren IS-Sympathisanten wegen gemeinschaftlicher Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland in Tateinheit mit Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und wegen anderer Delikte zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt.

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Hätte der Verfassungsschutz den Staatsschutz über die brisanten Fotos informiert, hätten die LKA-Beamten möglicherweise doch noch länger an der Observation von Amri festgehalten. Stattdessen stellte das LKA sogenannte Operativmaßnahmen Mitte Juni 2016 ein, obwohl es einen staatsanwaltschaftlichen Beschluss gab, Amri bis 21. Oktober weiter zu observieren. Die Sicherheitsbehörden zogen fatalerweise den Schluss, dass Amri als Kleinkrimineller in den Drogenhandel rutschte und sich aus den islamistischen Kreisen entfernte.

Ein Riss geht durch Berlins Geschichte. Der Anschlag hat die Stadt verändert.
Ein Riss geht durch Berlins Geschichte. Der Anschlag hat die Stadt verändert.
© imago/Reiner Zensen

„Alle Behörden unterlagen einer Fehleinschätzung. Auch der Verfassungsschutz. Er ist nicht aus dem Spiel“, betonte SPD-Innenpolitiker Frank Zimmermann. Zimmermann legt Wert darauf, dass sich letzteres auf den Vorrang des Staatsschutzes bei der Gefährderbearbeitung bezieht. Der Informationsfluss innerhalb des Verfassungsschutzes sowie zwischen den Sicherheitsbehörden habe nicht funktioniert.

Der AfD-Innenpolitiker Karsten Woldeit sagte, der damalige Verfassungsschutz-Chef, Bernd Palenda, habe auf die schlechte Personalsituation aufmerksam gemacht. Nur habe der damalige Innensenator Frank Henkel (CDU) nichts dagegen unternommen.

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Nach Tagesspiegel-Informationen existiert ein Sprechzettel von Palenda aus dem Januar 2017, wonach Stichpunkte handschriftlich gestrichen wurden, die sich inhaltlich um die nicht ausgewerteten Fotos von Amri handelten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Amri-Untersuchungsausschuss Palenda oder Innenstaatssekretär Torsten Akmann erneut als Zeugen vorladen.

Der Ausschuss hat seine Beweisaufnahme noch nicht abgeschlossen. „Die Beweisaufnahme wird nicht eingestellt, auch wenn wir in die Beratung des Berichts gehen“, sagte der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses, Stephan Lenz (CDU), dem Tagesspiegel.

Der Ausschuss wartet die Vernehmung eines früheren Mitarbeiters der Schweriner Verfassungsschutzbehörde im Oktober vor dem Amri-Untersuchungsausschuss im Bundestag ab. Der Mann wurde inzwischen mehrmals von der Bundesanwaltschaft vernommen. Er hatte sich an die Behörde gewandt und ausgesagt, dass ein V-Mann schon Anfang 2017 Angaben zu Amri und möglichen Komplizen gemacht habe. Diese Informationen habe er nicht weitergeleitet, da ihm dies ein Vorgesetzter untersagt haben soll. Nach wie vor ist eine Entscheidung des Berliner Landgerichts anhängig: Der Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses hatte Klage wegen Aussageverweigerungen von zwei wichtigen LKA-Ermittlern eingereicht. Der Zeuge L. war Hauptsachbearbeiter für Amri vor dem Attentat. Er soll Akten manipulliert haben. O. war sein Vorgesetzter.

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