Parlament debattiert über Zuwanderung: Vereint im Streit beim Thema Flüchtlinge
Die Einigkeit der Parteien bei der Flüchtlingspolitik währte nicht lange. Im Abgeordnetenhaus stritten die Fraktionen über das Thema Zuwanderung.
Vor einigen Wochen hörte man noch Einigkeit unter den Berliner Parteien, sich in der Flüchtlingspolitik nicht auseinanderdividieren zu lassen. Dieses Agreement gilt offenbar nicht mehr. Während der Parlamentsdebatte kam es am Donnerstag im Abgeordnetenhaus zum Schlagabtausch – obwohl die SPD-Abgeordnete Ülker Radziwill betonte, dass sich Flüchtlingspolitik nicht zum Parteiengezänk eigne. Wer die Bundeskanzlerin Angela Merkel in der ARD gehört habe, habe auch den Satz „Wir schaffen das“ verstanden. Man könne die Einwanderung nicht begrenzen.
„Wenn man sich aber die Arbeit der CDU-Senatoren anschaut, kriegt man da Zweifel“, sagte Christopher Lauer, parteiloser Innenpolitiker der Piratenfraktion. Innensenator Frank Henkel schwadroniere über ein Abschiebezentrum für Flüchtlinge aus dem Westbalkan. Und Justizsenator Thomas Heilmann habe gefordert, man solle in die Flüchtlingsunterkünfte Mitarbeiter der Verwaltung bringen, die „Leute vom West-Balkan“ ansprechen und sie zum Verlassen des Landes zu überreden sollten „Wie antiintuitiv ist das?“, fragte Lauer den Justizsenator.
Sozialsenator Mario Czaja reihe sich da ein. 7000 Flüchtlinge kämen pro Woche, 250 würden registriert. „Das ist ein Rückstau“, kritisierte Lauer. Das Bundesamt für Migration schaffe „im Monat 20.000 Flüchtlinge“. Czaja habe die geordnete Registrierung zu organisieren. Das dauere in Berlin viel zu lange. Die Kanzlerin sei da schon weiter als Czaja. Er würde „übelsten Populismus“ betreiben und wiederholen, dass man das nicht schaffe. „Hören Sie doch auf, Ressentiments in der Bevölkerung zu schüren. Machen Sie einfach ihre Arbeit.“
SPD-Politkerin Ülker Radziwill lobt Angela Merkel
Auch die SPD-Abgeordnete Ülker Radziwill kritisierte den Koalitionspartner. „Abschottung und Abgrenzung ist eine Illusion“, zitierte Radziwill die Bundeskanzlerin – wörtlich an die Adresse von Czaja, Henkel und Heilmann gerichtet. Die sollten sich ein Beispiel an Merkel nehmen sollten. „Kurs halten und weitermachen mit der Willkommenskultur“ sei die Maßgabe. „Wenn Sie einmal den Kurs vergessen haben sollten, wovon ich nicht ausgehe: Rufen Sie einfach mal Frau Merkel an, die wird sie schon einnorden“, sagte Radziwill.
Die SPD-Abgeordnete lobte Merkel ausdrücklich. Sie sei ganz bei der Bundeskanzlerin. „Wir schaffen es. Und Berlin auch.“ Auch finanziell sei das mit dem Haushalt 2016/2017 zu schaffen. Berlin bekomme mehr als 200 Millionen Euro vom Bund, die in die Integration fließen würden. Der Kompass zeige in Richtung Integrationspolitik. Radziwill dankte den vielen Ehrenamtlichen, die in den derzeit 83 Flüchtlingsunterkünften helfen.
Man müsse Menschen Schutz geben, die hierzulande Schutz suchten. Das Grundrecht auf Asyl sei mit der SPD nicht „verhandelbar“. Allerdings sollten die Verfahren beschleunigt und diese „optimiert“ werden. Flüchtlinge bräuchten eine Perspektive. Diese könnte ihnen auch ein beschleunigtes Verfahren aufweisen. Trotzdem wundere es sie schon, wenn Czaja sage, dass Berlin an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gekommen sei. Der CDU-Senator setze andererseits darauf, die Bedingungen beim Lageso zu verbessern. Aber man müsse schnell das ehemalige LBB-Gebäude in der Bundesallee „ans Netz bringen“. Das entlaste die Situation.
Grüne fragt nach Leitbild in Deutschland
Grünen-Abgeordnete Canan Bayram forderte eine „neue Willkommenskultur“. Sie stellte die Frage, welches Leitbild in Deutschland notwendig sei. Der Ansatz „unity and diversity“ könne zum Beispiel zu einer Einheit verbinden. Stattdessen werde über Statistiken und Obergrenzen gesprochen. Bayram attackierte wie Lauer Henkel, Czaja und Heilmann, der „den Vogel abgeschossen hat“. Das Papier habe gravierende juristische Mängel, so dass man sich fragen müsse, ob Heilmann überhaupt in der Lage sei, sein Amt zu bewerkstelligen. „An diese drei kann Merkel nicht gedacht haben, wenn sie sagte, dass wir das schaffen.“
Man wolle in Berlin keine „Lagerpflicht“ für Flüchtlinge zulassen. Aber wie sehe die Willkommenskultur aus? „Die Unterbringung in Zelten und kein Taschengeld für Flüchtlinge über Wochen.“ Der Senat sehe sich nicht in der Lage, Flüchtlinge angemessen unterzubringen? Es handele sich um einen „inszenierten Notstand“, sagte Bayram. Integration sei in Deutschland in den letzten Jahrzehnten „millionenfach gelungen“. Das habe nicht an den Politikern gelegen, sondern Menschen, die Brücken gebaut hatten, die Menschlichkeit „gelebt“ hätten. Das würden Initiativen wie „Moabit hilft“ zeigen.
Linke: CDU-Brief an Merke ist verbissene Kleingeistigkeit
Rechtspolitiker Klaus Lederer von den Linken griff den Brief von Unionsabgeordneten an Merkel auf. Diesen hatten die Berliner CUD-Abgeordneten Sven Rissmann und Robbin Juhnke mitunterzeichnet. Dieser Brief an Merkel zeige eine „verbissene Kleingeistigkeit“. Dieser Tage gehe es um die Verteidigung des Menschenrechts für Asyl. Der Ton verschärfe sich bei CDU und SPD.
Lederer forderte den Senat auf, „bürokratischen Unsinn“ zu entrümpeln. Seit wie vielen Monaten rede man über die elektronische Gesundheitskarte für Flüchtlinge? Diese sei bisher noch nicht eingeführt. Henkel, Czaja und Heilmann seien in einen „Schäbigkeitswettbwerb der Rechtspolpulisten eingetreten“. Henkel kümmere sich nur um Abschiebung und lasse Kinder aus dem Schulunterricht abholen. Er tue „nichts für die Integration“.
Weiter sagte Lederer, dass Heilmanns Vorschläge ein „Katalog des Grauens“ seien. Berlin müsse sich jetzt entscheiden, ob es eine Politik für den Stammtisch wolle oder Flüchtlingen helfen. Das alles koste Zeit und werde nicht konfliktfrei ablaufen. Entscheidend sei, ob die Politik sage, dass man das gemeinsam schaffe. Willkommensinitiativen müssten gestärkt werden. „Es geht um eine Haltungsfrage“, sagte Lederer. Sollten das die Senatoren Czaja, Heilmann, Henkel nicht hinbekommen: Niemand sei gezwungen, ein Amt auszuüben, dem man nicht gewachsen sei.
CDU: Ausreisepflichtige konsequent rückführen
CDU-Integrationspolitiker Burkard Dregger attackierte die Opposition. Man arbeite dafür, dass Schutzbedürftige geschützt werden. Wenn die Opposition das als „Abschottung und Ausgrenzung“ bezeichne, sei das ein „Beweis für Realitätsverlust“. Die CDU-geführten Verwaltungen von Henkel und Czaja würden alles unternehmen, um die „Herausforderungen des Flüchtlingsstroms“ zu bewältigen. Im September seien 12 000 Asylbewerber aufgenommen worden. Und Henkel sorge mit den Sicherheitsbehörden „für die Bewahrung der Sicherheit“ in Berlin. Er sorge auch „konsequent für die Rückführung der Ausreisepflichtigen“. Auch Heilmann habe mit seinen Vorschlägen für vereinfachte Asylverfahren die volle Unterstützung der CDU.
Die Opposition rede „völlig an der Realität vorbei“. Die 800 000 Antragsteller, die in diesem Jahr bisher nach Deutschland kamen, würden auch nach Deutschland kommen, weil dieses Land frei, gerecht und stabil sei. Dass die Opposition davon rede, Europa sei eine Festung, sei eine „völlig absurde Desinformation“. Die Berliner Opposition sei noch nicht einmal bereit, über Vorschläge zu diskutieren. „Verstecken Sie sich nicht länger hinter ihrem moralisierenden Gut-Menschen-Getue“.
Die CDU werde unter anderem alle Westbalkan-Staaten als sichere Herkunftsstaaten qualifizieren, Fehlanreize für unberechtigte Asylanträge beseitigen und Geld- durch Sachleistungen „weitergehend“ ersetzen. Dregger forderte die Opposition auf, gemeinsam an der Flüchtlings-Problematik zu arbeiten.
Innensenator Frank Henkel: Niemand war vorbereitet
Für den Senat sprach Innensenator Henkel. Er begann seine Rede mit einem Blick auf 25 Jahre Deutsche Einheit. Henkel vertrat Berlin bei den Feierlichkeiten in Frankfurt am Main. Die Stimmung sei „nicht so gelöst“ gewesen. Man habe nicht nur gefeiert, sondern sei gedanklich auch bei den Problemen angesichts der Flüchtlingskrise gewesen. Bund und Länder seien an den Grenzen der Leistungsfähigkeit. Die Opposition habe nicht gezeigt, dass sie diese Herausforderungen annehmen wolle. Die Entwicklung könne so nicht weitergehen. Und niemand sei auf diese Welle der Flüchtlinge vorbereitet gewesen.
Lob für alle Helfer
Viele seien ehrenamtlich aktiv: Polizisten, ehrenamtliche Helfer, Mitarbeiter des Lageso, Das sei „gelebte Willkommenskultur“, und das lasse man sich nicht „kaputtreden“. Jetzt gehe es darum, das Verwaltungshandeln „zu stabilisieren“. Die Unterbringung müsse gesichert sein. Das sei jeden Tag ein „Kraftakt“. Angesichts des bevorstehenden Winters gehe es jetzt um „große Lösungen“ wie die Unterbringung in Tempelhof oder im ICC.
Das Asylrecht solle diejenigen schützen, die vor politischer Verfolgung fliehen. Deutschland könne Schutz bieten, aber nicht allen Menschen eine neue Heimat. „Wer nicht bleiben kann, muss unser Land auch wieder verlassen.“ Nicht jeder werde ein Bleiberecht erhalten. Die „Masse der Abschiebungen“ komme noch, weil es noch einen Stau bei den Bearbeitungen gebe. „Wir müssen Zeichen setzen und Anreize minimieren.“ Das betreffe vor allem Flüchtlinge aus dem Westbalkan, bei denen die Anerkennungsquote bei fast null liege. Ein „Berliner Modell“ für beschleunigte Verfahren soll in dem ehemaligen LBB-Gebäude, das als Zentrale Erstaufnahmeeinrichtung dienen soll, ausprobiert werden.
Die Sorgen und Ängste der Bürger
Man dürfe die Sorgen und Ängste der Bürger nicht unterschätzen, die „aus der Mitte unserer Gesellschaft kommen“. Er könne das nachvollziehen, dass der Wandel für viele zu schnell verlaufe. Der Rechtsstaat in Deutschland, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, seien für ihn nicht verhandelbar. Die Menschen, die hierher kommen, müssten sich an das anpassen, was sie hier vorfänden. Es gebe zwei einfache Grundsätze: „Nicht jeder kann bleiben, und wer bleibt, muss sich an die Regeln halten.“ Die Kapazitäten seien aber begrenzt. Die Frage sei jedoch erlaubt, wie es um die kulturelle Identität aussehe. Dieses „wunderbare Land“ dürfe Integration einfordern. Man müsse wieder eine „Ordnung in die Dinge“ bringen und Grenzen setzen, „wenn man am Ende unsere offenen Grenzen verteidigen will“.
Bisher sind in diesem Jahr 30 000 Flüchtlinge in Berlin angekommen. Mit Stand Anfang September sind rund 3000 nicht registriert. Die aktuelle Zahl dürfte jetzt deutlich höher liegen. In dem ehemaligen LBB-Gebäude soll künftig die Zentrale Erstaufnahmeeinrichtung die Arbeit aufnehmen, das Lageso soll den Leistungsbereich übernehmen.