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In Supermärkten fühlte Nils Binnberg sich von der Auswahl unter Druck gesetzt.
© imago/Panthermedia

Nils Binnberg über zwanghaftes Essen: "Vegan-Sein erschien mir wie der Weg zur Unsterblichkeit"

In Berlin wird Ernährung wie Religion behandelt. Er hat alles probiert. Autor Nils Binnberg wollte gesund essen – und wurde darüber krank.

Herr Binnberg, was haben Sie heute gegessen?
Eine Pizza mit Büffelmozzarella und Kirschtomaten. Zum Frühstück gab es Amaranth-Poppies mit Beeren und Hafermilch.

Hört sich gesund an. Zu welchem Food-Trend gehört das?
Zu gar keinem, mein Essen hat kein Label mehr, das ist eine große Befreiung. Ich esse Amaranth jetzt nicht mehr, weil es kein Gluten hat, sondern weil ich das nussige Aroma mag. Acht Jahre lang bin ich allen möglichen Ernährungstrends gefolgt, bis ich in dem Versuch, möglichst gesund zu essen, krank geworden bin: Orthorexia nervosa.

Sie sagen, Sie seien am Ende 20 Ernährungslehren gleichzeitig gefolgt. Widersprechen sich die nicht?
Doch, man muss das nur nacheinander machen. Bei mir fing es an mit Low-Carb, darüber kam ich zur Paleo-Diät, das ist die Steinzeit-Diät mit viel Fleisch, tierischen Produkten, Eiern und Fisch. Dann landete ich irgendwann bei vegan, der rein pflanzlichen Ernährung. Das war für mich die Königsklasse. Es war die reine Lehre, „clean eating“, was bedeutet, dass man keine industriell verarbeiteten Lebensmittel zu sich nimmt und nichts, das mehr als fünf Zutaten hat. Vegan-Sein erschien mir wie der Weg zur Unsterblichkeit. Ernährungslehren haben ja auch etwas extrem Religiöses. Selbst in säkularisierten Gesellschaften sehnen wir uns nach Gemeinschaft und Identität. Ernährung formt unsere Identität. Und sobald man sich einer Lehre verschreibt, missioniert man ja auch andere.

Sie auch?
Ich war Missionar und Nervensäge in meinem Freundeskreis. Ich hatte diese Unart, die man auch in den sozialen Medien beobachtet, alles, was mir präsentiert wurde, ungefragt zu kommentieren. Ich habe die Augenbrauen hochgezogen und gesagt: Bist Du verrückt? Kartoffeln? Es ist 18 Uhr, das wird Dein Körper nicht mehr verstoffwechseln! Der Pressechefin eines großen Modehauses habe ich erzählt, dass wir alle als Säugetiere vor zwölf Uhr mittags im Verstoffwechselungsmodus sind und bis dahin 80 Prozent unserer Flüssigkeit – im Idealfall stilles Wasser – zu uns genommen haben müssen.

Welcher Lehre folgt das?
Das hatte ich irgendwo aufgeschnappt, es hatte sich bei mir eingebrannt. Kürzlich traf ich diese Frau wieder und erzählte, dass ich nun an einem Buch schreibe, in dem es darum geht, Ernährungsmythen zu demaskieren. Sie fragte: Ja und wie ist das mit dem Wassertrinken vor zwölf Uhr? Wenn sie seitdem um 13 Uhr auf die Uhr geschaut hat, hat sie ihre Kollegen angeguckt und gerufen: Ach Du Scheiße! Der Nils hat gesagt... Ich habe mich entschuldigt.

Offenbar ist so etwas ansteckend.
Das ist wie ein Staffelstab, den man übergibt. Und alle Ratgeberliteratur auf diesem Gebiet funktioniert auch auf die gleiche Weise: Ein Protagonist geht durch ein persönliches Schicksal, erst steht er vor dem Scherbenhaufen seiner Existenz, hat vielleicht Herzleiden, ist von Übergewicht und Hautausschlägen geplagt, fahrig, unkonzentriert. Dann wird die Ernährung umgestellt und handstreichartig ist er total fit, optimiert, leistungsstark. So eine Geschichte hat eine hohe Überzeugungskraft.

Die Ernährung sollte entsprechend des persönlichen Nährstoffbedarfs erfolgen. [...] Weder sind die eigenen Gelüste im Sinne von 'Das, was ich gerne esse, ist genau das Richtige' und 'wenn ich noch nicht befriedigt bin, passt noch was rein', noch die starren Angebote der bekannten Essenskultur-Gruppen brauchbare Indikatoren für eine gute Ernährung.

schreibt NutzerIn Anarchrist

Sie haben gesagt, Sie waren vor Ihrer Läuterung acht Jahre lang der Regisseur Ihres eigenen Food-Pornos. Nach vier Jahren mussten sie jeden Tag etwas Grünes essen, zwei Liter Wasser trinken, Speisen minutenlang kauen. Sie hatten Magenschleimhautentzündungen, eine Dünndarmbiopsie, eine Magenspiegelung – alles unter der Flagge der Gesundheit.

Diese Widersprüche habe ich ausgeblendet, durch den starken Glauben daran, auf dem richtigen Weg zu sein. Ich habe morgens Früchte, Avocado und Samen gegessen. Es ging vor allem um das, was ich nicht aß. Deshalb hatte ich natürlich total viel Hunger, und bin wie jeder, der Hunger hat, total gereizt gewesen. Gar nicht so leistungsfähig, wie es immer heißt, dass man da so wird. Und natürlich bekommt man von den Smoothies Durchfall.

Nach wie vielen?
Schon nach einem, wenn man es nicht gewöhnt ist. Das ist einfach zu viel Information auf einmal für den Körper, extrem viele Ballaststoffe. Ich hatte auch panische Angst vor Brot. Ich dachte ein Bissen und die Wampe ploppt wieder über. Wer zwanzig Enährungslehren folgt, wird ein bisschen asozial: Da gibt es plötzlich „Food-Layering“: Wann isst man was zu welcher Zeit, damit das korrekt verdaut wird? Über Früchte heißt es: „Eat them alone or leave them alone“. Das geht natürlich gleich ins Hirn, dann denkt man: jetzt ist das Zeitfenster für einen Apfel, denn danach muss ich drei Stunden Pause machen. Eine der Empfehlungen, die immer wieder bei Gesundheitsgurus auftaucht, ist: Essen Sie viele Nüsse. Ich bin allergisch gegen Nüsse!

"Ich war schon als Jugendlicher unzufrieden mit meinem Körper"

Wussten Sie das nicht?
Doch. Ich habe sie trotzdem gegessen. Dabei habe ich schon als Kind davon Blasen und wässrigen Ausschlag an den Fingern bekommen. Das hatte ich verdrängt, weil ich so besessen davon war, diesen Ernährungslehren zu folgen. Danach enthalten Nüsse die guten Fette, im Unterschied zu den schlechten Fetten. Die Reaktion habe ich dann in Kauf genommen. Und mich sogar mit Cortison-Creme behandelt.

Wie konnte es soweit kommen?
Hinter einer Orthorexie verbirgt sich ein heimlicher Abnehmwunsch. Ich war schon als Jugendlicher unzufrieden mit meinem Körper. Meine Arme kamen mir trommelstabdünn vor. Ich habe in der Brüllhitze des Sommers zwei Longsleeves übereinander getragen, um die Arme zu verstecken. Ständig hörte ich, ich sei zu dünn. Der Junge kriegt nicht genug zu essen.

Dünn ist doch auch für Männer schick.
Nicht in den 90ern. Damals war das Schönheitsideal sehr maskulin. Es gab Mark Wahlberg aus der Calvin-Klein-Kampagne in seiner Unterhose. Und den Davidoff-Mann.
Sie schreiben von einem Schlüsselmoment im Urlaub, einem Abend im Hotelzimmer mit ihrem Freund auf Capri. Durch seinen abschätzigen Blick merkten sie plötzlich, dass Sie einen Bauch haben.
Ich hatte das so noch nicht gesehen, und damit fing alles an. Ich war 33 Jahre alt, und irgendwann hatte ich unbemerkt zugenommen. Plötzlich war ich „skinnyfat“, wie man sagt, also: dünn, aber mit Fett an den falschen Stellen. Also am Bauch. Da habe ich Panik bekommen.

Gibt es Body-Shaming auch unter Männern?
Unter uns Schwulen definitiv, aber inzwischen auch unter heterosexuellen Männern. Kennen Sie das Format „Love-Island“? In dieser Dating-Show auf RTL 2 werden Heteropärchen auf eine Insel gepackt und müssen umeinander werben. Die Typen rennen die ganze Zeit mit Plastikbechern mit Protein-Shakes darin herum. Sie machen „muscle-worship“, gucken gegenseitig ihre Muskeln an, fotografieren sich, und wenn mal keine Eier im Kühlschrank sind, kriegen sie einen Nervenzusammenbruch. Body-Shaming ist eine Kultur.

Was haben Sie gemacht, als Sie festgestellt haben, mit Bauch wollen Sie nicht sein?
Ich bin in einem Münchner Fitnessstudio zu einem Sportmediziner gegangen und habe eine Impedanz-Fettanalyse machen lassen. Da werden der Widerstand von Fett und Muskelgewebe gemessen. Was aus dem Computer ratterte, sah ziemlich bedrohlich aus. Ich habe einen Ernährungsplan bekommen, der mir zeitgeistkonform, es war 2010, vorgeschlagen hat, dass ich auf Kohlenhydrate verzichten sollte. Und ich habe einen Body-Pump-Kurs verschrieben bekommen, Training mit Langhanteln zur Diskomusik.

Nils Binnberg.
Nils Binnberg.
© Thilo Rückeis

Da war Low-Carb gerade in Mode.
Ehrlich gesagt, ich hatte Bio-Leistungskurs, aber als er meinte: Kohlenhydrate reduzieren! Da wusste ich gar nicht, wo die überall drin sind. Die „bösen“ Dinge wie Brot, Nudeln und Kartoffeln habe ich sofort weggelassen und siehe da, innerhalb von einer Woche war ich drei Kilo leichter.

Drei Kilo in einer Woche?
Heute weiß ich, dass ich einem Trick aufgesessen bin: Wenn man Kohlenhydrate weglässt, verliert man in der ersten Woche zunächst unglaublich viel Wasser. Und eben kein Fett. Der im Muskelgewebe gespeicherte Mehrfachzucker hat die Besonderheit, dass er sehr viel Wasser speichert. In dem Moment, wo er aufgespalten wird, wird dieses Wasser abtransportiert. Ich hatte drei Kilo Wasser verloren.

Wie hat Ihr Freund auf den neuen Nils Binnberg reagiert?
Alle fanden ihn gut. „Du siehst zehn Jahre jünger aus“ war das verbreitetste Kompliment. Ich habe mich sofort mit einem sündteuren Designeroutfit belohnt, in dem ich eine Woche zuvor noch lächerlich ausgesehen hätte.

Spricht das nicht alles für Ihre Methode?
Für mich war es die Einstiegsdroge in eine wahnsinnige Welt der Ernährungsmythen. Davor lag eine Phase, in der ich emotional nicht so stabil war, ich war in einer Fernbeziehung, einsam, habe viel im Bett gelegen, Serien geguckt. „Emotional eating“ ist eben etwas, das man aus einer Traurigkeit heraus macht.

Wäre Ihnen das auf dem Land nicht passiert?
Natürlich ist heute die Welt ein globales Dorf. Selbst die Eifel weiß, dass man jetzt Quinoa-Bowls mit Tahini und Granatapfel isst. Aber die großen Ernährungstrends werden in den Großstädten gebildet. In New York gibt es die riesige Fashion-Industrie, in Los Angeles natürlich Hollywood. Die Amerikaner haben ja wirklich eine Körper-Obsession. Die dazu passende „gesunde Ernährung“ ist auch hier inzwischen ein riesiges Business. Die ganzen Saftkuren, die Produkte, die dazugehören – das Geschäft mit der Angstmacherei ist riesig. Dabei braucht kein Körper Detox, wir haben Nieren und eine Leber, die erledigen das ganz von allein.

Sie wohnen in Berlin – ist das die deutsche Hauptstadt der Ess-Trends?
Die so genannten „smart“ oder „green eateries“ tauchten in Berlin als Erstes auf. Dort kann man „clean eating“, Essen ohne Zusatzstoffe, betreiben. Kurz danach gab es das in Hamburg oder München, aber nicht in dem Ausmaß. Doch am Ende sehen diese Läden in Melbourne, Berlin und London überall gleich aus.

Haben wir eigentlich keine anderen Sorgen, dass wir die richtigen Frühstücksflocken unser Leben bestimmen lassen?
Diese Frage finde ich immer etwas doof. Als wären das Luxusprobleme, aber die sind existenziell für eine wachsende Bevölkerungsschicht.

Es ist doch keine Religion.
Aber ein Ersatz. Der Veganismus zum Beispiel hantiert schon im Vokabular mit Begriffen, die wir aus der Religion kennen: Missionieren, Sünde, Scham, Moral. Wenn man sich die Speisegesetze der Veganer anguckt und die der Juden, dann sieht man plötzlich Ähnlichkeiten: Die Juden verzichten auf Schweinefleisch, aber nicht, weil das Schwein unrein, sondern, weil es einer gottgegebenen Ordnung auf dem Weg zur Perfektion nicht entspricht. Oder auf dem Weg zum Gott. Da sieht man die Nähe zum Veganismus.

Ich dachte immer, es ginge dabei ums Tierwohl.
Beim Veganismus geht es immer mehr um Körpertuning. Es ist ähnlich wie beim Fitnessstudio, wo man sagt, man macht etwas für seine Gesundheit, aber in Wahrheit will man die Figur für den Strand. So isst man vegan, aber nicht wegen der Kuh. Unter dem Hashtag #vegan gibt es in den sozialen Medien über 70 Millionen Bilder, die Beliebtesten sind dünne Frauen in Bikinis. Manche lassen sich dort mit ihrer Celine-Tasche, die dummerweise aus Leder ist, ablichten. Im Zeitalter des Selfies konkurriert eben die Tugendhaftigkeit mit dem Narzissmus.

Sie glauben jetzt Vieles nicht mehr. Sie schreiben auch, vorgeschobene Lebensmittel-Unverträglichkeiten seien eine Methode, um in Wahrheit „gesellschaftskonform zu hungern“.
Natürlich gibt es auch echte Allergien. Aber dünn sein zu wollen ist ein Massenphänomen. Sehen Sie, ich glaube 59 der Männer in Deutschland sind übergewichtig, 37 Prozent der Frauen, und wir begehren immer etwas, das verknappt ist. Das ist das Luxusprinzip. Wir sehnen uns nach Dingen, die selten sind. Weil Essen nichts mehr ist, weswegen wir darben müssen, ist Verzicht der neue Genuss geworden. Man stellt damit unter Beweis, dass man nicht zu den wahllosen Allesvertilgern gehört, die sich den ganzen Mist reinpfeifen.

Kate Moss hat gesagt, dass etwas niemals so gut schmecken kann, wie sich dünn sein anfühlt.
Stimmt, und da geht es natürlich um Distinktion. Nahrung war schon immer ein Mittel, um sich abzugrenzen. Zum Glück ist mir klar geworden, dass es für diese ganzen Ernährungsempfehlungen überhaupt keine wissenschaftliche Grundlage gibt. Für überhaupt keine. Ich war Mythen aufgesessen. Und plötzlich stand ich vor dem Kühlschrank und wusste nicht mehr, was ich essen soll. Ich stand vor dem omnivoren Dilemma: Wir haben 170 000 Produkte im Supermarkt. Ein Orthorektiker spürt die Überforderung extrem. Wie navigiert man sich da durch? Der Mensch hat sich ja schon früh Prinzipien überlegt, die ihn da durchleiten, Rituale, Tradition, Religion, Tabus, und schon in der Antike gab es Gesundheitslehren, nehmen Sie Pythagoras.

Was hat der empfohlen?
Der war Vegetarier und hatte auch schon eine Jüngerschaft um sich herum. Und er war sehr missionarisch unterwegs. Gesundheitsempfehlungen sind ja nichts Neues. Das Neue heute ist, dass Essen insgesamt so überpräsent und zu einem Abziehbild der eigenen Identität geworden ist. Heute sieht man, dass jemand ist, was er isst, weil jeder sein Essen fotografiert. Wir stellen über Essen dar, was wir sind. Scheinbar paradoxerweise meist nicht über das, was wir essen, sondern über das, was wir nicht mehr essen.

"Studien sind Glaubensbekenntnisse"

Sie sagen heute, es sei ungesund sich so viel damit zu beschäftigen.
Erwiesenermaßen ist das ungesund! Diese Krankheit, die mich so lange begleitet hat, benennt genau das: Ungesunde Fixierung auf gesunde Ernährung. Irgendwann habe ich einen Artikel in der New York Times gelesen, der sich eigentlich mit der „drunkorexia“ beschäftigt, das ist, wenn vor allem Frauen an Essen einsparen, um mehr Alkohol trinken zu können. Im Verlauf des Artikels war von dem Phänomen Orthorexia nervosa die Rede, das wurde nur so angetippt. Ein Mediziner in der Nähe von San Francisco, Steven Bratman, hat 1997 diesen Namen begründet. Er war eigentlich Akupunkteur, Öko-Landwirt und Mediziner, als immer mehr Patienten in seine Praxis kamen, die ihm erzählten, was für neue Ernährungslehren sie aufgetan haben. Er merkte plötzlich, dass hinter dieser Tugendhaftigkeit eigentlich eine Störung steckt. Etwas Zwanghaftes, Psychisches. Und in dem Moment, wo man den Begriff geformt hat, ist das Phänomen da. So war es auch bei mir, ich saß im Büro und dachte: oha! Es fühlte sich an, als hätte man mich beim Klauen erwischt.

Sie waren ertappt.
Definitiv. Es war der Moment, in dem alles runterfiel, an das ich acht Jahre geglaubt hatte.

Sie zucken immer noch zurück, wenn Ihnen jemand einen Brotkorb reicht.
Das geht vielen Leuten so. Wenn ich in meinem Umfeld von Orthorexia nervosa erzähle, kommt sofort: Ich glaube, ich bin da auch nicht so weit entfernt. Dass diese Krankheit noch nicht anerkannt ist, ist zweitrangig. Es ist erst einmal wichtig, dass man ein Problem erkennt. Viele Psychologen glauben, dass die Orthorexia eine Vorstufe ist zu anderen Essstörungen, der Bulimie und der Anorexie. Wir alle haben inzwischen gelernt, dass es den Jojo-Effekt gibt und Diäten nichts nützen. Nun heißt das aber einfach „Ernährungsumstellung“ und soll wieder wirken!

Haben Sie nach Ihrer Erkenntnis sofort Ihr Leben umgekrempelt und alles wieder anders gemacht?
Das geht gar nicht sofort. Die Zwanghaftigkeit und das Regelwerk ist ja auch ein starkes Ordnungssystem. Aber ich hatte mir zum Beispiel für sehr viel Geld einen dieser Küchen-Häcksler gekauft, ein PS, wie ein Motorroller. Für Green-Smoothies. Den habe ich meinen Eltern geschenkt. Ich wollte, dass der weg ist. Ich finde das jetzt alles fatal, rückblickend. Wenn man einmal aus dem Glauben raus ist, sieht man das plötzlich alles.

Was meinen Sie?
Über Essen lässt sich alles Mögliche vermeintlich fabelhaft kontrollieren. Dabei gibt es überhaupt keine ernährungswissenschaftliche Studie, die irgendeine Evidenz bringt über irgendeinen Effekt von irgendeinem Lebensmittel. Das existiert nicht.

Warum?
Weil ernährungswissenschaftliche Studien auf Beobachtungen basieren. Der Stanford-Professor John Ioannidis kommt in Meta-Analysen zu dem Schluss, dass 96 Prozent aller Studien fehlerhaft sind. Aus vielerlei Gründen: Wer hat die Studien in Auftrag gegeben? Ist es die Ernährungsmittelindustrie? Hat der durchführende Forscher vorgefertigte Meinungen, für die er nur noch Bestätigung sucht? Außerdem sind die Versuchsaufstellungen extrem vage, alle basieren auf einer Beobachtungsstudie, das heißt, man sieht nur statistische Korrelationen. Damit kann man alles argumentieren.

Weil gleichzeitiges Auftreten von etwas noch keine Kausalität beweist.
Genau, wir stochern da im Dunkeln. So lange wir gar nicht wissen, was für Auswirkungen Essen hat, sollte das nicht mehr publiziert werden.

Nicht mal so etwas wie fünf Stücke Obst oder Gemüse am Tag? Das kann doch nicht schaden.
Gar nichts! Das sieht man an ihrer Widersprüchlichkeit, Studien sind Glaubensbekenntnisse. Die Ergebnisse müssen auch dauernd revidiert werden. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung, höchste Instanz in Ernährungsfragen, macht die Grundlagen für ihre zehn Ernährungsregeln überhaupt nicht transparent. Ich finde, eine Seite, die so öffentlich Gültigkeit beansprucht, müsste darunter in Fußnoten die Studien nennen. Auf der Empfängerseite dieser Regeln sitzt jemand, der ist meistens einkommensstark, gebildet und politisch eher links und er der ist eh schon höchst sensibel und vielleicht eine Helicopter-Mom. Die will alles richtig machen und glaubt alles und verrennt sich da irgendwo.

Kann das denn gefährlich sein?
Es gibt da draußen Leute, die glauben inzwischen, über die richtige Ernährung ihre Krankheiten heilen zu können. Es kann auch zum Tode führen, wenn Leute mit Diäten ihren Krebs „aushungern“ wollen. Manche essen „basenüberschüssig“, damit sie nicht übersäuern. Ich würde niemals sagen, dass diese Gurus für meine Essstörung verantwortlich sind. Das ist wie gesagt ein Identitätsproblem. Aber sie haben die Störung gefüttert.

Einer dieser Gurus veröffentlichte „Weizenwampe“. Wer sich so ein Buch kauft, ist doch Masochist, oder?
Absolut. Schlimmer noch sind diese ganzen Aktionspläne, wo Leute dazu aufgerufen werden, gesünder zu essen, obwohl wir gar nicht wissen, was das ist! Die Ernährungsempfehlungen von oberster Stelle, sei es von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung oder dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft – Frau Julia Klöckner, hallo! – finde ich extrem fahrlässig. Weil wir diese Evidenz eben nicht haben. Ich finde es nicht ok, dass sich die Politik da einmischt. Die ganze Debatte über die Lebensmittelampel zum Beispiel ist einfach hysterisch und zeigt, an welchem Punkt wir angelangt sind. Es steht doch schon jetzt auf jeder Verpackung drauf, was drin ist. Man kann das einfach lesen. Was spricht gegen eine Tüte Chips?

Acrylamid?
Das wird in Mengen analysiert, die kein normaler Mensch zu sich nimmt. In Wahrheit werden wir immer älter und durch den medizinischen Fortschritt auch immer gesünder. Es gibt dazu auch Studien, die geschaut haben, in welchen Regionen die Menschen ganz besonders alt werden: in Okinawa, Japan. In Sardinien, Griechenland, bei den Sieben-Tages-Adventisten in Kalifornien. Aber am Ende stürzen sich alle wieder nur darauf: Was essen die denn? Es könnte auch mal auffallen, dass sie alle in gemäßigten Zonen leben, in extrem mildem Wetter. Die haben viel Sonne, viel Vitamin D wahrscheinlich. Die haben ein tolles Zusammengehörigkeitsgefühl, einen Job, eine Aufgabe. Vielleicht haben sie auch ein fabelhaftes Sexleben. Da mischt sich ja Gott sei Dank noch keiner ein.

Es wäre für andere immerhin machbar, das zu essen, was diese Menschen auch essen.
Ja, weil Essen sichtbar und konkret ist. Und weil Ernährung so unmittelbar ist, man sich damit die Welt einverleibt, hat man wieder diesen Moment der Macht. Man denkt, man habe damit die Kontrolle über sein Leben, seine Gesundheit, das Älterwerden. Aber vielleicht werden wir auch immer fettleibiger, weil wir einsam sind? Auch ich war einsam, als ich so zugenommen habe. Ich will das gar nicht verallgemeinern, aber zur Fettleibigkeit gehören mehr Aspekte, als einzelne Lebensmittel, die verteufelt werden. Viele Fettleibige sind Binge-Eater, essen also aus einer psychischen Störung übermäßig viel. Dafür kann die Tüte Chips nichts.

Gerade ist doch wieder intuitives Essen angesagt, der Gegentrend, einfach nach Gefühl essen …
Hören Sie auf Ihren Körper! Das klingt entspannt, aber für jemanden, der essgestört ist oder orthorektisch, für den übt das schon wieder Druck aus: Hör auf Dein Hungergefühl – ja, was ist denn mein Hungergefühl? Verwechsle es nicht mit Durstgefühl! Oh Gott, ist es Durst oder Hunger? Da kräuseln sich die Gedanken. Überinformierte Leute macht das total nervös.

Was hat Ihr Freund zu ihren Obsessionen gesagt?
Lustigerweise ist der unbeeinflusst gewesen von meinen Neurosen.

Das spricht für ihn.
Ja, er ist standhaft geblieben und hat sich das Essen von mir nicht madig machen lassen. Ich habe ihm das Brot abspenstig gemacht, habe ihm Pasta verbieten wollen, aber er hat es weiter gegessen. Er hat es nicht wahrgenommen, dass ich da so gefangen bin. Er hat natürlich häufig unter mir gelitten. Weil ich oft so sprunghaft aggressiv war, was auch durch den Hunger kam und die OCD: Obsessive Compulsive Disorder. Wenn da irgendetwas nicht in Reih und Glied ist, flippen diese Leute aus. So war es auch bei mir. Ich war einfach nicht mehr flexibel. Also wenn ich meine Nüsse nicht dabei hatte! Für Reisevorbereitungen habe ich alles vorher eingekauft und mitgeschleppt in Tupperdosen, meine Goji-Beeren etc. Die Hälfte meines Gepäcks war Essen. Darunter hat er gelitten, wenn wir unterwegs waren. Und ich war ständig zerrissen, weil ich nicht wusste, was ich essen sollte. Dann war ich immer kurz davor, gar nichts zu essen, bevor ich etwas Falsches esse. Ich habe in Supermärkten einen Tobsuchtsanfall bekommen. Ich fühlte mich unter Druck gesetzt, weil er meinte: Jetzt nimm doch irgendwas. Ich konnte nicht irgendetwas nehmen! Das musste bestimmte Regeln erfüllen. Wenn ich an mein ganzes passiv-aggressives Angezische denke! Ich scannte noch die Zutatenliste, in seinem Korb lag längst ein halbes Hähnchen, Nudelsalat, das, worauf er Lust hatte.

Was hat ihnen schließlich geholfen?
Auch die Frage einer Ernährungsberaterin: wie denn meine Großeltern sich ernährt hätten. Darüber habe ich verstanden, dass es erprobte Essensmuster gibt, die auf die Gesundheit gar keinen so großen Einfluss haben. Die hatten Sauerteigbrot, Schwarzbrot mit Krabben. Sie haben Nudeln und Kartoffeln gegessen. Mein Großvater väterlicherseits ist 90 geworden, die Mutter mütterlicherseits 85. Sie waren gesund.

Am 11. März ist Nils Binnbergs Buch "Ich habe es satt" erschienen.

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