Die Kartoffel ist reif für eine Renaissance: Knolle vorwärts
Die Deutschen und die Kartoffel – eine Beziehung fürs Leben? Nein, der Verbrauch sinkt. Dabei kann diese Erdfrucht alles. Eine Hymne mit viel Nussbutter.
Die schönste Lobrede auf die Kartoffel hat der chilenische Lyriker Pablo Neruda geschrieben: „Taub bist du/ blind in der Erde./ Kaum sprichst du einmal in der Hölle des Öls/ oder singst in den Bratküchen der Häfen zu den Gitarren,/ Schweigsame du,/ Mehl der unterirdischen Nacht,/ unerschöpflicher Schatz der Völker.“ Der witzigste Reim kommt natürlich von Joachim Ringelnatz: „Jetzt schlägt deine schlimme Stunde,/ du Ungleichrunde,/ du Ausgekochte, du Zeitgeschälte,/ du Vielgequälte,/ du Gipfel meines Entzückens./ Jetzt kommt der Moment des Zerdrückens / mit der Gabel! – Sei stark!/ Ich will auch Butter, Salz und Quark …“
Ganze Legionen von Dichtern haben ihr vor Glückseligkeit dampfende Verse gewidmet, Marilyn Monroe warb für sie und zeigte nacktes Bein im Kartoffelfeld, van Gogh hat sie verewigt. Ernährungsberater sind seit Langem begeistert, Köche entzückt und selbst strenge Veganer setzen ein mildes Lächeln auf, wenn ihr Name fällt: Solanum tuberosum. Energiereich ist sie, sättigend, leicht anzubauen auf wenig Platz, dazu auch noch billig und unschlagbar, was den in Kalorien gemessenen Ertrag je Hektar angeht. Sie kommt kochfertig aus der Erde gekrochen und ist fix zubereitet, wächst in Castrop-Rauxel und in den Anden. Ein wahres „Universalgenie“, so die Laudatio, zu der sich die sonst so nüchterne Welternährungsorganisation FAO hinreißen lässt.
Und doch: Ausgerechnet die Deutschen – von Migranten gern als „Kartoffeln“ bezeichnet – mögen sie nicht mehr. Nach Jahrzehnten inniger Liebe liegt die Frischkartoffel missachtet unterm Spülkasten, während bei Tisch Curryreis und Penne all’ arrabiata serviert werden. Wie konnte es dazu kommen, wo doch jeder Deutsche nach dem Krieg 176 Kilo im Jahr verzehrte?
Heute ist der Verbrauch auf schlanke 57 Kilo gefallen und nimmt Jahr für Jahr weiter ab. In der Berliner Zentrale des Kartoffelhandelsverbands mag man das böse Wort „Krise“ dennoch nicht in den Mund nehmen. Ängstlich verweigert man sich der Realität und verweist lieber auf erfolgreiche Schulgarten-Projekte, neue Kartoffel-Apps oder auf Aktionen wie „Kartoffel voll lecker“. Reicht das für ein Comeback? Wohl kaum.
Um die abtrünnige Kundschaft zu ködern, werden inzwischen sogar vorgeschälte, eingeschweißte Kartoffeln angeboten. Oder Mikrowellen-Knollen, die mitsamt Verpackung in das Küchengerät geschoben und in wenigen Minuten gar werden.
Doch der Trend zeigt weiter nach unten. Und wenn schon Kartoffel, dann wird sie immer öfter aus Chipstüten und Pommes-Frites-Packungen entnommen, die Erdfrucht verliert ihre Gestalt. Die Zeiten der Einkellerung sind lange vorbei, heute kaufen die Deutschen pfundweise. Das Zweieinhalb-Kilo-Pack gilt schon als Mutprobe.
"Weltklasse-Heimwehküche"
Die Diagnose ist schnell gestellt. Die derbe Knolle passt nicht mehr zum Lifestyle. Sie ist weder schick noch exotisch. Und: Die jungen Leute, so heißt es, dulden keinen Dreck in der Küche. Sie scheuen sich, Linda und Nicola die Haut abzuschälen und dabei ihre schicke Kochinsel womöglich mit Ackerkrumen zu verseuchen.
Für die Kartoffel ist das nichts Neues. Sie ist es gewohnt, verschmäht und verspottet zu werden. Im 18. Jahrhundert wurde die „Pöbelfrucht“ mal als verdummend, mal als giftig und unverdaulich abgelehnt. Für die Kirche war sie eine Art Knollen-Viagra, deren sündige, angeblich lendentreibende Kraft verdächtig erschien, zumal sie in der Bibel nicht erwähnt ist. Die Kartoffel fördere unziemliches Verhalten, erklärte die Geistlichkeit, sie sei gewachsen, wo der Teufel auf die Erde gespuckt habe. Auch für Schwindsucht und Lepra wurde sie verantwortlich gemacht. Der große Nietzsche war überzeugt, dass ihr Genuss schnurstracks in Alkoholismus münde.
Sebastian Frank, Sternekoch im Kreuzberger Restaurant Horvath und wegen seiner „Weltklasse-Heimwehküche“ gerühmt, tickt da ganz anders. Er ist ein wahrer Freund der Kartoffel und traut sich, seine feinen Menüs mit einer dampfenden Portion Kartoffelstampf einzuleiten. Für diesen elementaren Aufschlag nimmt er die Sorte Rote Laura, backt sie mit Schale (ohne Folie) eine Stunde im Rohr bei 150 Grad und vermischt sie mit salziger Nussbutter. Fertig! Und so gut, dass dem bekanntesten deutschen Restaurantkritiker, Jürgen Dollase, das Wort „exzellent“ entschlüpfte.
„Die Kartoffel ist wirklich super“, sagt Frank, „aber sie hat es schwer in Zeiten von Sushi.“ Imageprobleme also: Überall werde asiatisch gekocht, so Frank, wie solle da ein Produkt mithalten, das eine einfache, dumpfe Bäuerlichkeit ausstrahle? Jenseits von Kartoffelstampf versucht der Horvath-Koch seine Gäste vom alten Mundgefühl zu befreien. Er konfiert die Knollen in feinen Scheiben langsam bei 60 Grad und inszeniert sie al dente in gemüsiger Form. Und: „Das Mehlige ist plötzlich weg!“ Auch selbst gemachte Kartoffelstäbchen sind für Frank etwas Großartiges, „außen hauchdünne Knusprigkeit und innen weichsamtig“.
Ein anderer großer Kartoffelversteher ist der bekannte Erzeuger Walter Kress. Auf zehn Hektar hat er im schwäbischen Hardthausen 15 Sorten im Anbau, neuerdings auch wieder die gute alte Sieglinde. Der größte Teil der Ernte geht in die Spitzengastronomie. Kress ist Qualitätserzeuger, das heißt: wenig Dünger, niedrige Erträge, keine Folienkartoffeln, nicht zu früh im Jahr anbauen und die Erdäpfel in strenger Fruchtfolge nur alle fünf Jahre auf denselben Acker setzen. Dazu eine kluge Sortenwahl, Demeter-Anbau, keine chemische Keule. Ergebnis: Mitten in der dicksten Kartoffelkrise macht der Mann glänzende Geschäfte.
Die Krise, glaubt Kress, werde sich nur mit dem Abschied von der seelenlosen Massenproduktion überwinden lassen und mit einer neuen Kartoffelkultur. Der Trend zu Vegetarismus und Gemüseküche müsste das nahrhafte Nachtschattengewächs eigentlich pushen.
In China boomt die Knolle
Doch gepusht wird die aus Südamerika stammende Knolle vor allem außerhalb europäischer Grenzen. In vielen Entwicklungsländern und vor allem in China und Indien boomen Anbau und Verzehr. Die Weltkartoffelernte ist von 2003 bis 2013 von 314,7 auf 376,5 Millionen Tonnen gestiegen. Krise? Keine Spur! Im Gegenteil: Die Kartoffel hat eine Schlüsselrolle, wenn es um die zukünftige Ernährung der wachsenden Menschheit geht. Beispiel China. Das Land hat massive Wasserprobleme, und weil der Reisanbau – um die gleiche Kalorienmenge zu ernten – fast dreimal so viel Wasser verbraucht wie der Anbau von Kartoffeln, setzt das Landwirtschaftsministerium auf die tolle Knolle.
Auch Weizen und Mais hängt die Kartoffel locker ab, wenn es um Ernährungsproduktivität geht. So ist China zum größten Kartoffelanbauer der Welt aufgestiegen. Bis 2020 soll sich die Anbaufläche von derzeit 5,3 Millionen Hektar auf zehn Millionen fast verdoppeln. Zum Vergleich: Deutschland verzeichnet als weltweit sechsgrößtes Kartoffelland nur 245 100 Hektar. Auch die Proteinmenge spricht für die Kartoffel. Und Kartoffeleiweiß wird vom menschlichen Körper besonders gut verwertet, es gilt als wertvollstes Eiweiß aller Gemüsesorten.
In asiatischen Ländern wird die Kartoffel ganz anders zubereitet und kombiniert: klein geschnitten und im Wok gegart, ausgehöhlt und mit Sojasauce gefüllt, süß-sauer mariniert, als Fladen ausgewellt, um Enten- oder Hühnerfleisch einzuwickeln ... Ihre Vielseitigkeit ist ihre große Stärke. Um es mit dem alten Goethe zu sagen: „Morgens rund,/ mittags gestampft,/ abends in Scheiben –/ dabei soll’s bleiben./ Es ist gesund.“
Weltweit gibt es mehr als 4000 Varietäten. Mehr als 900 werden im großen Kartoffelpark von Pisaq in Peru angebaut – ein einmaliges Projekt, um den Genpool einer der wichtigsten Nahrungspflanzen der Menschheit zu bewahren. Deutschland besitzt keinen Kartoffelpark, aber immerhin drei Kartoffelmuseen.
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