Spurensuche in Berlin: US-Botschafter erkundet Neukölln
Hier ein Plausch mit dem türkischen Cafébesitzer, dort ein paar nette Worte ins Gästebuch, und dann die Sorgen. Unterwegs mit John Emerson durch Berlin.
Hübscher könnte sich ein Beispiel gelungener Integration kaum präsentieren: Auf dem Terrassentisch liegt eine bestickte Tischdecke, im geräumigen Garten blühen Sommerblumen neben einem weißen Teepavillon.
US-Botschafter John Emerson ist begeistert. Mitten in Neukölln hatte er diesen Anblick nicht erwartet. Zusammen mit seiner Familie hat er sich mit Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey auf eine Spurensuche zum Thema Immigration in Berlin begeben.
Als er von Bewohnerin Brigitta Polina hört, dass dieses Hauses schon 1751 gebaut wurde, reagiert er mit spontaner Demut: „Da war mein Land noch gar nicht geboren.“ Noch eine andere Familie besucht er in Böhmisch Rixdorf in ähnlicher Idylle: Nachkommen von Flüchtlingen in neunter Generation.
Los geht's beim Café-Besitzer, dessen Großvater aus der Türkei kam
Begonnen hat die Tour im Café Olé bei Sezer Yigitoglu, einem tauben Unternehmer mit türkischen Wurzeln. Die ganze Familie ist begeistert, nicht nur vom Patenhund Olé und vom tollen Latte Macchiato. Der amerikanische Geist, der hier herrscht, der unbedingte Wille, seine Träume gegen alle Herausforderungen zu verteidigen, nimmt sie ein. Stolz zeigt ihnen der Cafébetreiber die Bäume vor dem Haus. Die hat sein Großvater gepflanzt, der als Gastarbeiter in Berlin war und dann heim ging in die Türkei. Seine Eltern kehrten zurück nach Berlin, er wurde hier geboren.
Er schreibt ein paar Worte ins Gästebuch
Im Rathaus heftet Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey später dem Botschafter das Neuköllner Wappen an. „Ähnlich wie in vielen amerikanischen Städten und Stadtteilen, machen Einwanderer Neukölln zu dem, was es ist“, schreibt er auf Deutsch ins Gästebuch.
Dass nicht alle Einwanderergeschichten so verlaufen wie die von Brigitta Pollina in Rixdorf erfährt er beim Mittagessen im MaDonna Mädchentreff im Rollbergviertel. Die jungen Frauen haben sich mächtig ins Zeug gelegt, ein Büfett mit türkischen Köstlichkeiten aufgebaut.
Er hört von Zwangsheirat, von Ehrenmord
Projektleiterin Sevil Yildirim und Vertreter der Projekte Stadtteilmütter, Elternanker und Morus 14 erzählen von den Problemen, mit denen sie es hier zu tun haben: Zwangsverheiratungen, Genitalverstümmelungen, Ehrenmorde. Die jungen Frauen wollen den Mädchen zwischen 9 und 18 Jahren klar machen, dass sie große Freiheiten haben und diese leben sollen. Zwar habe sich schon vieles gebessert, aber immer noch gebe es etwa Imame, die Probleme ignorierten, statt an einer Lösung mitzuarbeiten, immer wieder müssten Frauen die Polizei holen, um eine Zwangsehe zu verhindern. Es geht darum, Traditionen aufzubrechen, das wirke aber meist erst eine Generation weiter.
Auch hier entdeckt Familie Emerson viel amerikanischen Geist. Das deutsche Steuersystem fördere private Spenden nicht so wie in den USA, vieles werde noch dem Staat überlassen, sagen sie bedauernd. Die Frauen pflichten dem bei: „Mittel gibt es oft nur für Projekte nicht aber für ebenfalls notwendige Dinge wie Buchhaltung.“ Die Frauen wünschen sich auch Praktikumsplätze und alles, was den Horizont erweitert. Mailadressen austauschen mit den Botschaftertöchtern Jackie, Taylor und Haley, das macht den engagierten jungen Frauen sichtlich Spaß. Kimberly Emerson entwirft spontan ein Konzept für Fundraisingdinners: „Da habe ich Erfahrung.“
Die Bezirksbürgermeisterin hat viel statistisches Material zusammentragen lassen. An einer Stelle legt sie ihren Finger auf einen wunden Punkt. „Wir haben ein Grundgesetz. Darüber muss Konsens herrschen.“ Der Alltag im Bezirk mit vielen Migranten sieht anders aus. Dass die Gleichberechtigung von Mann und Frau in diesem Land nicht verhandelbar ist, darüber werde bis heute diskutiert. Das gibt es so nicht in den USA, die seit 1776 unabhängig und von Anfang an ein Einwanderungsland sind.
War es der Ruhm als Problembezirk, der den Botschafter hergelockt hat? Tatsächlich hat Tochter Jackie ihre Mutter schon mal durch Neuköllner Läden geführt, weil sie es da so cool findet. Auch für den Wandel hat Franziska Giffey eine Zahl parat: „In den letzten Jahren haben sich über 1000 Unternehmen im kreativen Sektor etabliert. Was mag aus denen in neun Generationen geworden sein?
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Lesen Sie mehr im Tagesspiegel: Heißer Flirt mit Kreuzberg. Der damalige US-Botschafter Philip Murphy studierte 2010 die türkische Kultur bei einem Rundgang durch Kreuzberg und bekam heiße Ohren - beim Coiffeur.