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Engagiert, konsequent, streitbar. Gilles Duhem, studierter Volkswirt und Städteplaner, arbeitet seit über zehn Jahren im Rollbergkiez in Neukölln, einem Viertel mit vielen sozialen Problemen.
© Claudia Keller

Schulen im Neuköllner Rollbergviertel: „Wir lüften hier die Gehirne aus“

Die soziale Entmischung der Schulen nimmt zu. Gilles Duhem, Integrationspraktiker im Neuköllner Rollbergviertel, weiß, was sich ändern müsste. Die Schulen setzen zuviel Mitarbeit der Eltern voraus, meint er.

Gilles Duhem, 46, Franzose, war bis 2006 Quartiersmanager im Neuköllner Rollbergviertel. Heute ist er dort Geschäftsführer des Vereins „Gemeinschaftshaus Morus 14“, in dem sich Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion und Kultur engagieren. Der Verein unterhält das „Netzwerk Schülerhilfe Rollberg“: 95 Erwachsene unterstützen 113 Jugendliche bei den Hausaufgaben und Alltagsproblemen. Wir treffen Duhem in seinem Büro, er tippt noch eine Mail und erklärt: „Der zwölfjährige Erencan möchte Fahrzeugingenieur werden und fragte mich: Kennst du nicht jemanden, der mir etwas über den Beruf erzählen könnte? Ihr kennt doch so viele Leute und ich kenne niemanden.“ Super reflektiert, freut sich Duhem, dem Jungen will er helfen.

Welche Probleme haben die Jugendlichen im Rollbergviertel?
Vielen Familien fehlt das Grundgerüst, um sich im Leben zurechtzufinden: Zeitgefühl, zwischen Montag und Dienstag unterscheiden, lesen, rechnen, sich ausdrücken. Die Trennlinie verläuft nicht zwischen den Familien mit deutschen und denen mit ausländischen Wurzeln. Sie verläuft zwischen denen, die sich artikulieren können, und den anderen.

Solche grundlegenden Kulturtechniken sollten die Kinder in der Grundschule lernen. Passiert das nicht? 

Die Schulen fordern unausgesprochen zu viel Mitarbeit der Eltern. Die Lehrer geben die Theorie vor. Einüben sollen es die Eltern mit den Kindern zu Hause. Bei unseren Familien findet das kaum statt – zumal die Kinder die Bücher nicht mit nach Hause nehmen dürfen, aus Angst, dass sie sie verlieren. Die Theoriestunde in der Schule reicht natürlich nicht aus.

Eine neue Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen kritisiert, dass sich die Schulpolitik in Deutschland zu sehr an einem idealisierten Normalschüler deutscher Herkunft orientiert, den es so immer seltener gibt. Was müsste sich ändern?

Die Kinder müssten von 8 bis 18 Uhr in der Schule sein. Es muss mit ihnen strukturiert gelernt werden – ohne Unterbrechungen für Projektwochen. Die Kinder wachsen in einem Umfeld ohne Strukturen auf. Die Schule muss das ausgleichen. Zuverlässigkeit und Verbindlichkeit geben Kindern Halt. Sie müssten bereits Anfang des Schuljahres wissen: Am 15. November ist die Mathearbeit. Es müssten mehr die Zusammenhänge erklärt werden, statt sich in Details zu verlieren. Da lernen die Kinder alle Knochen der Fledermaus auswendig, wissen aber nicht, dass die Fledermaus ein Säugetier ist.

Wie könnte man es besser machen?

Die Grundlagen üben, bis sie sitzen. In der Oberschule stürzen viele Schüler ab, weil sie die Grundrechenarten nicht beherrschen. Sie verstehen zwar die Gleichung, verrechnen sich aber beim 8 x 7.

Viele Schulen legen großen Wert auf selbstständiges Arbeiten.

Das sind Mittelschichtsträume. Dazu müssen Kinder zu Hause Selbstständigkeit lernen. Das ist hier nicht der Fall.

Es braucht also radikal andere Konzepte je nach Schülerschaft?

Ja, sonst fährt man plötzlich Porsche mit Kindern, die noch in einer Ente sitzen, und wundert sich, dass sie nicht mitkommen. Das Schulsystem ist viel zu starr.

Sollten Kinder öfter sitzen bleiben?

Sitzenbleiben ist eine super Sache und hat einige unserer Kinder aufgerüttelt. Ohne Sitzenbleiben gibt es gar keine Sanktion mehr für nicht vorhandene Leistung. Die Kinder werden mitgeschleppt, das fördert nicht ihre Arbeitsmoral.

Die neue Studie weist darauf hin, wie wichtig es ist, dass Kinder Erfolgserlebnisse haben. Mangelt es nicht eher an Motivation statt an Härte?

Es geht um Konsequenz, nicht um Härte. Hier bei der Schülerhilfe sagen wir den Kindern: Du bleibst jetzt drei Stunden sitzen, bis du’s kannst. Und morgen frag ich dich ab und übermorgen auch – und nach vier Tagen sitzt es. So produzieren wir Erfolgserlebnisse. Das motiviert.

Können das Schulen überhaupt leisten?

Ja, wenn man die 60-Stunden-Woche einführen und mehr richtig qualifiziertes Personal einstellen würde. Und das Geld nicht in Projekte hier und da steckt, sondern in feste Stellen. Wie sollen Mitarbeiter etwa einer Schulstation Kontakt zu Eltern aufbauen, wenn sie ständig wechseln müssen, weil das Projekt ausläuft?

Wer fängt einen Job an mit der Aussicht auf eine Regelarbeitszeit von 60 Stunden?

Jeder, der in der Industrie einen gehobenen Posten übernimmt. Das sind sehr gut dotierte Jobs. Da muss man richtig Geld ausgeben. Und wie in der Wirtschaft muss gelten: Taugst du nichts, dann fliegst du raus. Man muss pädagogische Talente suchen, Personen, die sich Respekt verschaffen können.

Wie geht das mit dem Respekt?

Es kommt aufs Auftreten an – am besten im Anzug oder im Kostüm. Ab einem bestimmten Alter sollte man die Schüler siezen. Und wenn der Lehrer den Raum betritt, stehen alle auf und begrüßen ihn. Es kommt darauf an, konsequent zu sein. Wer gegen die Regeln verstößt, fliegt raus. Dann bestellt man die Eltern ein und konfrontiert sie mit dem Verhalten der Kinder. Die staunen meistens sehr. Lehrer können sich aber nur Respekt verschaffen, wenn sie von den Eltern respektiert werden und vor denen nicht einknicken.

War es für Sie schwer, sich Respekt zu verschaffen?

Nein, denn die Regeln waren von Anfang an klar. Wir haben es hier auch nur mit Kleingruppen zu tun und nicht mit einer Meute von 30 Jugendlichen, die sich gegenseitig hochschaukeln. Wenn wir Ausflüge machen, betreuen vier Erwachsene zehn Kinder. Zum konsequenten Handeln gehört auch, dass man sofort die Keimzelle der Unruhe auflöst und immer wieder „Nein“ sagt. Man sollte den Kindern aber auch mit viel Zuneigung begegnen und sie ernst nehmen.

Sie machen keinen Hehl aus Ihrer Homosexualität. Eine Untersuchung hat kürzlich ergeben, dass Homosexualität immer noch ein Tabu ist, sobald es um die eigene Sexualität der Lehrer und Schüler geht. Sprechen Sie mit den Jugendlichen darüber?

Ja, denn ich wollte nicht Versteck spielen, und die Jugendlichen fragen sofort nach dem Privatleben. Ich frage zurück: Hast du eine Freundin? Was macht ihr im Bett? Die werden dann rot und kichern. Aber so macht man Sexualkunde. Man darf kein Tabu daraus machen.

Die beschimpfen Sie nicht?

Nein. Und wenn, dann würde ich sofort die Eltern einbestellen. Demnächst zieht eine große Schwulen-Disco in die Nachbarschaft. Da kann man nicht mehr so tun, als ginge einen das nichts an und als würde nur der Stamm, der Clan, die eigene Engstirnigkeit zählen. Wir lüften hier die Gehirne durch.

Der Senat will Schulen in schwierigen Kiezen jährlich bis zu 100 000 Euro mehr geben. Was halten Sie davon?

Es ist zu wenig. Wissen Sie, wie teuer Personal ist? Ein Schulleiter müsste so viel verdienen wie ein Abteilungsleiter in einem großen Unternehmen und dessen Befugnisse haben. Es müsste mit den Kindern viel mehr geackert werden, auch am Samstag. Vielleicht hält man so einen Job nur zehn Jahre durch, weil er so anstrengend ist, und muss dann wechseln.

Es gab mal den Vorschlag: Lehrer, die Karriere machen wollen, müssen sich zuerst an Brennpunktschulen bewähren.

Gute Idee. Warum nicht die Lehrer rotieren lassen? Zehn Jahre Neukölln, zehn Jahre Zehlendorf. Mit der Besitzstandswahrerei muss Schluss sein. Der volkswirtschaftliche Schaden ist immens, wenn die Jugendlichen keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Und es tut mir in der Seele weh, wenn ich sehe, wie viel Potenzial in den Kindern steckt und wie wenig davon ausgeschöpft wird.

Das Gespräch führten Claudia Keller und Sylvia Vogt.

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