Berlin-Bücher: Unterwegs mit Emil und Fabian
Eine Anthologie versammelt Erich Kästners Beobachtungen in seiner Wahlheimat Berlin. Der Schriftsteller lebte von 1927 bis 1945 in der Stadt.
„Diese Stadt ist zwar nicht meine Heimat. Doch ich habe die schönsten und die schlimmsten Jahre darin verbracht. Sie ist sozusagen meine Busenfreundin.“ Und mit solchen Freundinnen, so fährt Erich Kästner in seiner Lobpreisung Berlins fort, verstehe man sich manchmal besser „als mit der eigenen Frau“.
Der Text erschien im September 1946, nachdem der Schriftsteller erstmals nach Kriegsende in seine ehemalige Wahlheimat zurückgekehrt war. Verlassen hatte er Berlin im Frühjahr 1945, als angebliches Mitglied eines angeblichen Filmteams, das sich vor der heranrückenden Front – die ersten Barrikaden wurden schon gebaut – zu fingierten Dreharbeiten ins Zillertal flüchtete.
Auch solch ein Dokument des Wiedersehens durfte in der Kästner-Anthologie „Sonderbares vom Kurfürstendamm. Berliner Beobachtungen“ nicht fehlen. Sylvia List, Herausgeberin solcher den gebürtigen Dresdner feiernden Textsammlungen, hat sie aus bekannten, oft nachgedruckten Texten wie auch vergessenen, hier erstmals wieder publizierten Brotarbeiten Kästners zusammengestellt. So darf sich der Leser auf Wiederbegegnungen mit Passagen aus „Emil und die Detektive“ oder „Fabian“ ebenso freuen wie auf echte Entdeckungen wie „Vergnügen en gros“, eine präzise wie komische Beschreibung des Treibens im Lunapark. An diesem Vergnügen konnten zuvor nur die Leser der „Neuen Leipziger Zeitung“ vom 11. September 1927 teilhaben.
Das Blatt hatte Kästner einige Monate zuvor gekündigt, akzeptierte ihn aber als Kulturkorrespondenten aus der Hauptstadt. Anlass der Trennung war das Gedicht „Nachtgesang des Kammervirtuosen“, das als allzu frivol empfunden wurde („Komm wie ein Cello zwischen meine Knie / Und lass mich zart in deine Seiten greifen“). Für Kästner wie für Berlin ein Glücksfall. Der Autor ließ die Enge der Provinz hinter sich, hatte plötzlich, gerade als fleißiger Theaterkritiker, „die Hand am Pulse der Zeit“, wurde im flirrend-schwirrenden Klima der zwanziger Jahre zum berühmten, in den entsprechenden Kreisen auch berüchtigten Autor. Berlin aber gewann mit ihm einen der am schärfsten beobachtenden, aber auch lustigsten Porträtisten der Stadt, in guten wie schlechten Zeiten.
Die allererste Zielgruppe seiner frühen Feuilletons, das waren die Provinzler im fernen Sachsen und anderswo, die sich über das seltsame, oft als lasterhaft empfundene Verhalten der Großstädter amüsieren sollten und denen Kästner in seinem Gedicht „Besuch vom Lande“ ein noch heute oft treffendes Denkmal schuf: „Sie stehen verstört am Potsdamer Platz / Und finden Berlin zu laut.“ Kästner zeigt denen vom Lande die große weite Welt, stets ironisch, nie hämisch, mit ebenso viel Sympathie wie Distanz zu dem geschilderten Trubel. Das Publikum des Lido gehört ebenso dazu wie die Revuetänzerinnen mit ihrem „ewig gleichen Beinerlei“, der fragwürdige Kulturglamour des Romanischen Cafés („Wartesaal der Talente“), aber auch Wedding, „das armseligste Viertel Berlins“, das „nur romantisches Interesse“ erwecke, aber doch viel eher „soziale Teilnahme“ verdiene.
Schon früh mischten sich in die vor allem unterhaltsamen Reportagen aus der Kultur- und Halbwelt sezierende, doch nicht ohne Wortwitz geschriebene Analysen der dunkleren Ecken der Glitzerstadt, ihrer sozialen, in politischer Radikalisierung sich entladenden Widersprüche. Kästner hat deutlich Position bezogen, so im Gedicht „Ganz rechts zu singen“ in der „Weltbühne“ am 1. Oktober 1930, kurz nach der Reichstagswahl, mit der die NSDAP zweitstärkste Partei geworden war: „Die Deutsche Welle, die wächst heran/als wie ein Eichenbaum. /Und Hitler ist der richtige Mann./Der schlägt auf der Welle den Schaum.“ Das vergaßen ihm die Nazis nie.
Es folgten für Berlin „zwölf der schlimmsten Jahre, auch für mich selber“, erinnerte sich Kästner später an die Zeit des NS-Terrors. Auch seine Bücher brannten am 10. Mai 1933 auf dem Opernplatz, er stand selbst dabei: „Gegen Dekadenz und moralischen Zerfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe den Flammen die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser und Erich Kästner!“ Doch als eine junge Frau ausrief „Dort steht ja Kästner!“, hielt er es für ratsam, sich rasch zu entfernen.
Auch die Pogromnacht am 9. November 1938 hat Kästner als Augenzeuge beschrieben, später die Bombennächte – und noch später, als er Berlin 1946 wiedersah, seinen Tisch im alten Stammcafé am Kurfürstendamm, „an den sich um die Mittagszeit, auch wenn er leer war, sechzehn Jahre lang kein Fremder setzen durfte“. Das Café gab es noch, aber es war zum „British Officer’s Club“ geworden, Kästner durfte nicht rein. „So ging ich an der altgewohnten Tür vorüber, als kennten wir einander nicht.“
Erich Kästner: „Sonderbares vom Kurfürstendamm. Berliner Beobachtungen“. (Herausgegeben von Sylvia List). Atrium-Verlag, Zürich. 160 Seiten, 12,99 Euro
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