Zwei Monate nach Attentat in Berlin: Unsere Angst vor dem Terror verbindet uns
Nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz: Was der Einzelne gegen terroristische Gefahren tun kann. Ein Gastkommentar des israelischen Botschafters in Berlin.
Wenn ich in meiner Heimat Tel Aviv in ein Einkaufszentrum gehe, steht davor stets eine Sicherheitskraft, ich muss meine Tasche vorzeigen. Klar, ich könnte dann sagen, dass es wirklich nicht nötig sei, mich zu überprüfen. Dass ich als Diplomat arbeite und oft selber unter Personenschutz stehe. Aber das würde die Person am Eingang nicht beeindrucken. Genauer: es dürfte sie nicht beeindrucken. Bei dieser Kontrolle geht es zuerst um die Sicherheit aller – und erst dann um mich.
Eines vorweg: Ich möchte niemanden belehren, wie man in andauernder Bedrohung von Terror zu leben hat. Klare Regeln oder Normalität kann es dafür kaum geben. Mut und Angst empfinden Menschen unterschiedlich. Mir jedenfalls hilft es darüber nachzudenken, welche Rolle das Individuum spielt und was Zusammenhalt bedeutet. Terroristen agieren wahllos, sie wollen Menschen töten. Es ist ein Kult des Todes gegen die Kultur des Lebens. Um Persönliches geht es Terroristen nur selten. Wer zur falschen Zeit am falschen Ort ist, wird zum Opfer.
Deshalb müssen wir uns gemeinsam wehren. Jeder Mensch hat ein natürliches Recht auf Sicherheit. Es ist richtig, dass die Bundesregierung derzeit intensiv an Maßnahmen gegen Terror arbeitet. Für Demokratien ist es eine große Herausforderung, die richtige Balance zwischen Freiheit und Schutz zu finden und zu behalten.
Für Europa hat das Zeitalter begonnen, das Israel seit 1948 kennt
„Wir gemeinsam sind stärker“, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Neujahrsansprache gesagt. Stärker als der Terror. Das „Wir“ hat weltweite Bedeutung. Terror kennt keine Grenzen mehr. In Jerusalem hat kürzlich ein palästinensischer Terrorist einen Lkw in eine Gruppe von Soldaten gelenkt, die auf Sightseeing-Tour waren. Vier junge Menschen starben: Yael, Shir, Shira und Erez. Heute vor zwei Monaten steuerte ein tunesischer Terrorist einen Lkw in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Dort war auch das israelische Ehepaar Elyakin. Daliya starb, ihr Mann Rami wurde schwer verletzt. Sie wurden nicht Opfer, weil sie Israelis sind, sondern weil sie den Markt mochten. Und die 18-jährige Israelin und Muslimin Leann Zaher Nasser feierte Silvester in einem Club in Istanbul, als ein Terrorist sie und 38 andere Menschen ermordete.
Leider hat für Deutschland und Europa ein neues Zeitalter begonnen. Es ist jenes, das wir in Israel seit der Gründung unseres Staates im Jahr 1948 kennen. Auf der einen Seite steht das öffentliche Leben, für das klare Gesetze gelten. Auf der anderen Seite stehen Terroristen, die im Verborgenen agieren und keine Regeln akzeptieren. Worte können zu Waffen werden. Jedenfalls waren die meisten Täter in ihren Anschlägen den Aufrufen und Anleitungen von Terrororganisationen gefolgt.
Die Lage in Deutschland hat sich nicht erst mit dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz verändert. Bereits nach den fürchterlichen Anschlägen in Paris im November 2015 hörte ich immer wieder eine Frage: „Sollte ich jetzt noch auf einen Weihnachtsmarkt gehen?“ Offenbar hielten mich die Menschen, denen ich begegnete, für einen Experten in dieser Frage. Aber woher sollte ich die richtige Antwort wissen? Grundsätzlich ist es richtig, sein Leben fortzusetzen wie es war. Sonst nehmen die Terroristen uns die Freiheit. So viel ist klar. Aber neben der Frage nach staatlich garantierter Sicherheit und dem Lebensstil darf ein anderer Punkt nicht aus dem Blick geraten: Was kann eine Gesellschaft selbst für ihre Sicherheit leisten?
Wir brauchen eine Vereinbarung: Lasst uns gegenseitig helfen!
Niemand weiß, wie lange die Phase der Bedrohung durch Terrorismus in Europa dauern wird. Aber wir werden es schaffen, wenn wir diese eine Vereinbarung treffen: dass wir uns gegenseitig helfen. Die Menschen den Menschen. Die Menschen dem Land. Und die Länder anderen Ländern.
Wie kann das im Alltag aussehen? Ein klassisches Beispiel: Wenn bei der Einreise nach Israel ein Tourist besonders genau kontrolliert wird, löst das oft Unverständnis aus. Was sollte dieser Besucher schon im Schilde führen? Es mag aber andere Gründe für eine Kontrolle geben. So könnte es sein, dass der Reisende ein Paket mitgenommen hat, dessen Inhalt er nicht kennt. Hier hilft nur Umdenken: Wer mitmacht, leistet einen Beitrag zur Sicherheit von uns allen. Wir in Israel wissen das spätestens seit dem Fall von Anne-Marie Murphy: 1986 wollte die 32-Jährige von London nach Israel fliegen, sie war schwanger. Ihr Verlobter, ein Terrorist, hatte ihr eine Bombe in die Tasche gesteckt. Die Befragung rettete das Leben von 450 Passagieren – und auch ihres.
Nach den Anschlägen in Berlin gab es in Deutschland auch eine Debatte, wie groß die Angst nun sei und ob es überhaupt Angst gebe. Ich glaube, nach den schrecklichen Ereignissen des vergangenen Jahres geht es gar nicht anders: Jeder empfindet Angst. Stehen wir dazu! Unsere Angst verbindet uns.
Ein biblisches Sprichwort lautet sinngemäß: „Gepriesen sei, wer stets Furcht empfindet.“ Aber versprechen wir uns: Wenn etwas passiert, laufen wir nicht weg, sondern helfen einander. Wenn also irgendwo eine Tasche steht und kein Besitzer in der Nähe ist, muss der Erste, dem das auffällt, die Sicherheitskräfte alarmieren. Egal, ob er es eilig hat. Oder ob er denkt, er sei wichtiger als andere. Das ist er nämlich nicht. Vor dem Terror sind wir alle gleich.
Der Autor ist seit 2012 israelischer Botschafter in Berlin.
Yakov Hadas-Handelsman