Verkehrswende in Berlin: Um die ersten hundert wegfallenden Parkplätze wird am lautesten gestritten
Vor zwei Jahren ist das Mobilitätsgesetz verabschiedet worden, voller Ambitionen. Was ist seitdem passiert – außer Planung? Ein Kommentar.
Vor ihrem Sommerurlaub hat die Berliner Verkehrssenatorin Regine Günther die Presse geladen und den Stand der Dinge verkündet: 100 Kilometer neue Radwege fertig, zehn Radschnellverbindungen in Planung. 28 Milliarden Euro sollen bis 2035 in den Öffentlichen Personennahverkehr fließen; Hunderte Elektrobusse werden geliefert, tausende S-Bahn-Wagen sind ausgeschrieben, U-Bahn-Waggons bestellt.
An Ampeln hat der ÖPNV Vorfahrt, es gibt ein paar neue Busspuren, und an Baustellen verschwinden Rad- und Gehwege nicht mehr selbstverständlich unter Absperrbaken. Das ist die eine Seite.
Zugleich rechnen Radverkehrslobbyisten vor, dass bei Beibehaltung des Tempos frühestens die übernächste Generation von der Verkehrswende profitiert, stehen Autofahrer vor wegen Einsturzgefahr gesperrten Brücken im Stau, ist die Zahl der Verkehrstoten seit Jahresbeginn fast so hoch wie im gesamten Jahr 2019.
Zwei Jahre nach Verabschiedung des bundesweit viel beachteten Mobilitätsgesetzes ist die Situation auf Berlins Straßen und Gleisen also widersprüchlich. Das aus dem enorm erfolgreich gestarteten Fahrrad-Volksentscheid hervorgegangene Gesetz wurde auch wegen der darin steckenden Ambitionen bestaunt.
Die waren gewagt, sofern sie mit Fristen versehen sind und auf den berüchtigten Berliner Verwaltungswegen umgesetzt werden sollen. Aber immerhin: Ambitionen. Die gab es vorher nicht. Seit Inkrafttreten des Mobilitätsgesetzes scheint der Wecker zu ticken, der die grün regierte Verkehrsverwaltung aufgeweckt hat. 2018 hieß es noch: „Wir müssen doch erst mal planen“, als Senatorin Günther gefragt wurde, warum die Verkehrswende auf der Straße nicht ankommt.
Inzwischen hat sie verstanden, dass sie übers Planen auch reden muss. Und sie hat sich vom Ehrgeiz der teils sehr fachkundigen Rad-, Fuß- und ÖPNV-Aktivisten anstecken lassen, was gut ist. So ist das anfängliche Herumgewurstel dem Anspruch gewichen, dass städtisches Leben sich nicht auf ewig dem Autoverkehr unterordnen kann und darf.
[Radwege, Busse, Straßenbahnen : Was hat sich in zwei Jahren Berliner Mobilitätsgesetz bewegt? Lesen Sie mehr mit Tagesspiegel Plus]
Die Pop-Up-Radwege, die im Grunde nur das plötzliche Nachholen jahrelang vertrödelter Aktivität sind, stehen exemplarisch dafür. Und sie legen offen, welche Bezirke wirklich an der Verkehrswende interessiert sind und welche nicht. Ohne die Bezirke kann die Senatsverwaltung wenig ausrichten.
Wobei zur Wahrheit auch gehört, dass die Verkehrsverwaltung selbst erst zu neuem Leben erwacht ist, seit die entscheidungsschwache und überforderte Verkehrslenkung als eigenständige Behörde aufgelöst und samt neuem Chef in die Verwaltung integriert worden ist. Der nimmt die Leute endlich ernst, die zuvor jahrelang vergeblich um eine Ampel vor der Schule ihrer Kinder betteln mussten und sich nicht damit abfinden wollen, dass Kreuzungen zugeparkt werden.
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Jetzt muss aufgeholt werden, was seit Jahren überfällig ist. Und Günther hat ja recht: Sie müssen erst planen. Gelbe Linien plus Baustellenbaken allein sind kein Radverkehrskonzept für eine Fast-Viermillionenstadt, neue Tram- und S-Bahnen gibt es nicht to go, und vor lauter Fahrradbegeisterung die Fußgänger zu vergessen, wäre verheerend.
Von den anderen Parteien kommt wenig Konstruktives: Für die SPD betont der Regierende Bürgermeister und ehemalige Verkehrssenator Michael Müller, dass es ohne Autoverkehr nicht gehe. Die Linken interessiert das Thema kaum. Die CDU beschließt grüne Wellen für alle und fordert auf Twitter Radwege, die sie auf Bezirksebene verhindert.
Es ist dennoch etwas in Gang gekommen, das berlintypisch arg lange dauert, aber ebenso typisch vor allem am Anfang zäh ist. Zugespitzt gesagt: Um die ersten hundert wegfallenden Parkplätze wird am lautesten gestritten. Und wenn die 28 Milliarden für den ÖPNV erst gut investiert sind, fahren Busse und Bahnen hoffentlich auch an den Stadträndern und im Speckgürtel so, dass der Verzicht aufs Auto selbst dort nicht als Zumutung, sondern als Wohltat empfunden wird.
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