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Autos, Busse, Lastwagen, Radfahrer und Fußgänger teilen sich die Friedrichstraße am Checkpoint Charlie zur Mittagszeit.
© Annette Riedl/dpa

Mit Vollgas weg vom Auto: Berlins Verkehrssenatorin will bei der Mobilitätswende klotzen statt kleckern

Oft wurde Regine Günther kritisiert, weil von der Verkehrswende bisher so wenig zu spüren ist.Doch nun packt ihre Verwaltung auch die großen Baustellen an.

Nach dem oft als zäh kritisierten Start will die Verkehrsverwaltung die Mobilitätswende im verbleibenden Jahr dieser Legislaturperiode mit mehreren Großprojekten voranbringen – milliardenschwer und mit Wirkung für Jahrzehnte.

Den Auftakt bildet der neue Verkehrsvertrag mit der BVG, der am Dienstag vom Senat beschlossen werden soll. Er umfasst rund zwölf Milliarden Euro bis 2035, zu denen noch Investitionen aus anderen Haushalten und Fördertöpfen kommen sollen, nämlich gut vier Milliarden Euro für Investitionen in neue Infrastruktur wie Straßenbahnstrecken sowie rund zwei Milliarden für die Umstellung der BVG-Busflotte auf E-Fahrzeuge: Der Bestand soll sich bis nächstes Jahr auf mehr als 200 Stück verdoppeln – und 2030 mit dann 1600 Elektrobussen komplett vom Diesel verabschiedet haben.

Schneller soll das Vorankommen der Busse erleichtert werden: Laut Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) sind 15 Kilometer neue Busspuren angeordnet, weitere sollen zügig folgen, „aber die Umsetzung liegt bei den Bezirken“.
Ebenfalls um Milliarden geht es bei der Ausschreibung großer Teile der S-Bahn, die nach Auskunft von Günther noch im Juli starten soll, sobald letzte Details mit Brandenburg geklärt sind. Teil dieses Pakets ist die Beschaffung von mehr als 1300 S-Bahn-Wagen, die dann dem Land gehören sollen und nicht mehr der Bahn.

Wie groß die Flotte werden soll, hängt auch vom Ausbau des Netzes ab. So sollen die Strecken nach Strausberg und Bernau zweigleisig werden – und die künftige S-, Regional- und Fernbahntrasse zwischen Spandau und Falkensee sogar sechsgleisig, wenn es nach Günther geht: Noch gebe es die Möglichkeit, um genug Kapazität für die nächsten Jahrzehnte zu schaffen – und zu verhindern, dass der Regionalverkehr in die Lücken zwischen den ICEs gequetscht werden müsse, die zwischen Hamburg und Berlin bald im Halbstundentakt fahren sollen. Die Prüfung laufe.

Hohe Investitionen in den Nahverkehr hält Günther nach eigenem Bekunden im ersten Schritt für dringlicher als Tarifsenkungen. Die seien später wichtig, aber zunächst werde Geld zur Verbesserung des Angebots gebraucht. Damit widerspricht Günther dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD), der gern ein 365-Euro-Jahresticket für Berliner hätte. Günthers Ablehnung resultiert auch aus einer Untersuchung des Wiener Vorbildes: Die dortige 19-prozentige Preissenkung der Jahreskarte auf 365 Euro hat zwar mehr Verkäufe generiert, aber die Fahrgastzahlen – trotz gleichzeitig ausgeweiteter Parkraumbewirtschaftung – kaum gesteigert und den Zuschussbedarf für die „Wiener Linien“ schon im ersten Jahr um 52 Millionen Euro erhöht.

Die neue Pop-Up-Radspur in der Kantstraße in Berlin-Charlottenburg.
Die neue Pop-Up-Radspur in der Kantstraße in Berlin-Charlottenburg.
© Cay Dobberke

Parkgebühren sollen deutlich steigen

Apropos Parken: Die Gebühren für Tickets sollen noch in dieser Legislaturperiode von ein bis drei auf zwei bis vier Euro pro Stunde steigen. Die Anhebung ist als Teil des Luftreinhalteplans zwingend nötig; alternativ drohen Dieselfahrverbote.
Geprüft wird laut Günther auch, wie hoch die Kosten für Anwohnerparkvignetten steigen sollen, die bisher bei 10,20 Euro pro Jahr liegen. Ob die Entscheidung darüber noch vor der nächsten Wahl im Herbst 2021 fällt, ist offen.

Den relativ teuren und langwierigen Ausbau von U-Bahnstrecken sieht Günther positiver als viele in ihrer Partei. Für vier Streckenverlängerungen seien Machbarkeitsstudien in Arbeit. Entscheidungen dürften jedoch erst von der nächsten Koalition getroffen werden.

Fahrgäste steigen am U-Bahnhof Amrumer Straße ein- bzw. aus. Busse und Bahnen werden wieder voller.
Fahrgäste steigen am U-Bahnhof Amrumer Straße ein- bzw. aus. Busse und Bahnen werden wieder voller.
© Christoph Soeder/dpa

Der Radwege-Ausbau soll schneller vorankommen

Während die ÖPNV-Projekte sich über Jahrzehnte ziehen, soll die Schaffung eines zeitgemäßen Radwegenetzes schneller vorankommen: Die Planungen für alle zehn Radschnellverbindungen – Gesamtlänge rund 100 Kilometer – laufen, 2022 sollen erste Bauarbeiten beginnen. Für die komplette Umsetzung rechnet Günther mit sieben bis acht Jahren und gibt angesichts des langen Vorlaufs die Devise „lieber ordentlich als voreilig“ aus.

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Noch schneller geht es bei den Pop-Up-Radwegen von denen inzwischen 26 Kilometer angeordnet oder bereits angelegt worden sind. Sie sollen in dauerhafte geschützte Radfahrstreifen umgewandelt werden. Ein vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages erstelltes Gutachten, dass die Einrichtung von Pop-up-Radwegen für klar rechtmäßig befindet, kommt da gerade recht. Als Begleitprogramm sollen an prominenten Fahrradrouten gut sichtbare Zähler installiert werden. Zehn bis zwölf seien geplant; vielleicht mit Luftpumpen.

Das Pilotprojekt „Autofreie Friedrichstraße“ soll nach Auskunft von Günther nun in der zweiten Augusthälfte starten und bis Jahresende dauern. Dazu seien Begrünung, Außengastronomie, Sitzplätze und die Ausdehnung des Weihnachtsmarktes geplant. Sie selbst sei im Gespräch mit den Anrainern, sagte Günther mit Blick auf die Kritik, dass Geschäftsleute ungenügend eingebunden würden.

Neue Lösung für Unter den Linden geplant

Außerdem sei „der heutige Autoverkehr dort auch kein so phänomenales Begleitprogramm“. Wirtschaftsverbände hatten vor wenigen Tagen mitgeteilt, dass zwar eine knappe Mehrheit von 137 befragten Gewerbetreibenden dem Versuch grundsätzlich positiv gegenüberstehe. Jedoch würden sie den Termin aufs Jahresende – wenn die verlängerte U5 rollt und mehr Vorbereitungszeit war – verschieben.

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Die Freigabe der U5 verlangt auch eine Lösung für Unter den Linden. Nach Auskunft von Günther wird zurzeit geprüft, inwieweit außer Bussen, Lieferwagen und Fahrrädern auch Autoverkehr erlaubt bleibt. Die große Lösung einer weitgehenden Verkehrsberuhigung von Unter den Linden zwischen Humboldt-Forum und Brandenburger Tor will die Verkehrsverwaltung nur als Teil eines Gesamtpaketes anpacken, das den Autoverkehr im gesamten Gebiet zwischen Hackeschem Markt, Rotem Rathaus, Leipziger und Friedrichstraße reduziert.

Allen Vorhaben gemein ist das Ziel, die Alternativen zum Auto attraktiver zu machen – auch auf dessen Kosten. Wie die milliardenteuren Verbesserungen beim ÖPNV finanziert werden könnten, hat eine von Günthers Verwaltung bestellte Studie kürzlich beschrieben. Das darin empfohlene, heftig umstrittene Pflichtticket für alle Berliner hält die Senatorin für denkbar, sofern die Mehreinnahmen zweckgebunden gesichert und soziale Aspekte beachtet würden. Auch andere Vorschläge wie Citymaut und Anhebung der Parkgebühren seien Diskussionsansätze. Konkreter will Günther sich erst nach der gerade begonnenen Debatte festlegen.

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