Stadtentwicklung: Tourismus in Berlin an der Grenze
Berlin ist als Reiseziel beliebt wie nie. Die Politik darf nicht zulassen, dass Berliner die Zeche für den Boom mit vermüllten Parks und schlaflosen Nächten zahlen.
Sie fliegen auf Berlin. Nicht nur die 40 Rosinenbomber, die bald an die Luftbrücke und die heiß-kalte Grenze einer welthistorischen Systemschlacht erinnern. Vielen Menschen wird das eine Reise wert sein, in die Stadt der Freiheit, der Weltoffenheit und der Toleranz. Auch 2017 gibt es wieder einen Besucherrekord, viele Berliner aber sehen ihre persönliche Freiheit bedroht – statt Toleranz und Weltoffenheit wächst Groll.
Das Tourismuskonzept, das der Senat im Januar beschließen will, ist überfällig. Berlin droht vom eigenen Erfolg überwältigt zu werden. Wichtiger als alle Überlegungen, wie man noch mehr Reisende anlockt, ist inzwischen, die Akzeptanz der Berliner für den Tourismus zu erhalten.
Neben den jährlich fast 13 Millionen Touristen, die in Hotels unterkommen, tauchen in der Statistik weder die über 100 Millionen Tagesgäste auf noch jene Millionen, die bei Besuchen privat übernachten. Hunderttausende Berliner erfahren leidvoll, was das für ihre Kieze bedeutet, in denen sie sich als unfreiwillige Staffage eines touristischen Disneylands fühlen.
Die teilweise rabiaten Proteste gegen Reisende, die es in Barcelona oder Mallorca gab, sind eine Warnung. Auch gegen ein Hotel am Kreuzberger Oranienplatz flogen jetzt Steine. Politik darf nicht zulassen, dass Berliner die Zeche für den Boom mit vermüllten Parks und schlaflosen Nächten zahlen.
Der Reiseboom erzwingt den Ausbau des Nahverkehrs und der Radwege
Gegen Lärm und Dreck vorzugehen, ist wichtig; alarmieren müssen ebenso die strukturellen Veränderungen der besonders belasteten Bezirke: steigende Mieten, überlastete Straßen, Verdrängung von Läden und Handwerkern durch Bars und Restaurants. Dagegen braucht es Hilfe.
Veränderung fängt mit kleinen Dingen an: Wenn Amsterdam die unsäglichen Bierbikes verbietet, kann das auch Berlin schaffen. Gut, dass die Stadtreinigung nun in vielen Parks die Party-Reste beseitigt. Der Reiseboom erzwingt auch den schnellen Ausbau des Nahverkehrs, der Radwege und der öffentlichen Toiletten.
Überfällig ist, die stinkenden und Straßen-verstopfenden Reisebusse aus dem Zentrum zu verbannen – BVG und S-Bahn sind gut ausgebaut. Und ein Hotel-Entwicklungsplan kann belastete Kieze befrieden. All das ist nicht von Touristenfeindlichkeit getrieben, ist nicht Ausdruck einer Rollkoffer-Phobie, sondern Selbstschutz für ein friedliches Zusammenleben.
Berlin lebt von seiner Authentizität. In der Hauptstadt findet sich eine einzigartige Mischung aus dramatischer Geschichte, einmaligen Kulturangeboten, hippem Stadtflair und spektakulärem Nachtleben. Diese gilt es zu erhalten – was nur geht, wenn zugleich die Interessen der Berliner mehr Gewicht bekommen.
Berlin braucht neue Konzepte, Geschichte erfahrbar zu machen
Nur dann wird der Konflikt zwischen wirtschaftlichen Interessen und selbstverständlichen Bedürfnissen der Berliner geheilt. Berlin kann das selbstbewusst angehen, weil die Zeiten, als man froh sein konnte über jeden Touristen, vorbei sind.
Auf der Tagesordnung steht nicht weniger als die touristische Neuerfindung der Stadt – weg von Schnäppchenjägern, die maximalen Spaß zum Nulltarif haben möchten. Weniger kann mehr sein. Manches ist schon auf dem Weg. Berlin ist eine der weltweit wichtigsten Kongressstädte, der Medizin-Tourismus wächst wegen exzellenter Kliniken, der Wissenschaftsstandort boomt und weltweit vernetzte Digital-Unternehmen wachsen hier in Berlin.
Je weiter zurück der Fall der Mauer und das Ende der Nazi-Diktatur liegen, umso dringender benötigt Berlin auch neue Konzepte, Geschichte erfahrbar zu machen. Ob es aber gelingt, die Besucher in die städtischen Randbezirke zu locken, ist nach der schwach besuchten Internationalen Gartenbauausstellung in Marzahn fraglich.
Viele neue Ideen für eine veränderte Klientel und eine stadtverträgliche Reisekultur sind gefragt. Vor allem aber muss das wichtigste Kapital, das die Stadt hat, mit einbezogen werden, um weiterhin die Stadt der Freiheit und der Toleranz zu bleiben: Ohne die Berliner, die diese Stadt lebenswert und attraktiv machen, muss jedes Konzept scheitern.