Grünen-Politiker kandidiert nicht erneut für Bundestag: Ströbele geht, die Revolution muss warten
Der Markenbotschafter des linksalternativen Kreuzbergs verabschiedet sich aus dem Bundestag. Den Weg der Grünen von der Protest- zur Regierungspartei hat er maßgeblich mitgeprägt.
Man kann sich Kreuzberg kaum vorstellen ohne ihn, den Markenbotschafter der Grünen und des linksalternativen Milieus, der in diesem Stadtteil längst zum festen Inventar auch der bürgerlich-liberalen Gesellschaft gehört. Dabei wohnt Hans-Christian-Ströbele nicht mal hier, sondern in Moabit, auch wegen der Nähe zum Bundestag. 2017 will er nicht mehr kandidieren. Seinen Rückzug erklärte er am Dienstag vor der Bezirksgruppe der Grünen. „Fünf weitere stressige Jahre sind mir einfach zu viel“, sagte der 77-Jährige vor seinen Parteifreunden. In den Ruhestand wolle er sich aber nicht verabschieden, betonte Ströbele: „Ihr werdet mich nicht los. Ich werde mich weiter politisch engagieren und arbeiten.“
Noch einmal sollte die Gallionsfigur der Linksalternativen in den Widerstand. Vor zwei Wochen äußerten Parteifreunde die Hoffnung, Ströbele könnte noch einmal in seinem Bundestagswahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost antreten, um zu verhindern, dass der AfD-Politiker Alexander Gauland, der gute Aussichten hat, im Herbst 2017 ein Mandat zu erlangen, Alterspräsident des nächsten Bundestags wird. Ströbele wäre zum Zeitpunkt der Wahl 78 Jahre und damit der älteste Abgeordnete gewesen. Nun könnte Gauland, der im kommenden Jahr 76 Jahre alt wird, Alterspräsident werden und damit die Eröffnungsrede im Parlament halten, falls nicht noch ein anderer, älterer Kandidat in den Bundestag gewählt wird.
Auch Ströbele hatte diese Aussicht Unbehagen bereitet. "Ich möchte das natürlich auch nicht, dass Herr Gauland dort einen großen Auftritt bekommt", hatte er vor zwei Wochen gesagt - und sich Bedenkzeit erbeten. Nach seinem Rückzug erklärte er, er wolle den nächsten Kandidaten in seinem Wahlkreis bei der Bundestagswahl 2017 nach Kräften unterstützen. "Ich werde alles dafür tun, dass wir das Direktmandat behalten." Ströbele ist bisher der einzige Bundestagsabgeordnete der Grünen, der für seine Partei ein Direktmandat gewinnen konnte. Viermal in Folge wurde Ströbele in seinem Wahlkreis direkt ins Parlament gewählt, beim letzten Mal holte er 2013 ein Ergebnis von 39,9 Prozent der Erststimmen. Schon damals gab es Zweifel, ob er die Legislaturperiode durchhält. Eine Krebserkrankung hatte ihn geschwächt. Sie ist mittlerweile überstanden, doch der Grünen-Politiker ist noch etwas hagerer geworden, als er ohnehin immer war.
Für die Grünen endet eine Ära
Mit dem Rückzug aus dem Bundestag endet für die Grünen eine Ära. Der Mann mit den schlohweißen Haaren und den buschigen Augenbrauen prägte den langen Weg der Bündnisgrünen von der linksalternativen Partei bis zur liberalen bürgerlichen Kraft, die inzwischen auch für die CDU ein Koalitionspartner geworden ist, maßgeblich mit. Ströbele, ein überzeugter Linker, begleitet die Annäherungen zur Union nach wie vor kritisch. Er weiß, wo er hingehört. In einem Interview sagte er vor wenigen Jahren: "Die Revolution, die ich wollte, haben wir leider nicht erreicht. Wir wollten die Räterepublik, nicht eine Demokratie, in der die Bürger nur alle vier Jahre gefragt werden." Sein Weggefährte und langjähriger Gegner, der ehemalige SPD-Innenminister Otto Schily nennt Ströbele heute einen "Altersradikalen", einen "Fundamentalisten mit aberwitzigen Positionen".
Ströbele blieb sich treu. 1937 in Halle an der Saale geboren, Abitur in Marl, Wehrdienst bei der Luftwaffe im ostfriesischen Aurich. Er studierte Jura, und durchlief alle Stationen des linken Widerstands gegen die Institutionen der Bundesrepublik, die sich in den Fünfziger- und Sechzigerjahren nur zäh vom Untertanengeist und den Verstrickungen der NS-Diktatur zu lösen vermochte. Als Rechtsreferendar begann er im Anwaltsbüro von Horst Mahler, mit dem er das Sozialistische Anwaltskollektiv begründete, das Aktivisten der 68er-Bewegung in zahlreichen Prozessen unterstütze. Ströbele war RAF-Anwalt, Mitbegründer der West-Berliner Alternativen Liste, einer der Keimzellen der Grünen, die er als Konstrukteur der ersten rot-grünen Koalition in Berlin regierungsfähig machte. Er gehörte zum engen Kreis der Begründer der linksalternativen "taz". Als Sprecher der Bundespartei half er bei der Vereinigung der Grünen mit dem ostdeutschen Bündnis 90.
"Ströbele wählen heißt Fischer quälen"
Vor allem aber bleibt Ströbele ein überzeugter Linker. 1990 trat er von seinem Sprecheramt in der Bundespartei nach Kontroversen um den Zweiten Golfkrieg zurück, wandte sich wieder der Berliner Bezirks- und Landespolitik zu. Auch nach seinem Wiedereinzug in den Bundestag 1998 hielt er an seiner kritischen Haltung zu internationalen Militäreinsätzen der Bundeswehr fest, beim Kosovo-Konflikt wird er zum parteiinternen Gegner von Außenminister Joschka Fischer. In den Bundestagswahlkampf 2002 zog Ströbele mit dem Slogan: "Ströbele wählen heißt Fischer quälen".
Und neben der parlamentarischen Arbeit, ob als Koordinator im Arbeitskreis Recht, Frauen, Familie, Senioren, Bildung, Jugend der Grünen-Fraktion oder im Untersuchungsausschuss zur BND-Affäre, fand Ströbele immer Zeit für Politik auf der Straße. Kaum eine Demonstration in Kreuzberg ohne Ströbele, vor allem am berüchtigten 1. Mai ist er Dauergast. Meistens kommt er mit dem Fahrrad, immer unterwegs zwischen den Fronten, im Gespräch mit Polizei und Demonstranten, um Ausgleich bemüht, um Gewalt zu vermeiden, ein Friedensbotschafter im Demo-Getümmel. Für Ströbele ist das Dienst am Grundgesetz, es geht ihm um den Schutz der Demonstrationsfreiheit vor Angriffen, egal von welcher Seite. Überhaupt ist ihm die Freiheit des Individuums ein Anliegen, auch bei seiner berühmten Forderung "Gebt das Hanf frei", mit der sich Ströbele, der Alkoholverächter, der nach eigener Aussage nie einen Joint inhalierte, 2009 auf der Kreuzberger Hanf-Parade für die Entkriminalisierung der Drogenpolitik stark machte.
68er, Pazifist, Bürgerrechtler, Dauerbeobachter von Polizei, Verfassungsschutz und BND in den Kontrollorganen des Bundestages. Mit Ströbele, dem akribischen Aktenleser und kritischen Fragesteller, wuchs mehr als eine Generation aus den linksalternativen Milieus in politische Ämter und verantwortliche Positionen in Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft hinein. Ehemalige Hausbesetzer, Straßenkämpfer, AKW-Blockierer, Öko-Aktivisten sind in Ströbeles politischem Windschatten Architekten, Anwälte, Minister, Intendanten geworden, die das liberale, weltoffene Gesicht der Bundesrepublik längst mitprägen.
Über Ströbele muss sich keiner mehr aufregen. Gemessen an der Revolution, die Ströbele wollte, kann man auch das als respektable Lebensleistung werten.