Wahl der Grundschule: Steht zu eurem Kiez!
Die normale Grundschule im eigenen Stadtteil kommt für Eltern oft nicht in Frage. Dieser Reflex hilft den Kindern wenig – und schadet der Stadt. Ein Plädoyer.
Es geht mal wieder die Verzweiflung um. „Und? Habt ihr euch schon entschieden?“ Das ist in jedem Herbst die meistgestellte Frage der Eltern auf den Spielplätzen der Stadt. Gemeint ist die Wahl der Grundschule, die das Kind ab dem kommenden Sommer besuchen soll. Der Stichtag Mitte Oktober ist für viele Familien eine folgenreiche Weichenstellung für die Zukunft des Kindes. Und für viele ist von vornherein klar: Die normale, staatliche Grundschule im eigenen Kiez kommt nicht infrage.
Waldorfpädagogik oder Montessori-Ansatz, eine gehobene Nachbarschaft, konfessionelle Bindung oder zumindest Englisch ab der ersten Klasse – es muss schon etwas Besonderes sein. In Tempelhof-Schöneberg gab es vor dem aktuellen Schuljahr 2271 Umschulungsanträge von Eltern – bei 2761 Plätzen für Erstklässler. Die Statistik zeigt: Berlins Eltern befinden sich im Schulwechselwahn.
Natürlich haben Berichte über marode Gebäude, Unterrichtsausfall und Fachkräftemangel viel Vertrauen gekostet. Man kann auch niemanden zwingen, sein Kind auf eine bestimmte Schule zu schicken. Wo aber die Kinder aus dem Kiez nicht gemeinsam zur Schule gehen, kann im Klassenzimmer keine Integration stattfinden. Der Ruf der Schule leidet, sie wird noch stärker gemieden und gerät in eine Abwärtsspirale, die nur sehr schwer zu durchbrechen ist.
Allein zur Schule gehen stiftet Selbstbewusstsein
Der Fluchtreflex ist aber längst nicht nur in Problemkiezen anzutreffen. Auch in meinem Charlottenburger Umfeld überbieten sich Eltern bei der Suche nach der vermeintlich perfekten Schule. Besonders beliebt ist es zurzeit, die Schulanfänger in den beschaulichen Eichkamp zu kutschieren. Die Grünen-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung stellte gerade den Antrag, der Bezirk möge dort „die Schulwegsicherheit erhöhen“. Die Begründung: „Die auf dem Gehweg rücksichtslos abgestellten Autos verhindern, dass Kinder, die zu Fuß zur Schule gehen oder Rad fahren, sicher zur Schule gelangen.“ Dazu nehmen die Chauffeur-Eltern auch noch ihren eigenen Kindern die Selbstbewusstsein stiftende Erfahrung, den Schulweg allein zu bestreiten.
Ich habe eine stinknormale Berliner Grundschule besucht, meine Tochter tut das ebenfalls – mit großer Freude. Für andere Eltern scheint aber nur noch das Siegel „privat“ Qualität zu versprechen. Dabei ist nicht erwiesen, dass Kinder an freien Schulen mehr lernen. Laut einer aktuellen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung gibt es nur „geringfügige Unterschiede zwischen den an privaten und öffentlichen Schulen erreichten Kompetenzen“. Und Forscher der Universität Bochum zeigten 2017, dass Englischunterricht ab der ersten Klasse ineffektiv ist, die Erfolge des fremdsprachlichen Frühbeginns seien „ein Mythos“.
Eine Frau aus unserer Straße erzählte mir neulich, ihr Sohn gehe jetzt auf eine Waldorfschule in Zehlendorf, der Weg sei gar kein Problem, „nur 30 Minuten“. In sechs Jahren Grundschule macht das rund 1100 Stunden in Auto oder BVG. Also gut eineinhalb Monate Kinderlebenszeit, die man mit Toben, Eisessen oder – wenn’s denn sein muss – Flötenunterricht verbringen könnte.