Wohnen in Berlin: Sozial Benachteiligte werden an den Stadtrand gedrängt
Ärmere Familien ziehen vermehrt aus teuren Innenstadtbezirken an die Peripherie. In den Großsiedlungen verschärfen sich die Probleme. Experten fordern eine entschlossenere Mietenpolitik.
Nie hätte der 13-jährige Kenan erwartet, dass seine Familie mal aus Kreuzberg wegzieht. Doch als die Aufforderung vom Jobcenter kam, innerhalb eines halben Jahres die Wohnkosten zu senken, gab es keinen anderen Ausweg. Plötzlich fand sich Kenan, der mit seinen zwei Geschwistern in der Nähe des Oranienplatzes aufgewachsen ist, am Rande Berlins wieder, in der Spandauer Großwohnsiedlung Falkenhagener Feld. Hier vermisst er nicht nur seine gewohnte Umgebung, die kleinen Lebensmittelläden und das Freizeitangebot Kreuzbergs, sondern vor allem seine Freunde. Die würden mit Bus und Bahn nun fast anderthalb Stunden brauchen, bis sie bei ihm seien. „Das haben sie ein paar Mal gemacht, dann blieben sie weg“, erzählt Kenan traurig. Petra Sperling vom Gemeinwesenverein Heerstraße Nord in Spandau sagt: „Wer aus finanziellen Gründen aus den Innenstadtbezirken an den Stadtrand ziehen muss, vermisst nicht nur das urbane Flair. Er fühlt sich oft regelrecht entwurzelt.“
Rund 330 000 sogenannte Bedarfsgemeinschaften, die Hartz IV beziehen, und rund 60 000 Bedarfsgemeinschaften, die Sozialhilfe erhalten, leben derzeit in Berlin. Rund 14 000 dieser Haushalte wurden 2011 nach Angaben des Berliner Mietervereins aufgefordert, ihre Wohnkosten zu senken. „Und das trotz stetig steigender Mieten“, kritisiert der Geschäftsführer des Vereins, Reiner Wild. Etwa 30 000 der Berliner Transferleistungsbezieher, ein Drittel mehr als noch 2010, würden die Differenz zwischen der vom Land Berlin als angemessen festgesetzten Bruttowarmmiete und den tatsächlichen Wohnkosten aus eigener Tasche bezahlen und so meist unter dem staatlich zugesicherten Existenzminimum leben müssen, sagt Wild. Wer das nicht leisten könne, müsse umziehen. Häufig aus den immer teureren Wohnungen in Kreuzberg, Friedrichshain und Mitte in bezahlbare Großwohnsiedlungen in Spandau, Hellersdorf oder Hohenschönhausen. Dort, wo nach dem neuen Schuldneratlas bereits besonders viele stark verschuldete Menschen leben, könnten sich so weitere „negative Quartierseffekte“ entwickeln. Denn wo der Zuzug der Armen das soziale Gleichgewicht ins Wanken bringt, wächst die Benachteiligung, sagen Soziologen. Nicht nur, weil unter anderem oft die Schulqualität und das Angebot an Sport- und Freizeiteinrichtungen leiden, sondern auch, weil unattraktive Problemquartiere allmählich aus dem stadtpolitischen Fokus geraten.
Rot-Schwarz plant keine Anhebung des Wohnkostenzuschusses
Am meisten empört Wild, dass die Richtwerte für angemessene Wohnkosten trotz der in den letzten zwei Jahren um die Rekordhöhe von acht Prozent gestiegenen Mietpreise und der höheren Energiekosten durch das Land Berlin seit sieben Jahren nicht angepasst wurden – einzige Ausnahme bildete 2009 eine Fünf-Prozent-Erhöhung für Einpersonen-Bedarfsgemeinschaften. Auch die Koalitionsvereinbarungen von SPD und CDU sehen keine Anhebung des Wohnkostenzuschusses vor. „Das ist ein politischer Skandal“, findet Wild. Würden die geltenden Richtwerte von 2004 an den aktuellen Mietspiegel für Wohnungen einfachen Standards angepasst, ergäbe sich für einen Einpersonenhaushalt ein Erhöhung um rund 70 Euro, für vier Personen auf 90 Quadratmeter gar um rund 120 Euro. Schon 2010 stellte der damalige Spandauer Finanzstadtrat Martin Matz (SPD) fest: „Es wird immer noch bestritten, dass es den Druck auf Niedrigverdienerhaushalte durch Gentrifizierung überhaupt gibt. Mittlerweile spüren wir aber, dass dieses Phänomen weitere sozial schwache Haushalte in die Großsiedlungen Spandaus treibt.“ Eine Verschärfung sozialer Probleme sei die Folge. Auch Jan Stöß (SPD), Stadtrat in Friedrichshain-Kreuzberg, sieht Indikatoren für Wanderungsbewegungen. So gibt sein Bezirk in den letzten beiden Haushaltsjahren deutlich weniger Geld für Hilfen zur Erziehung in schwereren Fällen, zum Beispiel für Heimaufenthalte, aus und mehr für psychotherapeutische Angebote, die besonders aus dem bildungsbürgerlichen Milieu nachgefragt werden. Und noch eine Beobachtung macht Stöß: „Spandau, aber auch Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg fordern vermehrt Akten von unserem Jugendamt an.“
Der Neubau von jährlich 6000 Wohnungen, den die rot-schwarze Koalition verspricht, wird nach Ansicht von Experten die zunehmende soziale Spaltung innerhalb Berlins nicht aufhalten, auf die auch inoffizielle Erhebungen der Agentur für Arbeit schließen lassen: So wurden im Zeitraum von Juli 2010 bis Juli 2011 in Lichtenberg rund 300, in Spandau 700 und in Reinickendorf 800 mehr Transferleistungsbezieher registriert. Im selben Zeitraum verzeichnet Pankow einen Rückgang von etwa 300 Bedarfsfällen, in Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg waren es sogar jeweils 800 weniger. „Das Hauptproblem in den beliebten Innenstadtbezirken ist der eklatante Mangel an bezahlbarem Wohnraum“, sagt Andrej Holm, Stadtsoziologe von der Humboldt-Uni. Dem könne vor allem durch eine Drosselung der Miete bei Neuverträgen abgeholfen werden. Derzeit liegt deren Anteil bei rund zehn Prozent pro Jahr, Mietpreisbegrenzungen gibt es dabei nicht. „Die Politik müsste in besonders betroffenen Innenstadtbezirken die wohnungspolitische Notsituation ausrufen“, fordert Holm. Nur so könne der Mietenanstieg begrenzt und der „wachsenden Peripherisierung“ Einhalt geboten werden.