Coronavirus in Neustadt/Dosse: So lebt es sich in Quarantäne
Was passiert mit einer Stadt, in der Dreiviertel der Einwohner nicht mehr das Haus verlassen dürfen? Unsere Autorin berichtet aus Neustadt/Dosse.
Wir hatten am Wochenende Besuch, das Toast-Brot ist alle. Und nun? Unter normalen Umständen gehe ich in den Supermarkt und kaufe neues. Aber was ist gerade schon normal?
Meine Familie und ich wohnen in Neustadt/Dosse (Ostprignitz-Ruppin) und sind in häuslicher Quarantäne bis 17. März. Nein, keiner kontrolliert, die Kapazitäten gibt es gar nicht, aber es wurde uns ans Herz gelegt, das Haus nicht zu verlassen.
Bis zum Wochenende war das Coronavirus gefühlt weit weg für mich, keiner in meinem unmittelbaren Umfeld war betroffen. Mit einer Nachricht über den Klassenchat meines großen Sohnes auf Whatsapp am Sonntagmorgen änderte sich alles schlagartig. Eine Mutter schickte die Info, dass unsere Prinz-von-Homburg-Schule bis 13. März geschlossen sei. Von Corona keine Rede, der Buschfunk trommelte es aber.
Ach nö, dachte ich im ersten Moment noch ziemlich genervt. Wie sollten mein Mann und ich nach Berlin zur Arbeit oder aber ich von zuhause aus schreiben, wenn das große Kind nicht zur Schule gehen kann? Stunde um Stunde kamen weitere News über die Lokalpresse und Facebook, während ich mich auf einem Geburtstag vor den Toren Berlins befand.
Schließlich war klar, nicht nur die 730 Schüler der Neustädter Prinz-von-Homburg-Schule, sondern das ganze Umfeld soll bis 17. März in Quarantäne: Lehrer, Erzieher, deren Familien und der der Schüler. Diese kommen aus der Umgebung und dem gesamten Bundesgebiet.
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Als einzige Schule Deutschlands bietet die Neustädter Schule Reiten als Unterrichtsfach an, lernen in der Schule, reiten im Brandenburgischen Haupt- und Landgestüt.
Kontaktpersonen konnten nur schwer ermittelt werden
Am 02. März 2020 hatten 18 Personen, darunter Mitarbeitende des Gestüts, einzelne Lehrer der Schule und Amtsmitarbeiter, bei einer mehrstündigen Beratung Kontakt zu einer Berlinerin, die auf Covid-19 positiv getestet wurde. Erst am Samstag, 07. März 2020, also fünf Tage danach, wurde die Erkrankung bekannt.
Da konnten Kontaktpersonen nur schwer nachvollzogen werden. Daher die umfangreichen Vorsichtsmaßnahmen für insgesamt 2250 Personen. 3645 Einwohner hat Neustadt/Dosse. Schule, Gesundheitsamt informiert auf ihren Internetseiten über die Massenquarantäne, die lokale Presse verfolgt es, die sozialen Medien streuen.
Wieder reingekommen nach Neustadt bin ich Sonntag nach der Geburtstagsfeier. Es gab keine Straßenkontrollen oder ähnliches. „Wir sind keine Sperrzone“, erklärt mir Jasmin Zumwinkel am Telefon, die als einzige in der Amtsverwaltung die Stellung hält, nachdem sich alle anderen Kollegen auch in häuslicher Quarantäne befinden. Sie selbst war letzte Woche nicht im Dienst. „Die Quarantäne wird empfohlen, es ist keine Pflicht, aber hat alles seinen Grund, wenn es angeordnet wurde.“
Lebensmittel werden knapp
Plötzlich steht man also da, zwei Kinder zuhause, und kein Toastbrot da. Für die nächsten zehn Tage sollen wir nicht das Haus verlassen.
So viel Vorräte hat doch kein Mensch gehortet? Ich jedenfalls nicht. Dritte können einkaufen, die Tüten vor die Tür stellen. Bekannte, die nicht betroffen sind, bieten ihre Hilfe an. Unser Edeka-Markt im Ort reagiert und richtet kurzerhand einen Lieferservice ein.
„Nur direkten Kontakt darf man nicht haben“, erklärt auch Neustadts ehrenamtlicher Bürgermeister Karl Tedsen mir am Telefon, der sich selbst die Isolation auferlegt hat, da er regelmäßig Kontakt zu den Mitarbeitern im Amt hat. „Wir nehmen die Sache ernst. Zuhause sind wir ausgestattet. Mein Frau hat mitgedacht.“
Er nutzt die Zeit für Aufräumaktionen. „Und in den Wald darf ich auch gehen. Dorthin, wo ich keinem Menschen begegne.“ Ja, wenn das so einfach für alle wäre. Aber in meinem Fall als Selbständige arbeitet man eben selbst und ständig. Für mich ist das weniger eine Auszeit, und schon gar kein Urlaub (ja, ja, die Kommentare kamen auch).
In einem solchen kann man sich frei bewegen, mit Freundinnen treffen und nicht jeder für sich in seinen eigenen vier Wänden hocken – und muss nicht neben der Kinderbespaßung arbeiten. Interviewtermine kann ich diese Woche vergessen, Recherchereisen stehen zum Glück erst in Wochen an. Dennoch warten Texte wie dieser darauf, geschrieben zu werden.
„Ich würde lieber in die Schule gehen“
Gerade tanzt der Kleine nebenan ausgelassen zu lauter Musik, der Große spielt auf seinem Nintendo. Der Konsum ist bestimmt höher als sonst, aber ich lasse ihn und gebe ihm zur Abwechslung Lernübungen. Der Schulstoff fehlt ja und es sind keine Ferien.
„Ich würde lieber in die Schule gehen“, mault der Große schon am Montag. Aus gutem Grund. Er hat Geburtstag. Unter Quarantäne neun Jahre alt zu werden und seine Freunde nicht sehen zu dürfen, weil jeder jeden anstecken könnte, ist doof, da gab ich ihm recht.
Gleichzeitig bin ich auch etwas angesäuert, denn die Hengstpräsentation im Gestüt hat trotz allem am Wochenende stattgefunden. Aus dem gesamten Bundesgebiet kamen die Gäste. Das ging noch, aber die Schule wird kurz darauf geschlossen?
Nachdem der Geburtstagskuchen vertilgt wurde (er ist üppig vorhanden, da ja die Klasse nicht mitversorgt werden konnte), verziehen sich die Kinder mit den ausgepackten Geschenken ins Zimmer. Ich kann ein paar Sätze schreiben und zehn Worte am Telefon sagen.
Eine Freundin ruft an. Ihre zwei Teenagertöchter waren einkaufen, weil die Familie nach dem Wochenende Frischwaren brauchte. Die Kassiererin fragte, wieso sie hier seien und nicht zuhause? Gut, dass Edeka nun einen Lieferservice eingerichtet hat.
Die Mutter eines Freundes meines Großen wiederum erzählte mir am Hörer, dass ihrem Sohn langweilig sei und er nachfrage, ob er sich verabreden könne. Nein, ginge leider nicht, auch ihre Antwort.
Sie selber ist Ärztin und darf ihre Praxis weiterhin betreiben. „Ich muss täglich einen Test machen. Bevor ich die Praxis betrete, gehe ich runter ins Labor und mache einen Abstrich.“
Jeder könnte jeden angesteckt haben
Immer wieder denke ich, was für ein Irrsinn, weder die Mutter noch ich kennen die infizierte Berlinerin. Aber wir sind alle mit betroffen, da sie mit vielen aus unserem Städtchen am Tisch saßen. Jeder könnte demnach jeden angesteckt haben, weil es zu lange nicht bekannt war. Dabei hatte ich befürchtet, ich hole mir was im Regio auf der Fahrt rein nach Berlin weg. Nein, mitten auf dem Land holt mich das Coronavirus ein, vor der eigenen Haustür.
Am Dienstag sollten die Testergebnisse von den möglichen infizierten Personen vorliegen. „Es gibt noch nichts“, sagt Eylin Roß von der Pressestelle des Landkreises Ostprignitz-Ruppin auf telefonische Nachfrage. „Wir laden morgen 12 Uhr zum Pressegespräch ein.“
Da werde ich nicht hinkommen können, ich darf ja nicht aus dem Haus. „Stimmt“, schlussfolgert auch Roß und gibt zu bedenken, dass selbst dann nicht sicher sei, dass weitere Informationen vorlägen.
Hier berichten wir aktuell über die Ausbreitung des Coronavirus:
- Informationen über die Auswirkungen in Berlin in unserem Newsblog.
- Alles zur weltweiten Lage lesen Sie hier.
- Coronavirus-FAQ: 66 wichtige Fragen und Antworten zu SARS-CoV-2.
- Was tun bei Coronavirus-Verdacht? Hier bekommen Berliner mit Covid-19-Symptomen Hilfe.
- Infizierte, Anlaufstellen, Hotlines: Das ist der aktuelle Stand in Berlin.
Bisher weist keiner der möglichen Infizierten Symptome einer Covid-19-Erkrankung auf. Es gibt auch keine bestätigte Folgeinfektion, teilt das Gesundheitsamt des Landkreises Ostprignitz-Ruppin mit. Allen Menschen in Isolation gehe es gut.
Doch selbst wenn die Ergebnisse negativ seien, würde die Quarantäne nicht aufgehoben werden. „Das muss man den Menschen deutlich machen. Die Inkubationszeit bei diesem Virus sind 14 Tage.“ Diese enden nächste Woche Dienstag. „Dem Gesundheitsamt des Landkreises obliegen die Entscheidungen, vollziehendes Organ ist der Amtsarzt“, so Neustadts Bürgermeister Karl Tedsen.
Gibt es eigentlich eine Anlaufstelle in Neustadt, wo ich mich melde, wenn ich Symptome aufweise? Jasmin Zumwinkel verneint und meint zudem: „Die Hausärzte nehmen keinen Patienten derzeit in Empfang. Sie sind für die nächsten vier Wochen angehalten, alles telefonisch zu regeln, auch wenn jemand ein Attest braucht.“ Zudem hilft das Gesundheitsamt weiter.
Was ist, wenn sich jemand mit dem Coronavirus angesteckt hat, frage ich Karl Tedsen? „Dann bleibt dieser in Quarantäne. Für alle anderen ist sie nächsten Dienstag aufgehoben, dann endet die Inkubationszeit.“
Während ich telefoniere, vergeht der Tag und der Blick aus dem Fenster ist nicht viel anders als sonst. Morgens hielt der Bäckerswagen. Nur wenige Menschen eilen zum mobilen Stand, um Brot und Brötchen zu kaufen. Natürlich fehlen die Kinder auf ihren Räder, die morgens zur Schule fahren.
Vor dem Blumenladen gegenüber halten viel weniger Autos als sonst. Normalerweise ist das ein Kommen und Gehen. Überwiegend ältere Menschen sehe ich. Klar, die Jüngeren sind zuhause, haben vermutlich Kinder im Schulalter.
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Das spiegelt auch die Berichterstattung in den Medien wieder. Bei Ordnungsamtsmitarbeiterin Jasmin Zumwinkel laufen die Telefone heiß. 25 Pressestellen riefen allein am Montag an. Schnell ist Neustadt/Dosse deutschlandweit zum Gesprächsthema geworden. Leider kurbelt das Corona-Massenquarantäne-Phänomen nicht gerade den Tourismus an. Dabei gibt es hier soviel zu sehen, nicht nur die historische Gestütsanlagen.
Nachfragen von Bekannten und Freunden aus ganz Deutschland trudeln bei mir ein. „Ihr seid aber nicht betroffen, oder?“ Na klar. Wenn Neustadt nur 3.438 Einwohner und eine Gesamtschule mit integrierter Grundschule hat und wir Kinder im entsprechenden Alter, dann werden wir wohl in den elitären Kreis der isolierten Menschen gehören.
Wann ist der Spuk vorbei?
Mir macht die ganze Entwicklung gerade etwas Angst. Nicht nur persönlich, weil ich trotz vieler Fachartikel nicht einschätzen kann, wie gesundheitsgefährdend das Virus wirklich für ein jeden ist, sondern auch beruflich. Da ich mein Einkommen zu einem großen Teil auch als Reisejournalistin verdinge, grenzt die Corona-Epidemie die Themenvielfalt und Nachfrage stark ein.
Wirtschaftlich zeichnet sich fürs ganze Land ein Schaden ab. Wann ist der Spuk vorbei? Einen Tag x gibt es nicht. Im Moment hoffe ich einfach, dass zur Massen-Quarantäne in Neustadt, keine Massenhysterie kommt.
Bisher zeigen sich die Bürger besonnen, wird mir von allen Stellen versichert. Das einzig Positive an der Isolation im eigenen Haus? Nicht um sechs Uhr morgens aufstehen. Die Schule des Großen beginnt halb acht. Gerade aber kann ich ausschlafen. Ein wenig wie Urlaub. Wenn genügend Toast zum Frühstück da ist.
Anja Reinbothe