Trendsportarten in Berlin: Slackline, Jugger, Parkour, Bouldern und Bootcamp
In Parks und auf Brachen entstehen neue Sportszenen, der Senat fördert den athletischen Wildwuchs, die etablierten Vereine profitieren. Fünf urbane Disziplinen im Porträt – und eine Theorieeinheit.
Gymnastikgruppe hätte man sie früher genannt, die sieben Sportler, alle um die 30. Aber sie wirken so cool, dass sie eher einen Namen wie Urban Athletes verdient hätten, mit der mitgebrachten Clubmusik, mit ihren bunten Klamotten aus teurer Kunstfaser. Sie machen Sport im Kreis, jeder etwas anderes, einer mit Gymnastikband am Fuß, eine mit Hantel in der Hand. Nur ein paar Meter weiter bewegt sich etwas anderes, Basketbälle fliegen auf einen Korb. Wieder etwas weiter stehen ältere Athleten an Geräten, um ihre Bauch- und Rückenmuskeln zu stärken. Mittendurch rauschen Longboards und BMX-Räder. Und obendrüber fängt die U 1 an zu bremsen für den Bahnhof Gleisdreieck. Willkommen an einem der offensten Sportplätze der Stadt.
Es gibt einige Orte wie diese, an denen Berlin zum Fitnessstudio geworden ist. Unter freiem Himmel. Manchmal auch mit freien Oberkörpern. Der Park am Gleisdreieck ist so ein Fitnessstudio. Ohne Eintritt. Mit viel Ausblick. Ein anderes ist das Tempelhofer Feld, noch größer, mit Möglichkeiten, sich von einem Drachen auf einem Longboard über die ehemaligen Fahrwege der Flugzeuge ziehen zu lassen. Frisbees können hier jetzt zu Langstreckenflügen abheben.
Der Sport wird immer sichtbarer in der Stadt. Das liegt zum einen daran, dass neue Grünflächen dazugekommen sind. Kaum ist ein neuer Park entstanden, sind schon die Sportler da, manchmal schneller als die Picknicker. Aber auch der Sport ist in Bewegung. Früher waren es meist Jungs und junge Männer mit ausrasierten Nacken, die über genormte Plätze rannten und nach strengen Regeln darum wetteiferten, ihre Leistungen stetig zu verbessern. Das hat sich längst geändert. „Es sind immer breitere Bevölkerungsgruppen aus anderen Motiven sportlich aktiv“, sagt Sebastian Braun, Professor für Sportsoziologie an der HU Berlin. Kleinkinder, Mädchen, Frauen, Berufstätige und Rentner laufen nicht nur mit, sondern auch in andere Richtungen. Es geht weniger um Wettkampf und mehr um Spaß an der Bewegung, auch das Gesundheitsbewusstsein ist gestiegen.
Die Gesellschaft individualisiert sich - und mit ihr der Sport
Aber Sport ist noch mehr, er drückt ein Lebensgefühl aus, das sich bis in Kleidung und Sprache fortsetzt. Mancher Trend wird dabei auch von der Sportartikelindustrie getrieben. Die Gesellschaft hat sich individualisiert, jeder sucht sich das passende Angebot heraus. Gerade in Berlin ist es riesig.
Als der Senat 2008 nach dem Sportverhalten der Bevölkerung fragte, gaben zwei Drittel an, privat Sport zu treiben, es folgten die Fitnessstudios mit 15 Prozent und die Vereine mit 12 Prozent. Unter den Ungebundenen bilden Klassiker wie Joggen, Radfahren und Schwimmen die Masse. Aber Berlin ist auch beim Sport ein Versuchslabor, in Parks und auf Freiflächen entstehen neue Szenen. Es ist manchmal nur eine kleine Avantgarde, vieles verläuft sich wieder, aber es sticht Passanten sofort ins Auge, wenn Athleten Treppen, Wände und Asphalt zum Fitnessgerät machen, Parkour nennt man das dann.
Auffallen ist dabei durchaus gewollt. Sport im öffentlichen Raum ist in Deutschland längst akzeptiert, niemand würde mehr einen Jogger auf der Friedrichstraße höhnisch mit Klatschen und „Hepp, hepp“-Rufen anfeuern. Aber ganz ohne Bewertung geht es eben auch nicht. Wer spektakuläre Tricks im Park vollführt, für den sind die Passanten die Punktrichter. „Der Körper wird zunehmend als Ausdruck erfolgreicher Lebensführung betrachtet“, sagt Sportsoziologe Braun. Gut auszusehen beim Sport und durch Sport scheint mittlerweile ebenso wichtig wie der Sport selbst. Viele wollen den eigenen Körper auch einfach spüren nach langem Sitzen am Schreibtisch. Die immer unregelmäßigeren Arbeitszeiten, vor allem in Großstädten, verlangen dabei Flexibilität. Wer Karriere, Kindern und Körper gerecht werden will, muss auch spontan frühmorgens, spätabends oder kurz in der Mittagspause trainieren können. Das ermöglichen in Berlin die vielen Parks, und der sonnige Sommer war ein guter Mitspieler.
Speedminton wurde in Berlin erfunden
Doch im Freien fehlen oft Versicherungsschutz und Anleitung durch Trainer, das Verletzungsrisiko steigt. Auch darum bleiben Fitnessstudios und Vereine wichtig. „Das sind unterschiedliche Angebote“, sagt Braun. Wer im Park mit dem Streetkite in die Lüfte steigt, kann trotzdem Mitglied im Fußballklub sein. Die Mitgliedszahlen von Vereinen und Studios steigen seit Jahren konstant. In Berlin kamen im vergangenen Jahr gut 12 000 Vereinsmitglieder dazu, ein Drittel davon Jugendliche. Inzwischen kommen die Berliner Vereine auf 620 000 Mitgliedschaften.
Obwohl dem Sportverein ein antiquiertes Image anhängt, „bleibt er als flexible Organisationsform sehr modern“, sagt Braun. Ohne großen Aufwand kommen lose Sporttreffs an eine feste Infrastruktur. Neue Sportarten wie Speedminton oder Ultimate Frisbee gründen Vereine oder schließen sich bestehenden an, Facebook ersetzt dabei den Rundbrief. Speedminton – in Berlin erfunden – richtet an diesem Wochenende sogar seine WM auf dem Olympiagelände aus.
Dabei müssen Vereine nicht auf Trendsportarten setzen, um Mitglieder zu werben oder zu halten. „Es gibt keine Patentrezepte“, sagt Braun. Wichtig sei zu wissen, was das Umfeld, der eigene Kiez verlangt. Für Zugezogene etwa kann ein Verein auch eine soziale Funktion haben und helfen, Anschluss zu finden. An Mitgliedern fehlt es weniger, gesucht sind eher Zeit- und Wissensspenden durch Ehrenamtliche, auf die die Vereine angewiesen sind.
Die Senatsverwaltung ist gerade dabei, ihr Bild vom Sport zu erweitern und will jetzt ein Parksportkonzept erarbeiten, auch um die Sportler und ihren Bewegungsdrang zu schützen, falls es mal zu Interessenkonflikten käme mit Anwohnern, Grillern oder anderen. Außerdem gibt es in der wachsenden Stadt Flächendruck, überall wird gebaut, um die Preise fürs Wohnen nicht weiter steigen zu lassen.
Aber es gibt noch einen anderen Grund für den sportlichen Aufbruch des Senats. Das große Wettkampfziel ist gerade weggebrochen. Um Olympische Spiele darf sich jetzt Hamburg bewerben. Also kann etwas Neues her – vielleicht ist es ja der Weltmeistertitel des Basissports. Das Besondere an einem solchen Titel ist, dass man ihn bestimmt nicht gewinnt, wenn man sich besonders darum bemüht. Berlins neue Sportwelt lebt vom Offenen.
Jugger - das apokalyptische Knüppel-Spiel
Für wen: Rollenspieler, Metal-Fans, World-of-Warcraft-Zocker, Kämpfernaturen
Trainingseffekt: Spaß, Aggressionsabbau, Gruppengefühl, Koordination
Kosten: 20–40 Euro für die Ausrüstung
Wo und wann: Tempelhofer Feld (Fr 17.30 Uhr und So 14.30 Uhr); TiB-Stadion, Columbiadamm 111 (Mi 17.45 Uhr, Fr 16.30 Uhr und So 13.45 Uhr); Volkspark Friedrichshain (hier wird kein Jugger, sondern Olfball gespielt, eine Art Touch-Rugby, das Bestandteil des Jugger-Trainings ist, Mi 16 Uhr)
Infos: tib1848ev.de/sportarten/jugger und jugger-berlin.de
Das Mädchen zupft an der Hose des Vaters, schaut auf die Wiese am Tempelhofer Feld, in ihrem Blick mischen sich Angst und Faszination. „Papa, was machen die da?“, fragt sie.
Ja, was machen die da eigentlich? Eine junge Frau im grünen Trikot mit der Aufschrift „Zonenkinder“ schlägt gerade mit einem Knüppel auf einen jungen Mann mit Hogwarts-T-Shirt ein. Der Vater führt seine Tochter zu einem Schild und liest: „Jugger – der Sport mit Pompfen und Jugg“. Während Vater und Tochter noch unschlüssig herumstehen und vom Sommerbad Neukölln knarzende Lautsprecherdurchsagen herüberwehen, kommen die gut ein Dutzend Jugger zusammen, legen ihre Pompfen zur Seite und machen sich erst einmal warm.
Das sieht nicht anders aus als etwa beim Fußball. Im Kreis laufen, Sidesteps, leichtes Dehnen. Ansonsten aber ist alles anders bei diesem Sport. Das beginnt schon mit seiner Geschichte. Jugger geht zurück auf den australischen Film „The Blood of Heroes“ von 1989. Die Geschichte des Films geht in etwa so: In einer postapokalyptischen Welt, die ein wenig an „Mad Max“ erinnert, haben sich im Zuge eines Atomkriegs karge Landschaften und raue Sitten durchgesetzt. Jugger sind Gladiatoren, die von Dorf zu Dorf ziehen, Städte gibt es nicht mehr, und „das Spiel“ spielen. „Das Spiel“ ist eine Art Rugby, das in leicht abgewandelter Form (keine Toten!) hier auf dem Tempelhofer Feld gespielt wird – und unter dem Namen Jugger bekannt ist.
Die Regeln sind fast wie im Film - nur umgebracht wird niemand
Und das geht so: Je vier Spieler stellen sich auf beiden Seiten des etwa 40 mal 20 Meter großen Spielfelds auf – mit „Pompfen“ in der Hand, gepolsterten Schlägern, die wie überdimensionierte Wattestäbchen oder Morgensterne aus Schaumstoff aussehen. Hinter den zwei Pompfergruppen steht jeweils ein Läufer. Im Chor rufen die Spieler „Drei, zwei, eins, Jugg!“ und rennen aufeinander zu. Gleichzeitig ertönt eine Trommel, mit der die Zeit gemessen wird. Ein Spiel dauert 200 Trommelschläge, jeder Trommelschlag zwei Sekunden. Gewonnen hat das Team, dessen Läufer den Spielball (genannt „Jugg“, im Film ein Hundeschädel) häufiger ins Tor (genannt „Mal“) bringt.
Wer glaubt, dass es sich dabei um ein völlig neues Spiel handelt, irrt. Der Jugger e.V. Berlin besteht seit 17 Jahren und ist weltweit einer der Vorreiter der Sportart. Anfang der 1990er Jahre trafen sich die Jugger noch im Mauerpark, später im Volkspark Friedrichshain. Als es vor einigen Jahren darum ging, wie das Tempelhofer Feld neu genutzt werden sollte, schickten auch die Jugger eine Bewerbung – und bekamen den Zuschlag.
Der Nerd-Anteil unter den Spielern sei hoch, sagt einer aus dem Team „Grünanlagen Guerillas“. Am Spielfeldrand steht Dirk Tafelski, 29, studierter Maschinenbauer und Vorstandsvorsitzender des Vereins. „Es ist ein Spiel für Individualisten, die einen Sport abseits des Mainstreams suchen“, sagt er, während sich neben ihm gerade die Kette eines Spielers in der Pompfe eines anderen verhakt. Einige aus der Szene haben in ihrer Kindheit Rollenspiele gespielt. Andere kommen vom sogenannten LARP, dem „Live Action Role Play“, bei dem Genreklassiker wie „Das Schwarze Auge“ im Freien nachgespielt werden.
„Die wirklichen Kellerkinder-Nerds sind aber schnell wieder weg“, sagt Dirk. Der Sport ist anstrengend, schnell, taktisch anspruchsvoll. Die Jugger erinnern an Heavy-Metal-Fans: martialisches Auftreten, weicher Kern. Wieder ertönt der Ruf „Drei, zwei, eins, Jugg!“, dazu der Trommelrhythmus. Das kleine Mädchen zieht jetzt bestimmter an der Hose des Vaters. Der aber will noch nicht weg. „Papa, komm“, sagt die Kleine. Nur schwer kann Papa sich lösen.
Bootcamp - der friedliche Armeedrill
Für wen: Büromenschen und Fitnessfreaks
Trainingseffekt: Kraft, Ausdauer, Disziplin, Körperspannung
Kosten: Training ab 10 €, bei manchen Anbietern auch Zehner- und Monatskarten
Wo: Tiergarten (fitness-bootcamp-berlin.de); Alt-Stralau, Friedrichshain, Tempelhof, Tiergarten (myfitnessclub.de); Neukölln, Mitte, Kreuzberg (original-bootcamp.com)
Am Eingang zum Tiergarten reiten zwei Polizisten auf Pferden über den Kiesweg, auf der anderen Straßenseite zieht ein Wachmann vor dem Schloss Bellevue seine Runden. Uwe fällt dazu ein Witz ein: „Woran erkennt man, dass der Bundespräsident zu Hause ist?“ Einer dieser Fragewitze, niemand antwortet.
Uwe, Typ erfahrener Witzeerzähler, kurze Kunstpause: „Wenn der Lappen draußen hängt, sind die Lumpen drin.“
Uwe ist einer von zwölf Berlinern, die sich an diesem Mittwochabend auf der Wiese im Tiergarten gegenüber vom Schloss Bellevue zu einem Sport eingefunden haben, der nicht halb so martialisch ist, wie es sein Name suggeriert: Bootcamp.
Dass keine fiese militärische Strenge aufkommt, liegt auch am Trainer. Harald Klotz, 41, hat mal bei Daimler gearbeitet, seit vier Jahren scheucht er professionell Leute durch Parks. Mit Shorts, Stoppuhr und Zahnpasta-Lächeln sieht er aus wie der Personal Coach aus dem Baukasten.
Harald hat zwölf verschiedene Stationen aufgebaut, 90 Minuten Zirkeltraining stehen auf dem Programm. Die Gruppenmitglieder, zehn Frauen, zwei Männer, kennen sich mitunter seit Jahren. Gemeinsam schwitzen schweißt zusammen.
Nicole, 39, Ingenieurin für Luft- und Raumfahrttechnik, kein Gramm Fett am Körper, sagt: „Ich habe nicht viel Freizeit und treffe mich nach der Arbeit lieber hier im Park zum Sport als in der Kneipe zum Bier.“
Die Stationen sind im Kreis angeordnet, so sammeln sich die Blicke der Teilnehmer in der Mitte, wo Harald, Klemmbrett in der Hand, Stoppuhr um den Hals, anfeuert, korrigiert, aufmuntert. Etwa, wenn eine Teilnehmerin Probleme hat, die Beine in das Band einzufädeln, das von einem Baum herabhängt. Als sie es gemeinsam geschafft haben, ihre Füße in den Schlaufen zu platzieren, hält eine Radfahrerin an. „Benutzt ihr einen Rindenschutz?“ Sie lächelt, doch es scheint ihr ernst. Harald versteht nicht. Rindenschutz? Die Frau radelt weiter. „In der Regel kriegen wir positives Feedback von den Leuten um uns herum“, sagt er. Einen Rindenschutz brauche man übrigens nicht, dem Baum passiere nichts.
Eine Passantin fragt: "Benutzt ihr einen Rindenschutz?"
Genau eine Minute lang verausgaben sich die Teilnehmer an jeder Station. Dann geht es ohne Pause zur nächsten. Im Uhrzeigersinn. Eigentlich. Doch das stiftet Verwirrung – die fast geplant erscheint. Die Bootcamper kommen so ins Reden, tauschen sich aus, geben einander Tipps. Eine Übung, die allen schwerfällt: Ein Tau ist um den niedrigen Begrenzungszaun zwischen Wiese und Kiesweg geschlungen, beide Enden liegen in der Hand des Bootcampers. Der geht in die Hocke und schwingt das Tau, so wie man mit Drumsticks auf eine Trommel schlagen würde. Immer abwechselnd, links, rechts. Beeindruckend gut beherrscht wird: Seilspringen. Außerdem im Programm: Liegestütze, eine Art Kniebeugen mit Gewichten und ein kleiner Hindernisparcours wie beim Springreiten.
Eine Runde ist zu Ende, wenn jeder die zwölf Stationen hinter sich gebracht hat. Dann eine kurze Pause – und weiter mit Runde zwei, bei der die Übungen leicht variiert werden. Heute stehen drei Runden an. Am Ende stehen alle im Kreis, dehnen sich, schütten Glückshormone aus und quatschen noch ein bisschen.
Marlen, 33, und ebenfalls seit ein paar Jahren fest dabei, findet, dass gerade der Tiergarten ein guter Ort ist, um im Freien Sport zu machen. „Man hat das Gefühl, jeder ist in Bewegung.“ Sport unter Gleichgesinnten. Im Görlitzer Park würde sie das eher nicht machen, sagt sie.
Harald sammelt die Markierungshütchen ein, die Bälle und Seile, verteilt Lob, klopft auf Schultern. Allmählich ist es dunkel geworden im Tiergarten, das Schloss als leuchtender Fixpunkt auf dem Nachhauseweg, der Wachmann zieht noch immer seine Runden. Und auch Joachim Gauck ist noch zu Hause: Der Lappen hängt draußen.
Parkour - die Herausforderung für urbane Akrobaten
Für wen: Urbane Akrobaten
Trainingseffekt: Wendigkeit und Wagemut
Kosten: Umsonst, Training ab 10 €
Wo und wann: Bernburger Treppe am Potsdamer Platz, jeden zweiten Sonntag um 13 Uhr Teamtraining (nächster Termin: 13.9.), kostenlos und ohne Anmeldung. Näheres unter parkourone.com.
Infos: free1germany.de und doparkour.de
Ein schwarzer Golf, Fahrschulauto, macht eine Vollbremsung. Von 50 auf null in nur einem Augenaufschlag. Fahrlehrer und Schüler schauen aus der Windschutzscheibe nach oben, gut sechs Meter in die Höhe. An einer Wand, die zum Grundstück des Velodrom im Prenzlauer Berg gehört, hängt Ben Scheffler, 28, Körperhaltung in einer Mischung aus Katze und Spiderman.
Es dauert ein paar Sekunden, bis der perplexe Fahrschüler weiterfährt. Als das Auto um die Ecke gebogen ist, schwingt sich Ben nach oben, zurück auf den oben gelegenen Parkplatz, klettert an der nächsten Wand hoch und springt gut einen Meter weit auf den nächsten Mauervorsprung. Die Kleidung, die er dabei trägt, weite Jogginghose, Shirt und Sportschuhe, ist alles andere als hip.
Was Ben macht, heißt Parkour. Für ihn ist der Sport ein Lebensinhalt geworden. Er hat ihn zum Beruf gemacht, zusammen mit einem Schulfreund bietet er mit der Firma „ParkourONE“ Training an und demonstriert den Sport in Musik- und Werbevideos. „Hört sich geil an“, sagt Ben. „Nur hat man dann kein Hobby mehr.“
Mit 18 Jahren entdeckte Ben Parkour im Internet. Schnell stieß er dabei auf zwei Namen: Raymond und David Belle. Raymond kämpfte im Indochinakrieg 1954. Dabei trainierte er eine möglichst effiziente Fluchttechnik, die von ihm und später von seinem Sohn David als Parkour bekannt gemacht wurde. Für Ben ist der Kern des Sports „die Kunst der effizienten Fortbewegung.“ Als 18-Jähriger verbrachte Ben den Tag vorm Computer. „Ich war hart computerspielsüchtig“ – bis Parkour in sein Leben trat. Seine neue, weitaus gesündere Sucht.
Es gibt kein Gegeneinander, sagen die Parkour-Sportler
Was Ben gleich an diesem Sport gefiel: Es gibt kein Gegeneinander. Ben hat das Parkour-Wertesystem zu seinem eigenen gemacht: Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Konkurrenzfreiheit. „In einer Zeit, in der jeder immer Erster werden will, mache ich mich davon frei.“
Sein Blick auf die Umgebung hat sich verändert. Ben sieht nicht einfach eine Mauer und ein Geländer. Er sieht eine Sprungmöglichkeit. Die Stadt wird für Ben zum Spielplatz. „Durch Parkour kann man noch mal krass Kind sein“, sagt er. Er beobachtet es bei seiner dreijährigen Tochter. Wenn sie auf die Rutsche klettert oder auf einen Baum, ist das gar nicht so weit weg von dem, was ihr Vater macht.
Manchmal gibt es Probleme mit Anwohnern, die Vandalismus befürchten. Nach kurzem Gespräch aber sind die meisten besänftigt. Mehr noch, ein paar der Alten fassen sich an die müden Knochen und bedauern, dass sie so etwas nicht auch noch machen können.
Das Schöne an Parkour: Es ist alltagsfähig. Droht Ben die Bahn zu verpassen, nimmt er ein paar Abkürzungen. Als er neulich seinen Schlüssel in der Wohnung vergessen hatte, kletterte er an der Fassade hoch und stieg durchs Fenster ein. Und seine Großeltern können sich die Kosten für die Reinigung der Regenrinnen auf ihrem Spitzdach sparen. Das macht jetzt Ben, der Traceur – so nennen sich Menschen, die Parkour betreiben.
Wenn Ben von seinem Sport erzählt, hat er tatsächlich etwas von einem Kind. Die ersten grauen Spitzen im dichten schwarzen Schopf werden vom Glanz in den Augen überstrahlt. Parkour ist zu seinem Leben geworden. Und lässt ihn spielen, wie es sonst nur Kinder können.
Bouldern - das Kletterprogramm für Kraftpakete
Für wen: Menschen mit Fingerspitzengefühl
Trainingseffekt: Kraft und Koordination
Kosten: Im Freien kostenlos, Halle ab 6 €
Wo: Draußen: Teufelsberg, Volkspark Friedrichshain, Alvenslebenstraße; Hallen: Südbloc (suedbloc.de), Ostbloc (ostbloc.de), Bright Site (boulder-project.de), Boulderworx (boulderworx.de), T-Hall (diekletterhalle.de).
Infos: Facebook-Gruppe „Bouldern in Berlin“
Zehn Uhr an einem Freitagmorgen. Die Mülleimer zeugen von den Eskapaden der vergangenen Nacht. Vor der U-förmigen Felswand im Volkspark Friedrichshain sucht Dzenan Hadzifejzovic, 23, nach Scherben und spitzen Steinen im Kies, zur Sicherheit. Als er fertig ist, schaut er die Wand hoch, sucht nach einem Aufstieg. Sieht man genauer hin, fallen zwischen den Graffitis und Tags auf der Wand gut zwei Dutzend Klettergriffe auf. Neben Dzenan sind noch zwei weitere junge Männer da, sie alle nutzen die Wand zum Bouldern.
Bouldern bezeichnet das Klettern ohne Seil und Gurt an Felsen in Absprunghöhe. Es ist eine eigene Disziplin des Sportkletterns, die seit ein paar Jahren boomt – so sehr, dass es Teile der Szene bereits nervt, weil die Berliner Hallen überfüllt sind. Weshalb der Sport immer mehr in den öffentlichen Raum drängt.
Dzenan schaut noch einmal, dann greift er mit der rechten Hand in den Fels, sucht mit dem linken Fuß nach Halt und zieht sich hoch. In weniger als einer Minute hat er die knapp drei Meter hohe Felswand erklettert. Das Gute am Bouldern ist, dass auch Menschen mit Höhenangst die Sportart mehr oder weniger problemlos ausüben können, im Gegensatz zum angeseilten Höhenklettern.
"Für Frauen ist es doch schön, die ganzen Sixpacks im Park zu sehen"
Jetzt, wo Semesterferien sind, ist Dzenan häufig hier, er studiert an der HTW in Schöneweide. Im Hochschulsport spielt er Fußball und Volleyball, vor zwei Jahren hat er einen Kletterschein gemacht, das Bouldern ist für ihn Ausgleichssport. „Gut ist vor allem, dass man den Sport alleine machen kann“, sagt er – man braucht beim Bouldern keinen Partner, der das Seil sichert. Und dass der ganze Körper trainiert werde. Dzenan trägt Shorts und T-Shirt, die anderen Kletterer nur Shorts. Es geht in der Szene auch um Körperkult. „Gerade für die Frauen im Park ist es doch schön, die ganzen Sixpacks zu sehen“, sagt er.
Für Dzenan hat es Vor- und Nachteile, in der Öffentlichkeit Sport zu treiben. Einerseits bekommt man Anerkennung – Passanten bleiben stehen, schauen zu, manchmal klatschen sie. Der Nachteil: „Leute pinkeln an die Wand, schmeißen ihre Flaschen in den Kies.“ Dzenan ärgert das. Auch in der Szene, sagt er, gebe es ein paar schwarze Schafe. Leute, die beim Bouldern kiffen und Bier trinken. Die aber würden von den anderen gemieden.
„Es ist eine offene Szene, jeder hilft jedem“, sagt Dzenan. „Es gibt auch kaum ein Konkurrenzdenken.“ Zudem kostet der Sport fast nichts, jedenfalls nicht, wenn man ihn wie hier im Freien ausübt. Gut, manche kaufen sich extra Kletterschuhe oder haben Magnesium dabei, damit die Hände trotz Schweiß griffig bleiben. Dzenan reicht eine Flasche Wasser.
Slackline - der Balanceakt im Grünen
Für wen: Schwindelfreie, Ausgeglichene
Trainingseffekt: Koordination, Zehenspitzengefühl, Gleichgewichtssinn
Kosten: Ab 90 Euro für eine gute Slackline
Wo: Hasenheide und in fast jedem anderen Berliner Park. Zeiten, Treffpunkte und Verabredungen mit Gleichgesinnten über die Facebook-Gruppe „Slackline Berlin“.
Am Hundeplatz brüllt eine Frau ihren Begleiter an, sich endlich wie ein „richtiger Mann“ zu benehmen. Als der etwas sagen will, schlägt sie ihm die Bierflasche aus der Hand. Hundert Meter weiter rennen zwei Typen über die Wiese, kurz darauf fährt ein Polizeiauto über den schmalen Weg durch die Hasenheide.
Völlig ungerührt bindet Daniel Neumann, 26, Spitzname Reggae – passend zu den Dreadlocks – den Baumschutz an den Baum am Wegesrand. An den alltäglichen Wahnsinn im Park hat er sich längst gewöhnt. Er ist hier, um seinen Sport zu betreiben. Einen Sport, den er ernst nimmt. Auch wenn die Leute, die ihn dabei beobachten, manchmal mit dem Kopf schütteln, ihn fragen, ob er bekloppt sei.
Nachdem er den Baumschutz angebracht hat, verbindet er ihn mit dem Flaschenzug, in Fachkreisen Banane genannt, und spannt eine Art Gurt ein, das Herzstück des Sports, der unter dem Namen „Slackline“ immer häufiger in Berlins Parks zu sehen ist. Als Verbindung der einzelnen Teile dienen Schäkel, U-förmige Metallbügel. Ein Exemplar hängt an einer Kette um Daniels Hals. Sein Talisman.
Über die gesamte Breite der Senke in der Hasenheide erstreckt sich die Slackline, 85 Meter. Daniel zeigt auf den Baum, etwas unterhalb seines Schutzes ist die Rinde ganz glatt. „Viele Anfänger benutzen keinen Baumschutz“ sagt er. Das aber ist Bedingung des Berliner Grünflächenamts. Die hatten das Slacklinen eigentlich verboten. Daniel und seine Mitstreiter, die gerade dabei sind, einen Verein zu gründen, haben einen Deal gemacht: So lange sie einen Baumschutz benutzen, dürfen sie in der Hasenheide ihren Sport praktizieren. Daniel sieht einem Baum an, ob er geeignet ist. „Buche ist gut. Robust und schön. Birke ist mit Vorsicht zu genießen.“
Die Leute fragen ihn manchmal, ob er beim Zirkus ist
Er macht das jetzt seit vier, fünf Jahren. Barfuß, nur mit Shorts bekleidet, läuft er bis zur anderen Seite. Passanten bleiben stehen, machen Fotos mit ihren Smartphones. „Die Leute fragen mich manchmal, ob ich beim Zirkus bin“, sagt Daniel. Er sieht sich nicht als Artist, obwohl er zugeben muss, dass es ihm Genugtuung bereitet, wenn Leute stehen bleiben und applaudieren.
Für Daniel ist Slacklinen ein Sport, Ziel ist, die eigenen Leistungen zu verbessern. Grob lässt sich zwischen „Longlinern“ und „Tricklinern“ unterscheiden. Für die einen, wie Daniel, geht es in erster Linie darum, immer weitere Distanzen zu überbrücken. Während Trickliner, der Name sagt es schon, Tricks auf dem Gurt machen. Onni Schoenwälder, überragender Oberkörper zum Dreitagebart, macht beides. Onni und Daniel haben sich über den Sport kennengelernt, mittlerweile sind sie Freunde. Nach dem Slacklinen bleiben sie gern noch im Park und trinken ein Bier zusammen. „Wir gehören zu der Generation, die sich ihren Tagesablauf nicht mehr durch ein Fernsehprogramm oder so diktieren lässt“, sagt Daniel. Sie treffen sich regelmäßig am Mittwoch, nennen das „Wednesday-Club“. Es geht mittags los, manchmal bleiben sie einfach, bis es dunkel wird. Dass beide Studenten sind, ist dabei nicht hinderlich.
Slackline ist ein Ganzkörpersport. Durch das Balancieren des eigenen Körpergewichts werden alle Muskeln beansprucht. Und es braucht Konzentration. Drogen sind in der Szene verpönt. Und die wird immer größer. Vorreiter waren wie so häufig die Amerikaner, mittlerweile aber sind die Europäer führend, allen voran Tschechien. „Unsere Slackline“, sagt Daniel, „verbindet die Welt.“
Dieser Text erschien zunächst in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.