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Höher, immer höher. Jan Hojer klettert bei der Boulder-WM 2014 in München.
© picture alliance / dpa

Bouldern: Steigend beliebt im flachen Berlin

Bouldern ist mehr als Bergsteigen ohne Berge. Gerade in Städten wie Berlin trifft das Klettern ein Lebensgefühl - ohne Seil, ohne Gurt, dafür mit viel Dynamik.

Die Sonne scheint, die Fenster der Spreekähne reflektieren die Strahlen. Auf dem Wanderweg Bolleufer schieben junge Familien Kinderwagen vor sich her. Am Wegesrand vor dem Rummelsburger Hafen tönt aus einer alten Lagerhalle Hip-Hop. Davor liegen kleine Stoffsäcke mit Kreide, Kletterschuhe. Junge Menschen sitzen in Gruppen auf dem Boden, unterhalten sich, trinken Kaffee.

Die ehemalige Lagerhalle heißt jetzt Ostbloc, seit 2010 wird hier geklettert. Genauer: gebouldert. Sie ist Berlins älteste Boulderhalle, mittlerweile gibt es vier große Hallen und etliche Boulderräume. Die Beliebtheit steigt, es gibt es im Hochschulsport, in Kindergruppen, als Betriebsausflug, auch als Wettkampfsport – seit 2001 gibt es Weltmeisterschaften. In Deutschland werden jedes Jahr rund 70 neue Boulderhallen mit je über 1000 Quadratmetern Fläche eröffnet.

Komplexer als Klettern

Aber was ist Bouldern überhaupt? Und wie konnte diese einst obskure Klettervariante zu einem eigenständigen Sport werden? Gerade hier in Berlin? Der Stadt, deren höchster Gipfel die 122 Meter hohen Arkenberge sind: eine Bauschuttdeponie. „Bouldern ist Klettern auf Absprunghöhe“, sagt Lutz Schneider, 45 Jahre alt, der zusammen mit seinem Kletterpartner Jakob Hoppstock den Ostbloc gegründet hat. Boulderer klettern Routen, die nicht höher als etwa 4,50 Meter sind, der Hallenboden ist mit Matten ausgelegt. Es gibt kein Seil, keinen Gurt, wegen der niedrigen Höhe aber auch kein großes Risiko. Die Routen sind farblich nach Schwierigkeitsgrad gekennzeichnet. Wer vor einer Wand steht, erkennt sofort, ob die Route etwa seinem Niveau entspricht oder nicht.

Die Deutsche Juliane Wurm bei der Weltmeisterschaft im Bouldern 2014 in München.
Die Deutsche Juliane Wurm bei der Weltmeisterschaft im Bouldern 2014 in München.
© Lukas Barth/dpa

Die Bewegungen beim Bouldern sind dynamischer, komplexer als beim Klettern. Es gibt seitliche Sprünge, Schwungbewegungen. Bouldern ist die Verdichtung der kniffligen Abschnitte einer Kletterroute. „Wir nennen es auch Bewegungsschach“, sagt Schneider. Beim Klettern geht es um Ausdauer, Kraft und Technik, beim Bouldern stehen Bewegungsfantasie und Koordination im Mittelpunkt. „Bouldern liegt irgendwo zwischen Routenklettern und Parkour-Laufen“, sagt Schenider. Der Routenschrauber – also der, der die Route an der Wand anbringt – stellt dem Boulderer eine Aufgabe, die dieser lösen muss. „Man muss eine Choreografie entwickeln, um die Probleme zu lösen“, sagt Schneider. Besonderer Vorteil gegenüber dem Klettern: Man rätselt gemeinsam mit anderen und tauscht sich aus. „Beim klassischen Klettern geht das eher nicht, weil man ständig konzentriert in Kontakt mit seiner Seilschaft sein sollte.“

"Deutschland hat eine Vorreiterrolle"

Bouldern wird zunehmend auch Wettkampfsport – und Deutschland ist weltweit darin führend. Es gibt Speedbouldern, wo zwei Athleten dieselbe Route parallel auf Geschwindigkeit klettern. Meist jedoch werden Versuche gezählt: Die Athleten haben vier Minuten, in denen sie eine Route zu schaffen haben, die sie davor noch nie gesehen haben. Der mit den wenigsten Versuchen gewinnt. Viele semiprofessionelle Boulderer nehmen auch an Kletterwettbewerben teil. Von den Wettkampfgeldern, zusammen mit Werbedeals und Fernsehauftritten, kann eine Handvoll Athleten leben, unter anderem der diesjährige Gesamtcupsieger des Worldcups, Jan Hojer, und Kletter- und Boulderweltmeisterin Juliane Wurm, beide aus Deutschland. Nirgendwo gibt es so viele Hallen, so viele Wettkämpfe. „Deutschland hat eine Art Vorreiterrolle im Bouldern übernommen“, sagt Schneider. Holland und Polen holen gerade auf. Zwei Länder, die nicht gerade für ihre alpinen Leistungen bekannt sind.

Denn auch wenn Klettern und Bouldern irgendwo mit dem Bergsteigen verwandt ist, hat das längst kaum mehr etwas miteinander zu tun. Vor allem Bouldern ist zunehmend ein städtischer Sport. Die großen Zentren sind – neben den Vorreitern in Sachsen- vor allem in Köln, Berlin und Frankfurt.

Viel urbanes Publikum

Es ist wohl der einfache Zugang, der für den rasenden Beliebtsheitsanstieg der Sportart verantwortlich ist – vor allem in den Städten. Man hat schnell Erfolgserlebnisse, ein neuer Boulderer muss kaum in Vorleistung gehen. Gelbe Routen werden hochgestolpert, sagt man. Dieses anfängliche Rumklettern kennt jeder vom Spielplatz; es ist etwas Kindliches. Höhere Schwierigkeitsgrade verlangen natürlich Technik. Auch muss man keine Anschaffungen machen – keine Gurte, keine Seile. Einen wichtigen Grund sieht Schneider woanders: „Bouldern passt in das Zeitmanagement des Großstädters.“ Nach zwei Stunden sei man ausgepowert; man braucht keinen Partner, ist flexibel. „Man trainiert, ohne es als Training zu empfinden.“ Hip-Hop-Musik aus Lautsprechern, Matten auf dem Boden, kein Klettergeschirr – das hat nicht mehr viel mit Klettern am Stein oder Bergsteigen zu tun.

„90 Prozent der Leute, die hierherkommen, sind neu; die hatten nie etwas mit Seilklettern zu tun“, sagt Schneider. Beim Blick in den Ostbloc heute fällt auf, dass es viele junge Leute sind, urbanes Publikum, Trendsport-Klientel. Öfter auch Familien mit Kindern, manchmal noch betagtere klassische Kletterer, die in der Boulderhalle besonders komplexe Bewegungsabläufe trainieren. Früher war das üblich. Dieser Trainingsgedanke ist aber fast vollständig verschwunden.

Erste künstliche Boulderanlage in Berlin

Der Bouldersport ist mittlerweile eine eigenständige Sportart, ist aber dem Klettern entsprungen. Ende des 19. Jahrhunderts zogen in Frankreich und England Sandsteinfelsen und leer stehende Minen Kletterer an, die in Schächten und Gräben mit geringer Höhe kletterten. Das Wort Boulder heißt so viel wie Fels. Anfang des 20. Jahrhunderts kam der Sport nach Sachsen und Nordbayern. Hier fand in den 1970er Jahren die erste Revolution des Klettersports statt: Wolfgang Fietz, der über ein Jahrzehnt hinweg beste Kletterer der Welt, kletterte dynamisch und nahm die Energie als Schwung mit auf den nächsten Tritt oder Griff. So konnte er Abschnitte, die als unkletterbar galten, überwinden – und war maßgeblich verantwortlich für die Emanzipation des Boulderns vom Routenklettern.

Gleichzeitig begann die Faszination des Kletterns an Orten, die keinen natürlichen Stein bieten. 1970 eröffnete die erste künstliche Anlage Deutschlands – der Teufelsturm im Grunewald in Berlin. In Leipzig richtete Lutz Schneider mit Jakob Hoppstock 2006 einen Boulderraum in einer Kletterhalle ein, einen der ersten überhaupt. „Innerhalb eines Monats hat sich die komplette Kundschaft geändert“, sagt Schneider. „Die Leuten wollten nicht mehr lernen, Gurte anzuziehen, das Sichern, Regeln in der Seilschaft und so weiter.“ Bouldern ist einsteigerfreundlicher. Nach zwei Monaten war der Raum total überfüllt. Dann kam die Idee mit Berlin.

Im Ostbloc laufen Kinder lachend durch den Raum, einige Jugendliche unterhalten sich fingerzeigend darüber, wie man denn jetzt bitte von da nach da kommen soll. Daneben gestandene Boulderer, die auf Zetteln die Routen eintragen, die sie geschafft haben. Sie nehmen am Monatswettkampf teil. Rund 7500 Leute kommen jeden Monat allein in den Ostbloc. Anfang des Jahres haben Schneider und Hoppstock den Südbloc in Mariendorf eröffnet – eine weitere große Halle. Schon wenige Wochen nach Eröffnung ist die Halle gut besucht. Die Berliner scheinen die Kletterei für sich entdeckt zu haben – auch ohne Berge oder Felsen.

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