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Milliardengeschäft. Berlin braucht neue U-Bahnen - wer sie bauen soll, ist umstritten.
© Monika Skolimowska/dpa

Neue U-Bahnen für die Hauptstadt: Siemens macht Berlin schwere Vorwürfe, will aber nicht klagen

Der Konzern äußert „Unmut und Unverständnis“ über die Auftragsvergabe an einen Konkurrenten. Rechtlich dagegen vorgehen will Siemens aber nun doch nicht.

Der Siemens-Konzern hat schwere Vorwürfe gegen das Land Berlin erhoben, nachdem ein Auftrag für neue Berliner U-Bahnen vergeben wurde. Juristisch vorgehen will der Konzern nun allerdings doch nicht. Am Vortag war aus dem Umfeld des Unternehmens noch zu hören gewesen, dass Siemens-Vorstandschef Joe Kaeser persönlich gegenüber Senatsvertretern die aktuelle Vergabeentscheidung hart kritisiert und den Klageweg angekündigt habe.

Am Freitag hieß es allerdings in Branchenkreisen, Siemens könne die Vergabe des Auftrags an den Konkurrenten Stadler gar nicht juristisch angreifen. Denn Siemens habe bewusst gegen die Ausschreibungsbedingungen verstoßen, wie Insider berichteten. Deshalb sei eine "Rüge" bei der Vergabekammer nicht zulässig.

"Unmut und Unverständnis"

Noch am Freitag wolle das Konsortium aus Siemens und Bombardier einen Brief an BVG-Chefin Sigrid Nikutta schreiben und "Unmut und Unverständnis" über die Ausschreibungsbedingungen deutlich machen. Teilweise seien die von der BVG bereitgestellten Zahlenwerke schlicht falsch gewesen, heißt es in Branchenkreisen. Eine solche "katastrophale" Ausschreibung wie die der BVG habe es noch nicht gegeben. Dem Vernehmen nach hat sich die BVG technisch nicht beraten lassen bei der Ausschreibung.

Unterdessen ging nach Informationen des Tagesspiegels bei der Vergabekammer doch eine Rüge ein - und zwar eine des dritten Bieters Alstom. Über den Inhalt dieser Rüge wurde nichts bekannt.

Am Sonntag um 24 Uhr läuft die Einspruchsfrist in dem Vergabeverfahren ab, mit dem die völlig veraltete U-Bahn-Flotte ab 2021 komplett erneuert werden soll. Um den Auftrag für 1500 U-Bahn-Wagen für etwa drei Milliarden Euro hatten sich das Konsortium Siemens-Bombardier, der französische Konzern Alstom und das Schweizer Unternehmen Stadler beworben.

Stadler fertigt einen Teil seiner Züge in Berlin-Pankow. Im vergangenen Jahr hatte Siemens noch monatelang juristisch einen kleineren U-Bahn-Auftrag an Stadler juristisch bekämpft - obwohl Siemens den gewünschten Typ gar nicht hätte liefern können. Erst im Juli 2018 hatte Siemens in diesem Streit nachgegeben.

In der Branche ist von "Aldi-Bahn" die Rede

Nach Angaben von Experten habe die BVG für die neuen Züge eine Ausschreibung formuliert, in der keinerlei Innovationen zulässig sind. So werde die neue U-Bahn für Berlin keine moderne Bremse und keine Klimaanlage bekommen, in der Branche werden Begriffe wie "Aldi-Bahn" oder "Billig-Bahn" verwendet.

Tatsächlich hat die BVG in der Ausschreibung die Vorgabe gemacht, dass der Preis 70 Prozent zählt und die Technik nur 30 Prozent. Branchenüblich ist eine Verteilung 50 zu 50. Verkehrsbetriebe, die in die Zukunft denken, gewichten Technik und Innovationen sogar höher als den Preis.

Nürnberg zum Beispiel kaufe jetzt Züge, die für einen künftigen Fahrerlosen Betrieb vorbereitet sind. Der Führerstand kann ausgebaut werden, dort gibt es dann mehr Platz für Fahrgäste. In Paris fährt die Linie 1 bereits ohne Fahrer - die Züge kommen von Siemens. Auch die neuesten Züge der Londoner U-Bahn strotzen vor Innovationen, wie Insider berichteten.

Auch die neue S-Bahn für Berlin wird deutlich moderner sein, als die künftigen U-Bahn-Züge. Die 2018 auf der Innotrans-Messe vorgestellte S-Bahn der Baureihe 483/484 bekommt zum Beispiel eine Klimaanlage. Moderne Züge senden Fehlermeldungen während der Fahrt online in die Werkstatt, die sich dann bereits vorbereiten kann.

Offiziell will keiner der Beteiligten etwas sagen

In der U-Bahn-Ausschreibung für die neuen Züge fordert die BVG dem Vernehmen nach eine 32-jährige Gewährleistungsfrist für die Wagen. Branchenexperten sehen darin ein großes und völlig unkalkulierbares finanzielles Risiko für den Hersteller. Wie es in Branchenkreise hieß, sei auch das ein Grund für Siemens gewesen, kein gültiges Angebot abzugeben. Bis zuletzt soll Siemens versucht haben, in den Verhandlungsrunden bei der BVG eine Änderung der Ausschreibungsbedingungen zu erreichen. Als die BVG dies verweigerte, soll sich Siemens entschieden haben, ein kommentiertes Angebot abzugeben - und dadurch den Ausschluss zu provozieren.

Weder die beteiligten Firmen noch die BVG wollten sich zu der Ausschreibung äußern, dies würde gegen das Vergaberecht verstoßen. Auch die erhobenen Vorwürfe gegen die Qualität der Ausschreibung wollte die BVG nicht kommentieren. Möglich ist, dass die BVG bereits am Montag offiziell vermeldet, wer den Auftrag gewonnen hat. Sollte jedoch die von Alstom abgegebene Rüge nicht bis Montag geklärt oder zurückgewiesen sein, würde sich die offizielle Bekanntgabe des Gewinners verzögern. Der Aktienkurs von Stadler machte am Freitagmorgen nach Veröffentlichung des Tagesspiegel-Artikels über die Vergabe einen Sprung von drei Prozent nach oben.

Im Rahmen der „Zukunftssicheren Schienenfahrzeugbeschaffung" wollen die Verkehrsbetriebe die Fahrzeugflotte der U-Bahn bis 2033 komplett erneuern. Die ersten Prototypen sollen im Jahr 2021 geliefert werden, jeweils zwölf Wagen des Kleinprofils (Linien 1 bis 4) und des Großprofils (Linien 5 bis 9). 2022 sollen 76 Wagen geliefert werden, anschließend von 2023 bis 2032 jährlich 136 Wagen. Im Durchschnitt sind die U-Bahn-Wagen derzeit 30 Jahre alt und zunehmend störanfällig. Ende 2018 hatte sich die Aufsichtsrats-Chefin der BVG, Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) bei der BVG über den schlimmen Zustand der U-Bahn-Wagen informiert. „Wir merken, dass 20 Jahre nichts investiert wurde in neue Züge", hatte Pop anschließend gesagt. Wie berichtet, musste die BVG im Jahr 2018 fast 50 Wagen wegen irreparabler, plötzlich auftretender Risse ausmustern.

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