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CHP-Anhängerinnen feiern den Wahlsieg ihres Kandidaten.
© Hülya Gürler

Berliner Türkeistämmige zur Wahl in Istanbul: Sekt bei der CHP in Mitte, Katerstimmung bei den AKP-Anhängern

In Istanbul haben die Menschen den Oppositionskandidaten Ekrem Imamoglu zum Bürgermeister gewählt. Das wurde auch in Berlin gefeiert - oder bedauert.

Es ist kurz nach Schließung der Wahllokale am Sonntag gegen 16 Uhr mitteleuropäischer Zeit. Im Minutentakt geben Mitglieder der Berliner CHP auf ihrer Wahlparty in einem neu eröffneten Café in Mitte die ersten Auszählungsergebnisse durch. „59 zu 38 Prozent für Imamoglu. Wie ihr wisst, sind die ersten Ergebnisse ausschlaggebend,“ ruft Alev Ayhan, die Generalsekretärin des Berliner Zweigs der Partei des Wahlsiegers Ekrem Imamoglu den anderen zu. In die Spannung mischt sich Freude im Garten des Cafés.

Wenig später geht alles ungewohnt rasch über die Bühne. Der ehemalige Ministerpräsident und Bürgermeister-Kandidat der AKP, Binali Yildirim, tritt gleich nach den ersten Wahlergebnissen am Abend vor die Kameras und gratuliert Imamoglu für den Sieg. Jubel bei den rund 120 Berliner Anhängerinnen und Anhängern.

Zur Feierstimmung passt Imamoglus Wahlkampfslogan „Hersey cok güzel olacak“ - „Alles wird sehr schön werden“, den einige auf T-Shirts tragen. Imamoglu gewinnt mit einem deutlichen Vorsprung vor Yildirim. Der redegewandte Kandidat der CHP wird, wenn alles gut geht, nach 25 Jahren AKP-Regierung in Istanbul der erste Bürgermeister von der Oppositionspartei CHP werden.

Im Café in Mitte verfolgen alle die Auszählungen auf der großen Leinwand mit. Hier herrscht vor allem die Sorge um die Demokratie. Die seit drei Jahren in Berlin lebende Istanbulerin Ezgi Asar kann kaum mehr die Tränen zurückhalten. „Seit 17 Jahren ist die AKP an der Macht. Bei jeder Wahl in der Türkei hoffen wir auf Veränderung. Nach der Präsidentschaftswahl im letzten Jahr, als der CHP-Kandidat Muharrem Ince gegen Präsident Erdogan verlor, hatte ich jegliche Hoffnung aufgegeben. Heute erleben wir endlich einen Wendepunkt.“

Generalsekretärin Alev Ayhan kämpft sich durch die bewegte Menge durch. „Unser Recht auf den Bürgermeisterposten wurde uns am 31. März genommen. Heute haben wir es uns zurückgeholt.“ Bei den auch in Deutschland mit Spannung erwarteten Wahlen stand mehr auf dem Spiel als bloß das Amt des Istanbuler Bürgermeisters. Sie waren erneut angesetzt worden, nachdem sie die Hohe Wahlkommission auf Betreiben der AKP Anfang Mai annulliert hatte. Viele Beobachter zweifelten diese Entscheidung an.

Im guten Abschneiden der CHP sieht auch Alev Ayhan mehr, als bloß einen Sieg um den obersten Posten der Stadt: „Bei diesen Wahlen ist eigentlich Präsident Erdogan gegen Imamoglu angetreten und nicht Binali Yildirim.“ Die Wahlen hätten Imamoglu den Weg zur Präsidentschaftswahl eröffnet. „Sie waren ein Denkzettel für Erdogan und seine AKP, die im Wahlkampf Fehler an Fehler gereiht hatten, weil sie verunsichert waren nach den guten Wahlprognosen für Imamoglu.“

Hoffnung auf Bewegung im Tourismus

Zudem hätten jetzt auch deutsche Bürger gesehen, dass die Türkei nicht nur aus Erdogan und seiner AKP besteht. „Das Ergebnis könnte mehr Bewegung in den Tourismus nach Istanbul bringen“, vermutet Ayhan.

In Mitte wird am Sonntagabend getanzt und gepfiffen, ein Sektkorken knallt, während auf dem Bildschirm Wahlbeobachter die Ergebnisse kommentieren. Das tut auch der IT-Spezialist Osman Tok auf der Wahlparty: „Diese Wahlen haben uns vor Augen geführt, wie sehr Istanbul das wirtschaftliche Rückgrat der AKP-Regierung ist. Nun ist sie auf dem absteigenden Ast. Das Volk hat gesprochen, sie wollen sie nicht mehr.“

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Bei der AKP ist in Berlin von Feierlaune keine Spur, eine Wahlparty findet nicht statt. Dafür sind hier versöhnliche und ungewohnt selbstkritische Worte zu vernehmen. „Ich gratuliere Ekrem Imamoglu zum Wahlsieg,“ sagt der Wahlkampfkoordinator Erdal Cakiroglu dem Tagesspiegel. Die Wahlen hätten gezeigt, dass die Demokratie in der Türkei noch funktioniere.

„Jetzt müssen sich Politiker der AKP daran machen, eigene Fehler zu hinterfragen,“ fügt Cakiroglu hinzu. Die Istanbuler hätten die AKP für ihren aggressiven Wahlkampf abgestraft. „Wir haben erlebt, dass es zu nichts führt, Gegenkandidaten in den Schmutz zu ziehen.“

Andere AKP-Anhänger sind auf den Straßen anzutreffen, so auch Erhan Özdemir in einem Schöneberger Imbiss. „Imamoglu ist ein würdiger Kandidat. Ich glaube aber nicht, dass seine Partei Istanbul in Zukunft gut regieren wird.“ Mitte-Links-Parteien hätten der Türkei nie was Gutes gebracht, glaubt Özdemir.

„Ich würde gerne zurückkehren“

Man müsse aber dem neuen Kandidaten eine Chance geben, sagt ein anderer AKP-Anhänger. Einige kommentieren die Wahlergebnisse mit dem für AKP-Wähler typischen Alltagspragmatismus. Ein Taxifahrer in Kreuzberg klingt für Istanbul skeptisch. „Die Verkehrsprobleme in Istanbul sind immens. Imamoglu hat keine echten neuen Lösungen zu bieten.“

Einen eher ruhigen Wahlabend verbringen am Sonntag Anhänger der Berliner HDK/HDP in einem Kreuzberger Café. Weder überschwängliche Freude, noch Katerstimmung wie bei vorherigen Wahlen ist hier zu spüren. Über eigene Wahlerfolge kann sich die HDP nicht freuen, denn die Partei hat zugunsten von Imamoglu auf einen eigenen Kandidaten verzichtet. Die HDP wird nicht nur, aber doch überwiegend von Kurden gewählt.

„HDP-Wähler haben viel eher gegen die repressive AKP-Regierung gestimmt statt für den Kandidaten der CHP, meint der Sprecher der HDK/HDP, der Theaterregisseur Rezan Aksoy. „Unsere Wähler sind es gewohnt, dass die Regierungspartei AKP den Kurden vor Wahlen Versprechungen macht.“ HDP-Wähler seien aber aufgeklärt genug, um darauf nicht reinzufallen. „Sie wissen genau, dass die AKP die Probleme verursacht. Deshalb ist sie für unsere Wähler nicht mehr glaubwürdig.“

Unter den HDP-Anhängern befinden sich viele Neuberliner, die in den letzten Jahren aus Unzufriedenheit mit der regierenden AKP Istanbul verlassen haben. Möglich wäre, dass diese demnächst in ihre Heimatstadt zurückkehren. Für einige ist eine Rückkehr unmöglich, weil sie sonst riskieren, verhaftet zu werden. „Ich würde gerne zurückkehren“, sagt die Akademikerin Nevra Akdemir. Gegen sie läuft ein Gerichtsverfahren, weil sie die HDP unterstützt hat. Die Istanbuler Wahlen könnten der Anfang eines landesweiten Demokratisierungsprozesses sein, hofft Akdemir.

Hülya Gürler

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