Obdachlose in Berlin: Seht nicht weg!
Mitten im wohlhabenden Charlottenburg liegt eine Insel des Elends: das Obdachlosenlager an der Windscheidstraße. Wollen wir es hinnehmen, dass Menschen so leben müssen? Ein Plädoyer gegen die Gleichgültigkeit der Großstadt.
Wenn Reichtum und Armut in einer Stadt ganz direkt aufeinanderstoßen, dann schauen Passanten lieber weg. Und wer wegsieht vom plötzlich dargebotenen Elend, wirkt dabei nur allzu menschlich – und unmenschlich zugleich. Manchmal aber kann man sich schwer abwenden, zu offensichtlich springt das Peinliche einem ins Auge.
Ein solcher Ort liegt in Berlin, nein: nicht in einem sogenannten „Problemkiez“ und schon gar nicht in einer potenziellen No-Go-Area. Der Ort heißt Charlottenburg, es ist, wenn man vom Kurfürstendamm und der Schaubühne Richtung Kantstraße geht, die Bahnunterführung am Beginn der Windscheidstraße. Kaum tritt man unter der Brücke hinaus, öffnet sich der von gutbürgerlichen Altbauten, einem schönen Kinderspielplatz, hohen Laubbäumen und seinen vielbesuchten Cafés, Restaurants, Eisläden und einer feinen Salumeria gesäumte Stuttgarter Platz. An ihn dann gleich anschließend auch die charmante Leonhardtstraße mit weiteren Lokalen und Läden für Feinkost, Weine, Bücher, Mode. Alter Westen, neuer Chic, über 35 und unter fünfzehn lässt es sich in Berlin kaum besser leben als hier.
Selbst in den Frostnächten schlafen hier Menschen
Doch vor dem Paradies liegt die selbst Anfang Mai noch eiskalte Hölle. Das eben ist die Bahnunterführung mit ihren breiten Fußwegen, die den Namen Bürgersteige verloren haben, weil auf ihnen einige der Ärmsten der Armen leben. Obdachlose unter den Brücken, kein Klischee. Nur die Wirklichkeit.
Sie leben hier noch immer, sind also nicht gestorben. Denn schon den ganzen Winter über, selbst in den Frostnächten, die im April noch mal wiederkehrten, haben auf beiden Seiten der Straße unter den Bahntrassen bis zu einem halben Dutzend Männer auf Matratzenhaufen unter Decken und Lumpen ausgeharrt. Nacht für Nacht, Tag für Tag. Einer, um den sich sein Kumpel rührend kümmert, hat seine Füße verloren, er kriecht vom Rollstuhl auf sein Lager und wieder zurück.
Geschichten wie ihre werden in Reportagen, Dokus, Romanen immer mal wieder erzählt. Werden beklagt und angeklagt. Aber ganz konkret ist jeder Fall ein doch unvergleichbares Einzelschicksal. Die Geschichte, oft die Tragödie eines Menschen, oft auch der Skandal einer eigentlich überreichen Gesellschaft. Darin steckt dann die ganz große Geschichte (des Kapitalismus, der Großstadt, der Massengesellschaft), hinter der jeder einzelne Mensch nur allzu leicht wieder verschwindet. Es gibt neben der viel diskutierten neuen Armut und Wohnungsnot, neben der Explosion von Mietpreisen und dem Zuzug der Flüchtlinge in den Kommunen auch noch ein spezielles Problem, weil wegen einer seit diesem Jahr geltenden Gesetzesänderung keine Sozialleistungen mehr für EU-Bürger erbracht werden, die in Deutschland noch nicht gearbeitet haben. Davon sind vor allem osteuropäische Migranten betroffen, die als Bettler oder Obdachlose erst mal auf der Straße leben. Überleben müssen.
Etwa 6000 bis 10.000 Obdachlose soll es in Berlin geben
Tatsächlich kennt niemand die genaue Zahl der Wohnungslosen in Deutschland. In Berlin schätzt man sie auf etwa 6000 bis 10.000. Wer vorbeigeht an Orten wie der Bahnunterführung mitten in Charlottenburg, wer die noch bis kurz vor Ostern bei der Matratzengruft abgestellten Schokoladenweihnachtsmänner sah, neben den Flaschen mit dem flüchtig wärmenden Alk, neben Besen, mit denen die Männer ihren Müll wegzukehren versuchen (aber wohin?), wer dann ein, zwei Euro oder auch mal einen Schein in die aufgestellten Becher legt, wer die Kälte, den Gestank wahrnimmt und die herumhuschenden Ratten, der weiß auf Anhieb noch keinen Rat. Manchmal verschwindet der Müll für kurze Zeit, aber nicht die Not. Aber lässt der Bezirk, lassen wir Bürger das immer weiter zu, und sperrt man, grotesk genug, nur ein weiteres Mal den Kinderspielplatz auf dem Stutti und streut dort Rattengift?
Beschämung und Empörung. Doch die protestierende Gratiswut hilft nicht weiter. Es geht ja um mehr als nur die örtliche Verlagerung des Elends. Staat und Bürger müssten den Menschenwürde-Satz des Grundgesetzes an solchen Orten als Pflicht verstehen.
Dieser Text erschien als Rant im Tagesspiegel-Samstagsmagazin Mehr Berlin.