Johanna-Eck-Schule in Berlin-Tempelhof: Wieder raus aus dem Ausnahmezustand
Über ein Jahr lang dauerte die Krise der Tempelhofer Johanna-Eck-Schule. Dem neuen Leiter Engin Çatik wird zugetraut, den Wiederaufbau zu schaffen.
Damit war kaum zu rechnen: Als Engin Çatik im Sommer 2019 die Johanna-Eck-Schule in der Tempelhofer Ringstraße betrat, konnte er nicht ahnen, dass er sie nur vier Wochen später komplett allein leiten sollte. Nicht selbstverständlich für einen 33-Jährigen, zumal es nicht irgendeine Schule war, die er da übernehmen sollte, sondern eine im Ausnahmezustand: Rund die Hälfte des alten Teams hatte die Schule zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen oder verlassen müssen.
Sechs Monate später sitzt Çatik in seinem Büro und strahlt die Ruhe und Zuversicht eines Menschen aus, der sich am richtigen Ort zur richtigen Zeit sieht. „Gut geht’s mir, gut geht’s uns“, ist seine Botschaft in den letzten Tagen vor den Winterferien. Gerade hat er noch mit seinen Kollegen in den Zeugniskonferenzen gesessen, es ist längst dunkel draußen, aber Çatik und sein neuer Verwaltungsleiter Axel Jürs nehmen sich Zeit, um über den Neuanfang zu berichten.
Die Botschaft ist klar: Es geht darum, Vertrauen zurückzugewinnen. Vertrauen der Eltern und der Öffentlichkeit in eine Schule, die seit dem Herbst 2018 ausschließlich Negativschlagzeilen produziert hatte, die ihre erfahrensten Leute verlor und nun von vorn anfangen muss.
Alle Stellen sind besetzt
Leicht wird es nicht, so viel steht fest. Und doch ist der Anfang längst gemacht. „Wir haben zum zweiten Halbjahr tatsächlich alle Stellen besetzt“, kann Çatik vermelden, der inzwischen eine Schulleiterqualifikation im Landesinstitut für Schule und Medien absolviert hat. Eine offene Lehrerstelle hat er in eine Schulsozialarbeiterstelle umgewidmet. Es gibt auch neue Kooperationen bei der Sozialarbeit und eine um die Lebenshilfe erweiterte Zusammenarbeit mit der Stiftung SPI, die mit ihren Schulgeldern den Förderkindern hilft.
„Ich fühle mich diesem Beruf gewachsen – von meiner Persönlichkeit her und meinen Fähigkeiten“, lautet die selbstbewusste Botschaft des gebürtigen Berliners. Was ihm besonders hilft: „Die Tatsache, dass hier die Menschen geblieben und neu hinzugekommen sind, die sich auch bewusst für uns entschieden haben. Sie wollen gestalten und diese Schule nach vorn bringen“, ist Çatik überzeugt.
Die Johanna-Eck-Schule zerfällt in ein Vorher und ein Nachher. Das Vorher bestand in einer rund 25-jährigen Erfolgsgeschichte. Das war die Zeit, als die Werner-Stephan-Schule, wie sie vor einer Fusion hieß, erst zum Leuchtturm unter den Hauptschulen und dann zur preisgekrönten Johanna-Eck-Sekundarschule wurde. Es war die Zeit, als sie Berlins erste „Schule ohne Rassismus“ war, als sie bei der Sprachförderung und Schülerpartizipation neue Wege beschritt.
Das Nachher ist heute. Dazwischen liegen rund zwei Jahre unter der Leitung von Çatiks Vorgängerin Mengü Özhan-Erhardt. Sie musste gehen. Die „Schuldfrage“ beantworten die Kontrahenten erwartungsgemäß unterschiedlich. Fest steht, dass die Schulaufsicht und Ex-Staatssekretär Mark Rackets (SPD) nicht die Mittel fanden, um alle Beteiligten vor noch mehr Schaden zu bewahren.
Die Gräben wurden zugeschüttet
An dieser Stelle kommt Çatik ins Spiel: Seine Vorgängerin hatte ihn im Sommer als Stellvertreter geholt – zusammen mit vielen anderen jungen Lehrern, die die vielen vakanten Stellen ausfüllen sollten. Ihm kam nach der Freistellung der Schulleiterin die Aufgabe zu, die noch vorhandenen Kollegen mit den vielen neuen Kräften zusammenzubringen. Sind die alten Gräben noch da?
„Wenn ich ins Lehrerzimmer komme, weiß ich nicht, wer früher zu welchem Lager gehörte“, sagt Verwaltungsleiter Jürs, der erst Ende 2019 dazugekommen ist. Çatik, der neben ihm sitzt, nickt: Er spüre „atmosphärisch keine Probleme zwischen den Gruppen aus der Vergangenheit“. Mehr noch: „Es gibt diese Gruppierungen nicht mehr. Allen ist bewusst, dass es um die Schüler geht. Die Schüler stehen im Mittelpunkt“, erklärt er die unerwartete Harmonie. Auch die Krankheitsrate sei gering. Zudem gebe es ja ein gemeinsames „riesengroßes“ Projekt: den Aufbau zur Gemeinschaftsschule von Klasse 1 bis 13. Bisher führt die „JES“, wie sie alle hier nennen, nur von Klasse 7 bis 10.
Man könnte auf die Idee kommen, dass Çatik und Jürs die Probleme kleinreden. Denn ganz so einfach, wie es sich anhört, ist die Lage nicht: Manche Klassen seien schwer zu bändigen, berichten Eltern, weil ja die früheren Konzepte für das Konfliktmanagement nicht so rasch ersetzt werden könnten. Junge, unerfahrene Lehrer könnten verschlissen werden in dieser Situation.
Dem Neuen wird viel zugetraut
Und doch lassen auch die, die über Probleme berichten, keinen Zweifel daran, dass Çatik es schaffen kann: „Es gibt eine positive Stimmung im Kollegium“, sagt einer. Çatik sei ein „Zupacker“ und „anständig“ obendrein. Das ist keine Einzelmeinung. „Ich ziehe vor Çatik den Hut“, lautet der Kommentar einer Lehrkraft. Das Intrigantentum sei vorbei. Der Wermutstropfen: Vieles, was bis 2017/18 und teilweise bis Sommer 2019 funktioniert habe, sei kaputt und müsse jetzt mühselig ersetzt werden, denn die Strukturen seien „unwiederbringlich dahin“, bedauert eine Mitarbeiterin.
„Strukturen und Konzepte gehen mit Menschen, aber durch die Erfahrungen, die andere Menschen mit reinbringen, werden Lücken geschlossen“, hält Jürs dagegen. Er war zuletzt Verwaltungsleiter in der Zehlendorfer Wilma-Rudolph-Sekundarschule und bringt von dort auch Ideen mit. Dazu gehört etwa die Arbeit mit Ehemaligen, den Alumni, die gern bereit seien, für ihre alte Schule etwas zu tun. Jürs berichtet auch begeistert von Çatiks Vorhaben, einen Schulball zu veranstalten. Motto: „Johanna tanzt“. Das sei Teil der Bemühungen, die Identifikation mit der „JES“ zu stärken.
Die Namensgeberin ist Teil der Lösung
Die Namensgeberin ist Teil der Lösung, wenn es darum geht, der Schule ein Gesicht zu geben und eine Geschichte: Da Johanna Eck in der Nazizeit Verfolgte versteckt hat, wurde sie vom israelischen Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ gewürdigt. Für die Schule ist es eine Selbstverständlichkeit, dass sie am 27. Januar, dem Tag der Auschwitz-Befreiung, auf Halbmast flaggte. Gerade noch wurden dazu die beiden Fahnenmasten repariert, berichtet Jürs.
Am selben Tag kam auch der Bildungsstadtrat des Bezirks, Oliver Schworck (SPD), auf Einladung in die Schule: Er sprach mit Schülern des 7. Jahrgangs, die ihm zunächst ihre „Forschungsergebnisse“ aus dem Ethikunterricht vorstellen wollten, bevor es eine Diskussion zum Thema „Wie viel Mut braucht Zivilcourage?“ gab – „altersgemäß, vergangenheitsbewusst, gegenwartsbezogen und zukunftsorientiert“, wie Jürs es beschreibt.
Auch in Sachen „Partizipation“ gebe es Aufbruchstimmung, betont Çatik. Er nennt den Klassenrat, der jetzt beispielsweise zum Wannseeforum fahre. Auch ein Mittagessenausschuss werde installiert: Wenn im Sommer der neue Vielzweckbau fertig ist, wird das Mittagessen in der dortigen neuen Mensa eine größere Rolle spielen als der Kiosk.
Die Ziel "Gemeinschaftsschule" als Motor
Die baulichen Veränderungen an der Schule sind immens. Jürs spricht vom „größten Schulbauvorhaben des Bezirks“: Sanierung und Neubau. Der Schule kommt entgegen, dass es zur Straße hin eine unbebaute Flächen gibt, auf der ohne größere Probleme die Grundstufe entstehen kann, die dann Teil der Gemeinschaftsschule wird.
Das ist aber noch nicht alles: Es wurde entschieden, im kommenden Schuljahr auch eine neue Lern- und Begabungsförderung anzubieten, für die gerade mit unterschiedlichen Anbietern verhandelt wird. Zudem wird die Berufsorientierung gestärkt und die enge Kooperation mit dem Oberstufenzentrum für Gestaltung. Außerdem sollen Auslandsaufenthalte gefördert werden.
Und was, wenn das alles nicht trägt und zu wenige Eltern von Sechstklässlern die JES als Erstwunsch nennen? Der Schulleiter winkt ab: „Familien merken: Es ändert sich. Wir haben mit Schülern und Lehrern vor den Weihnachtsferien viele Grundschulen besucht und hatten im Januar einen erfolgreichen Tag der offenen Tür. Wir haben Mittel und Weg gesucht, das anzugehen. Ich habe die Hoffnung, dass es trägt“, sagt Çatik. Er wirbt jetzt erst mal dafür, dass Familien seine Schule als Zweitwunsch angeben. Dann kämen auch Bildungsinteressierte und der Neuanfang wäre leichter.
Wer vor der Anmeldefrist für die siebten Klassen (17. bis 26. 2.) die JES kennenlernen will, kann Unterricht miterleben. Anfragen an Sekretariat@johanna-eck- schule.de oder Tel. 90277-2676).
Viele neue Aufgaben nach der großen Krise
In alle Winde zerstreut sind die vielen Lehrer, Sonderpädagogen, Sozialarbeiter und Sekretärinnen, die freiwillig vorm Unfrieden in der Johanna-Eck-Schule geflüchtet waren oder gegen ihren Willen gehen mussten. Die meisten kamen in anderen Schulen unter oder fanden andernorts neue Aufgaben.
Die umstrittene Schulleiterin Mengü Özhan-Erhardt, die im August abberufen worden war, stand zwar noch am Dienstagmorgen als Schulleiterin im Online-Schulporträt der Bildungsverwaltung, ist aber der Landeskommission gegen Gewalt zugeordnet, wie man der Homepage der Senatsverwaltung für Inneres entnehmen kann.
Das Netzwerk vieler Kollegen, die sich zum Teil noch aus der Vorgängerschule, der Werner-Stephan-Oberschule (WSO), kannten, hat über die Krise hinaus gehalten. Einige haben sich jetzt unter dem Dach der Bürgerstiftung auf der Plattform „Schule gemeinsam gestalten“ wiedergefunden. Dort bieten sie Beratung zu verschiedenen Bereichen des Schullebens an.
Initiator der Plattform ist der langjährige Fach- und Vertrauenslehrer der Johanna-Eck-Schule (JES) Reiner Haag: Da seine Partizipations- und Anti-Gewalt-Konzepte wie der Klassenrat, die Guardian Angels und das Schülerversprechen an der JES nicht mehr erwünscht waren, arbeitet er als Pensionär nicht mehr die JES-Kollegen ein, sondern berät andere Schulen. Sein nächster Einsatzort werde die angesehene Heinrich-von-Stephan-Schule in Moabit sein, berichtet Haag.
Die Experten machen weiter - anderswo
Ebenfalls zum Team gehört der Cybermobbing-Experte Michael Retzlaff, der zuletzt Referatsleiter am Landesinstitut für Schule und Medien war und früher ebenfalls an der WSO arbeitete. Er trifft bei "Schule gemeinsam gestalten" auf die pensionierte JES-Leiterin, Hannelore Weimar, die nicht nur Vorgängerin von Mengü Özhan-Erhardt war, sondern auch von der WSO zur JES kam. Das gilt auch für ihre ihre JES- Stellvertreterin, Silke Donath, die ebenfalls inzwischen an einer anderen Schule arbeitet.
Das alte Netzwerk hält
Der frühere WSO-Leiter und spätere Abteilungsleiter der Bildungsverwaltung, Siegfried Arnz, sagte am Montag, er freue sich "über die Initiative seiner ehemaligen Kolleginnen und Kollegen" und sei bereit, sie zu beraten und zu unterstützen. Arnz, der zunächst Hauptschulreferent war und im Auftrag des damaligen Bildungssenators Jürgen Zöllner (SPD) die Sekundarschulreform auf Verwaltungsebene umsetzte, hat gerade das Buch herausgegeben:„Schulaufsicht im Wandel“ heißt es und ist im Raabe-Verlag erschienen. Zudem engagiert sich Arnz bei der Deutschen Gesellschaft für Demokratieerziehung und im Projekt „Schulen in kritischer Lage“ der Robert-Bosch-Stiftung.
Einer von denen, die unter Özhan-Erhardt zwangsversetzt werden sollten, der aber nach Protesten blieb, ist Paul Wellenreuther. Er ging dann aber dennoch wegen der zugespitzten Situation an der JES und ist seither im Schulpsychologischen und Inklusionspädagogischen Beratungs- und Unterstützungszentren (SIBUZ) von Tempelhof-Schöneberg für Diagnostik und Beratung in den bezirklichen Schulen zuständig.
Anders als bei Wellenreuther wurde die Zwangsversetzung im Falle Ulrich Scholz durchgezogen. Auch er hatte schon zum Team der Werner-Stephan-Oberschule gehört. Er könne nur Gutes über seinen jetzigen Arbeitsort, die Willy-Brandt-Schule in Gesundbrunnen, berichten, sagte Scholz dem Tagesspiegel.