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Schüler und Lehrer suchen nach Kartoffeln.
© Susanne Grautmann

Schulgarten in Berlin-Mitte: Mit Äpfeln und Birnen gegen Schulfrust

Die Ernst-Reuter-Schule in Gesundbrunnen hat nicht nur Musterschüler. Mit Gartenarbeit erzielen die Lehrer erstaunliche Erfolge.

Vielleicht steckt die Essenz der Geschichte in diesem kurzen Austausch zwischen Lehrer und Schüler. „Na, Bilal, fühlst du dich wohl?“, fragt Henrik Heidelbach von der Ernst-Reuter-Schule seinen Schüler, der gerade im Birnbaum sitzt und Birnen pflückt. Die Antwort ist eindeutig: „Ja, Mann!“

Genau darum geht es in diesem Garten: dass die Schüler gerne in der Schule sind und mitarbeiten. Denn die Ernst-Reuter-Schule in Gesundbrunnen gehört nicht unbedingt zu den Berliner Schulen, die einem als Erstes einfallen, wenn man an hoch motivierte Schüler denkt. Im Gegenteil. Noch vor zwei Jahren galt die Sekundarschule als Problemschule, wurde als eine von zehn Berliner Schulen in das „School Turnaround“-Programm von Robert-Bosch-Stiftung und Senatsbildungsverwaltung aufgenommen. Die Kriterien für die Auswahl einer Schule: viele Schüler aus bildungsfernen oder schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen, Gewaltbereitschaft, schlechte Leistungen, ein hoher Krankenstand.

Hier gibt es Internetcafés und Wimpernboutiquen

Der Ortsteil Gesundbrunnen in Mitte, in dem die Ernst-Reuter-Schule liegt, gehört zu denen, die die geringste Entwicklung in Berlin aufweisen. Siebzig Prozent der 15-Jährigen hier leben von Transferleistungen. Das Straßenbild ist geprägt von Internetcafés, „Wimpernboutiquen“ und Bierlokalen, die „Tag und Nacht“ heißen. Auf den Gehwegen führen Anwohner rauchend ihre Hunde spazieren.

Heidelbach sagt, dass viele Kinder an seiner Schule aus Familien stammen, in denen niemand einer geregelten Arbeit nachgeht. „Leistungsbereitschaft gilt hier als extrem uncool“, sagt er. Auf dem Oberteil eines Schülers steht programmatisch „Behaviour 00“.

Darf ich den Rasen mähen?

Und nun das. „Darf ich heute wieder den Rasen mähen, Herr Heidelbach?“, fragt Edi, dem nicht der Ruf vorauseilt, ein Musterschüler zu sein. „Das habe ich doch gut gemacht letzte Woche?“ Die Schüler suchen die Anerkennung ihres Lehrers, das spürt man. Von ihm, Heidelbach, groß, breitschultrig, Doc-Martens-Schuhe, wollen sie gesehen werden.

Der 43-Jährige ist gelernter Landschaftsgärtner und hat den jetzigen Schulgarten 2013 zusammen mit einigen Lehrerkollegen einer Brache abgerungen, die vom ehemaligen Schulgarten übrig geblieben war. „Da haben wir richtig geknüppelt“, sagt Heidelbach. Wenn man die Fotos sieht, glaubt man das sofort.

„Der Herbst ist die schönste Zeit im Garten, weil man dann die Ernte einfahren kann“, findet Heidelbach. Für die Schüler der achten Klasse bedeutet das heute, Äpfel und Birnen aus den Bäumen und Kartoffeln aus der Erde zu holen. Anfangs wirken sie noch reichlich unbeholfen, aber kaum sind Leitern und Kisten aus dem Schuppen geholt, sitzt der erste Schüler auch schon im Baum und schüttelt die Zweige, als gäbe es kein Morgen. Ein Apfelregen geht auf die Wiese nieder. Soll er aber nicht. Die Äpfel sollen keine Druckstellen bekommen, die Achtklässler werden daraus noch ihr eigenes Apfelmus herstellen. Heidelbach pfeift seine Schüler also zurück und weist sie an, erst mal eine Plane unter den Zweigen aufzuspannen. Geht doch.

Nebenbei verteilt Heidelbach noch ganz andere Hinweise. Zischt einer „Halt die Klappe“ seinem Mitschüler zu, interveniert er. „Probier’s doch mal mit ‚Reduziere deine Wortfrequenz’. Das hat die gleiche Wirkung und ist viel eleganter“, sagt er und grinst. Es dauert nicht lange, und Edi versucht sich daran. Nur bei der „Frequenz“ verhaspelt er sich noch.

Auch in Biologie und anderen Fächern spielt der Garten eine Rolle

Die Arbeit im Schulgarten ist eingebettet in das Fach WAT (Wirtschaft, Arbeit, Technik). Die Leistung, die die Schüler darin erbringen, wird benotet. Dabei zählt aber nicht, wie viele Kilo Äpfel einer gepflückt hat. Heidelbach und seine Kollegen bewerten, wie leistungsbereit die Schüler sind, wie sie in der Gruppe zusammenarbeiten, wie viel Verantwortung sie übernehmen. Auch in den anderen Fächern spielt der Garten eine Rolle: In Biologie fertigen die Schüler Infotafeln über die Pflanzen im Garten an, in der Holzwerkstatt entstehen Liegestühle und Gartentische, in Kunst gestalten sie Etiketten für die Marmeladengläser.

Dass die Voraussetzungen für den Lernerfolg unter solchen Bedingungen besser sein können als im Klassenzimmer, meint auch Hans Merkens, emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft an der FU. „Jugendliche, die in der Schule kaum Lernerfolge haben, verlieren die Motivation. Wenn sie dann in Bereichen, die stärker praktisch orientiert sind, Erfolgserlebnisse haben, strahlt das auch auf ihre Lernbereitschaft in anderen Fächern aus“, sagt er.

Apfelmus mit deutschen Kartoffeln

Jetzt ist erst mal der Kartoffelacker dran. Was ist schon Apfelmus ohne Kartoffelpuffer? Also schnappen sich die Jugendlichen die Heugabeln und legen los. Einer grinst: „Deutsche Kartoffeln!“ Mit diesem Ausdruck werden unter Zuwanderern gerne die Deutschen belegt. Alles grölt. Es ist ein Moment der Verbundenheit unter den Schülern, die sich ansonsten gerne gegenseitig Sprüche reindrücken. Sagt einer: „Hier ist Unkraut“, findet sich definitiv einer, der pariert: „Du bist Unkraut!“ Trotzdem: Die Schüler haben angebissen, das merkt man. Daran ändert es auch nichts, dass eine Rolle Toilettenpapier aus dem dritten Stock geflogen kommt und sich in Bahnen über die Sträucher legt. Amir will wissen, ob man Möhren im Schulgarten aussäen könnte, David plant schon, auch im Garten seiner Mutter Kartoffeln anzubauen. Und Ahmed murmelt zum Abschied: „Hat Spaß gemacht, Herr Heidelbach.“

Ein Schüler der Ernst-Reuter-Schule bei der Apfelernte.
Ein Schüler der Ernst-Reuter-Schule bei der Apfelernte.
© Susanne Grautmann

Susanne Grautmann

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