zum Hauptinhalt
Werner Nickisch ist Lesepate an der Heinz-Brandt-Schule in Weißensee.
© Kitty Kleist-Heinrich

10 Jahre Lesepaten in Berlin: Freunde fürs Lesen

Seit zehn Jahren fördern Lesepaten Kinder und Jugendliche – alles ist freiwillig. Besonders für Sekundarschüler werden noch Helfer gebraucht.

Lässig an die Ziegelwand gelehnt steht ein Grüppchen Jungs mit Kapuzenpullover an diesem sonnigen Apriltag im Pausenhof der Heinz-Brandt-Oberschule in Weißensee. Die Augen einiger Mädchen, die auf den Stufen sitzen, verschwinden schon hinter Sonnenbrillen. Und Ruben und Edgar, 14 und 15 Jahre, haben sich wie jede Woche auf den Weg in den leeren NaWi-Raum im dritten Stock gemacht. Die Neuntklässler werden gleich indirekte Rede üben und Konjunktive wie „äßen“, sie werden eine Erzählung von Bertolt Brecht über die Emanzipation einer 72-Jährigen laut lesen. Sie machen das freiwillig: Ihr Lesepate Werner Nickisch ist wieder zu Besuch.

Seit zehn Jahren fördern ehrenamtliche Lesepaten in Berlin Schüler direkt an den Schulen beim Lesen – individuell nach dem aktuellen Bedarf des Schülers, einzeln oder in Kleingruppen. Und jede Woche stärken sie auch das Prinzip Freiwilligkeit in der Institution Schule, denn alle Beteiligten machen auf eigenen Wunsch mit: die Ehrenamtlichen, die Schüler und auch die teilnehmenden Schulen. Das Programm startete am 1. Februar 2005 und wuchs rasant– innerhalb des ersten Jahres von fünf Pilotschulen, darunter die mittlerweile aufgelöste Wartburgschule in Moabit und die Wedding-Grundschule, auf 45 Schulen mit fast 50 Lesepaten. Die Initiatorin und ehemalige Bildungssenatorin Sybille Volkholz, die das Projekt zwischen 2005 und Ende März 2015 leitete, reagierte damit auch auf die Ergebnisse der Pisa-Studien, die wiederholt zeigten, dass die Lesekompetenz in Deutschland stark vom sozialen Status der Familien abhängig ist.

Lesepaten bieten auch AGs an

Lesepaten gehen an Schulen, an denen vierzig – oder wie in Berlin häufig eher bis zu achtzig – Prozent der Schüler lernmittelbefreit sind, weil ihre Familien Transferleistungen bekommen. Getragen wird das Programm vom „Bürgernetzwerk Bildung“, das im Verein Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI) angesiedelt ist.

„Schule ist eine Zwangsveranstaltung“, sagt Lesepate Werner Nickisch im NaWi-Raum der Heinz-Brandt-Schule und erntet ein zustimmendes, lang gezogenes „Ja“ von Ruben. Nickisch freut sich, dass er als Lesepate jede Woche neu und konkret auf die Jungs eingehen kann. Mal hat er geholfen, ein Referat vorzubereiten, mal mit ihnen über die Terroranschläge auf das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“ diskutiert. Jetzt gerade gibt es im Deutschunterricht ein Zeitungsprojekt, deswegen übt er mit ihnen die direkte und indirekte Rede und lässt in die Übungen ganz nebenbei ein paar Sätze über seine Reise nach Venedig und andere Touren einfließen. Ruben und Edgar wirken dadurch erst recht aufmerksam.

Nickisch war bis zur Rente selbst Lehrer, vor zwei Jahren zog er nach Berlin. Es freue ihn, wenn seine Kompetenzen gebraucht werden, sagt er. Die Lesepaten kommen aus ganz unterschiedlichen Berufen. Wie sie die Schüler unterstützen, steht ihnen frei. Manche Lesepaten bieten mit ihrem jeweiligen Fachwissen eigene AGs an. Der Verein kümmert sich stark um die Anerkennung und langfristige Bindung der Freiwilligen. Über 130 Paten sind schon seit zehn Jahren dabei.

Auch Teenager brauchen Förderung

Die freiberufliche Autorin Korinna Schadt pendelt nach ihrem Umzug jede Woche aus Brandenburg an die Heinz-Brandt-Schule, um sich dort weiter mit der 16-jährigen Hava zu treffen. Die Schülerin mit den Erstsprachen Tschetschenisch und Russisch ist seit der 6. Klasse in Berlin und bereitet sich gerade auf die Prüfungen für die Berufsbildungsreife vor. Die beiden haben schon Hausaufgaben gemacht oder für Deutsch „Romeo und Julia“ gelesen, manchmal auch mithilfe von Zeichnungen und unter Einsatz der Hände. „Ich fühle mich verantwortlich“, sagt Schadt.

Auch Lesepate Nickisch weiß, dass er mit der Förderung der Teenager eine besondere Lücke schließt. Seit 2007 kooperieren die Lesepaten auch mit Kitas und Sekundarschulen, doch für die Jugendlichen ist es am schwierigsten, Freiwillige zu finden. Umgekehrt falle es Jungs in dem Alter besonders schwer, Hilfe anzunehmen.

Es geht auch um Stärkenförderung

An der Heinz-Brandt-Schule startete man im Frühling 2014, mittlerweile gibt es zwölf Lesepaten, erzählt Deutschlehrer Stefan Grzesikowski, der die Lesepaten an der Schule koordiniert und betreut. Von über 2000 Lese- und Lernpaten in Berlin seien nur 130 an Sekundarschulen. Gutes Textverständnis ist wichtig, um auch bei komplizierteren Aufgaben in den verschiedenen Fächern nicht den Anschluss zu verlieren. Das Schulsystem geht aber davon aus, dass nach der Grundschule alle gut lesen können.

„Es geht aber auch um Stärkenförderung“, betont Grzesikowski. Die Schüler seien „nicht arm und bedauernswert“, alle unterschiedlichen Niveaustufen seien vertreten. Er habe Schüler, die mit etwas Input und Anstoß ein Studium schaffen können.

„Gerade weil es persönlich ist, kann ich mir die Sachen gut merken“, sagt Ruben über das Lernen mit dem Lesepaten Werner Nickisch. Der Umgang ist von Respekt geprägt. „Wie ein Kumpel“, beschreibt ihn Edgar, der beim Vorlesen große Fortschritte gemacht hat. Bevor Edgar beim Lesen loslegt, leiht er sich gerne das kurze metallene Lineal seines Paten und legt es unter die erste Zeile. Ein kleines, eingespieltes Ritual.

Auch im Unterricht gibt es Erfolge: Edgars Deutschnote hat sich verbessert, Ruben bekam gute Rückmeldung auf ein Referat. „Das sind die beiden“, will Werner Nickisch abwiegeln, doch die Schüler blicken ihn an. „Da brauchen Sie gar nicht bescheiden zu sein“, sagt Ruben.

Zur Startseite