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Zwei Schüler der Mahlsdorfer Kiekemal-Grundschule bei einem Strategiespiel.
© Kitty Kleist-Heinrich

Inklusion: Auf dem Weg zu einer Schule für alle Kinder

Die nächste große Reform steht bevor: In inklusiven Schulen gehen Kinder mit und ohne Behinderungen in die gleiche Klasse. Dafür werden Förderzentren geschlossen und Sonderpädagogen an Regelschulen eingesetzt.

Niklas hat einiges zu erledigen. „Das Auto müsste hierhin“, sagt er und verschiebt das bunte Fahrzeug nach rechts. Es passt, Niklas nickt. Der Viertklässler ist konzentriert bei der Sache. „Rush Hour“ heißt das Spiel, das er sich zur Bearbeitung ausgesucht hat. Dabei muss er kleine Autos in die richtige Ordnung dirigieren. Was für Niklas vor allem ein Spiel ist, trainiert sein räumliches Vorstellungsvermögen. Und Spaß macht es auch.

Niklas besucht die 4b der Mahlsdorfer Kiekemal-Grundschule. Die Klasse hat Unterricht in der Lernwerkstatt: Eine Stunde lang darf jedes Kind selbst entscheiden, womit es sich beschäftigen will; zur Wahl stehen Materialien für Deutsch, Mathe und Wahrnehmung. Auch wenn es nicht leichtfalle, sagt Lehrerin Birgit Kütz: „Als Lehrer muss man sich zurückhalten.“ Statt Frontalunterricht ist individuelles Lernen das Motto.

Die Kiekemal-Grundschule ist seit rund zwei Jahren Inka-Modellschule – Inka, das steht für „inklusive Schule auf dem Weg“. Im Rahmen des Schulversuchs soll erprobt werden, wie Regelschulen Kompetenz entwickeln können im Umgang mit Kindern mit den sonderpädagogischen Förderschwerpunkten „Lernen“ und „Emotional-soziale Entwicklung“. Die inklusive Schule, der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung – das ist die nächste große Reform, die den Schulen in den kommenden Jahren bevorsteht.

Für die Schulen bedeutet das: neue Methoden, neue Strukturen, neue Abläufe. Gestartet ist der Versuch im Schuljahr 2009/2010 an sechs Hellersdorfer Grundschulen, eine zweite Phase mit zehn weiteren Schulen in Marzahn-Hellersdorf hat in diesem Schuljahr begonnen. Die Zwischenbilanz sei positiv, sagt Schulleiterin Katrin Bloch. „Aber wir sind noch lange nicht da, wo wir hinwollen.“

Das Dings. Spielerisch Begriffe raten.
Das Dings. Spielerisch Begriffe raten.
© Kitty Kleist-Heinrich

Die Modellschulen haben vom Bezirk jeweils 10 000 Euro zur Einrichtung einer Lernwerkstatt bekommen. Mit Inka haben sich vor allem die Strukturen geändert. Bisher steht am Ende der zweiten Klasse bei auffälligen Kindern die Diagnostik. Stellt ein Sonderpädagoge einen Förderbedarf fest, muss die Schule entscheiden: Kann das Kind mit Extraförderung in der Klasse bleiben oder muss es auf ein Förderzentrum wechseln?

Diese Diagnostik gibt es an den Inka-Schulen nicht mehr. Alle Kinder bleiben bis zum Ende der Grundschulzeit zusammen. „Statt der klassischen Testung setzt sich ein Team aus Inka-Lehrerin, Klassenlehrerin und Erzieherin zusammen, diskutiert den Entwicklungsstand und erstellt individuelle Pläne“, sagt Bloch. „Wir wollen ein Kind nicht darauf reduzieren, was es nicht kann.“ Ob Niklas oder einer seiner Mitschüler eine Lernbehinderung haben könnte, spielt in der 4b keine Rolle.

Damit einher geht die neue Bemessung der sonderpädagogischen Förderung. Statt wie bisher pro Kind werden die Förderstunden den Inka-Schulen pauschal zugewiesen – basierend auf der Annahme, dass etwa sechs Prozent der Kinder eine besondere Förderung brauchen. 2,5 Stunden wöchentlich ab Klasse 3 gibt es für sechs Prozent der Schüler; bei 430 Schülern stehen an der Kiekemal-Grundschule rund 70 Stunden zur Verfügung. „Die Stunden kann ich flexibel einsetzen“, sagt Bloch. Jedes Kind könne kurzfristig besondere Förderung bekommen – ohne das Stigma einer Diagnose.

Räume und qualifiziertes Personal fehlen

Zwei Sonderpädagogen konnte Bloch anstellen – auch, weil das Erwin-Strittmatter-Förderzentrum im Bezirk geschlossen wurde. Genau so soll nach den Plänen der Politik der inklusiven Schule der Weg bereitet werden: Der Großteil der Förderzentren soll geschlossen und sowohl Schüler als auch Lehrer an Regelschulen untergebracht werden; die verbleibenden Förderzentren sollen zu inklusiven Schwerpunktschulen werden. Das Konzept des ehemaligen Bildungssenators Jürgen Zöllner (SPD) geht, gestützt auf eine Rechnung des Pädagogikprofessors Ulf Preuss-Lausitz, davon aus, dass sich diese Umsteuerung „weitgehend kostenneutral“ erreichen lässt.

Inka ist auch ein Test dafür, ob diese Annahme aufgeht. Betroffene Eltern und viele Fachleute schauen deshalb skeptisch nach Hellersdorf. Der oft geäußerte Vorbehalt: Inka sei ein politisches Projekt, der Erfolg werde erzwungen. Viele Eltern befürchten, dass ihre behinderten Kinder durch die Umsteuerung am Ende zwar gemeinsam mit nicht behinderten Kindern zur Schule gehen, dort aber schlechter gefördert werden als im Förderzentrum.

„Die im Konzept zugrunde gelegte Förderquote in Höhe von 5,5 Prozent ist eine Sparquote“, kritisiert etwa Inge Hirschmann, Vorsitzende des Grundschullehrerverbandes und Leiterin der Kreuzberger Heinrich-Zille-Grundschule, an der seit vielen Jahren Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen – mit großem Erfolg. Und Landeselternsprecher Günter Peiritsch ist verärgert über die pauschale Zumessung der Förderstunden: „Die Eltern wollen doch wissen, was mit dem einzelnen Kind passiert!“ Viele Eltern gesunder Kinder wiederum befürchten, dass die Regelschulen die Inklusion nicht bewältigen können – mit negativen Folgen für alle Kinder.

Wie entscheidend die Ausstattung für die erfolgreiche Systemreform ist, zeigt sich an den Hellersdorfer Modellschulen. Denn obwohl die Schulen Geld für eine Lernwerkstatt bekommen haben, konnte laut Projektkoordinatorin Ilka Knaack nicht überall ein solcher Lernort eingerichtet werden – aus Platzgründen. Platzmangel setzt auch an der Kiekemal-Grundschule der Einführung individueller Lernformen Grenzen. „Unsere Zimmer haben keine Nebenräume, die bräuchten wir aber, um Klassen teilen zu können“, sagt Bloch.

Der Knackpunkt aber ist die personelle Ausstattung. „Ohne genügend qualifiziertes Personal ist Inklusion nicht zu machen“, sagt Inge Hirschmann. Und Katrin Bloch räumt ein, dass ihr bei Krankheitswellen nichts anderes übrig bleibe, als die Sonderpädagogen zur Vertretung einzusetzen statt in der Zusatzförderung und der Lernwerkstatt. Wie akut das Problem ist, zeigt ein Blick in die Lerntagebücher der 4b: Eigentlich sollten Niklas und die anderen jede Woche eine Stunde in der Lernwerkstatt arbeiten. Doch der letzte Eintrag liegt zwei Monate zurück.

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