Interview: „Man darf nicht fragen: Bei wem lohnt sich Inklusion?“
Stephanie Loos über den Schulerfolg ihres autistischen Sohnes, die Pläne der Politik und die Sorgen betroffener Eltern.
Frau Loos, seit Oktober nehmen Sie an den Konsultationen über das Inklusionskonzept teil. Wie ist Ihre Zwischenbilanz?
Ich bin sehr enttäuscht darüber, wie der Prozess abläuft. Die Verwaltung hat sich zwei Jahre Zeit gelassen, das Konzept zu entwickeln; daraufhin haben wir Eltern in einer Resolution kritisiert, dass wir nicht einbezogen wurden. Nicht einmal der Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen wurde beteiligt. Dabei ist es die Pflicht der Politik, die Betroffenen zu beteiligen – das ist in der UN-Behindertenrechtskonvention vorgeschrieben. Die Konsultationen sind keine tatsächliche Beteiligung. Dort bekommen wir gesagt: Danke, wir haben das zur Kenntnis genommen. Mehr nicht. In den Protokollen wird nicht einmal erkennbar, wer welchen Standpunkt geäußert hat.
Was sind aus Ihrer Sicht die größten Schwachstellen des Konzeptes?
Vieles ist darin noch gar nicht festgelegt. Im Fokus stehen Kinder mit Lernbehinderungen und emotional-sozialem Förderbedarf. Aber es geht ja um alle Kinder, man darf nicht unterscheiden, bei welchem Kind sich Inklusion lohnt und bei welchem nicht! Und was die vorgesehenen Schwerpunktschulen angeht: Da besteht die Gefahr, dass damit wieder neue Sonderschulen entstehen – das widerspricht dem Prinzip der wohnortnahen Schulen. Auch der gesetzlich und menschenrechtlich festgeschriebene Ausbau der Schulassistenz ist völlig offen. Hier geht es gerade viele Schritte rückwärts.
Ihr Sohn ist Autist und besucht die vierte Klasse einer Regelschule bei Ihnen im Viertel. Was bedeutet das für Sie?
Er war zunächst ein Jahr lang in einem weiter entfernten Förderzentrum für geistige Entwicklung. Im Vergleich dazu ist es unheimlich erleichternd und wunderbar, wenn wir etwa unterwegs eine Erzieherin aus der Schule treffen, weil sie um die Ecke wohnt, oder auch Mitschüler, die ihn ansprechen. Als Autist sagt er vielleicht kurz „Hajo“ (Hallo) und schaut schnell wieder weg – aber er kommt in Kontakt. Er fühlt sich jetzt viel wohler und hat immense Fortschritte gemacht.
Welche zum Beispiel?
Früher hat er nicht mehr als fünf Leute um sich herum ertragen, und heute sitzt er die meiste Zeit mit 22 anderen in der Klasse. Und wenn es ihm zu viel oder zu laut wird, kann er mit seiner Assistenz im Nebenraum entspannen. Das funktioniert sehr gut. Dabei sahen die Prognosen ganz anders aus. Es war kaum denkbar, dass er anfangen wird zu sprechen und zu schreiben. Inzwischen lernt er lesen – und fängt darüber an zu sprechen.
Viele Eltern sehen in den Förderzentren einen geschützten Raum für ihr Kind. Was hat Ihnen das Vertrauen gegeben, dass Ihr Sohn es an der Regelschule schafft?
Mir hat Mut gemacht, dass uns das Jugendamt in Friedrichshain-Kreuzberg – im Gegensatz zur Schulbehörde – von Anfang an unterstützt hat. Wir konnten im Rahmen einer Gastbeschulung ausprobieren, ob es in der Schule funktioniert – mit Erfolg. Mithilfe der Schulassistenz haben wir für meinen Sohn ein sehr individuelles System etabliert. Aber ich kann die Sorgen vieler Eltern nachvollziehen. Solange die Schule um die Ecke nicht entsprechend ausgestattet ist, so lange werden viele Eltern ganz berechtigt sagen, es geht nur im Förderzentrum.
Was wünschen Sie sich, wie inklusive Schule in Berlin umgesetzt werden könnte?
Man müsste die Regelschulen so ausstatten, dass die qualifizierte Betreuung von Kindern mit Behinderungen dort gesichert ist. Dafür braucht man mehr qualifiziertes Personal, aber auch die räumlichen Voraussetzungen müssen geschaffen werden. Wenn man für einen Zeitraum von zehn Jahren einen ressort- und behördenübergreifenden Finanzierungstopf bereitstellt, könnte man das erreichen. Dann würden auch viele Förderzentren automatisch auslaufen: Weil die Eltern keine Schutzräume für ihre behinderten Kinder mehr bräuchten. Der Idealfall in meinen Augen wäre, man öffnete umgehend die Förderzentren und wüchse mit gemeinsamen Klassen hoch.
Stephanie Loos ist stellvertretende Vorsitzende des Berliner Elternzentrums, das Eltern von autistischen Kindern berät. Mit ihr sprach Barbara Kerbel.
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