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Das Metropol-Theater am Nollendorfplatz
© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Schöneberg: Wo die Herzen heißer schlagen

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 77: Schöneberg.

Viele russische Exilliteraten haben in Schöneberg gelebt. Ich war deshalb nicht überrascht, vor Wladimir Nabokows ehemaligem Wohnhaus in der Motzstraße eine Gruppe russischer Touristen stehen zu sehen. Die Exkursionsleiterin erzählte auf Russisch etwas über die berühmten Revolutionsflüchtlinge des Kiezes – aber ihre Zuhörer waren erkennbar nicht bei der Sache. Mit schreckgeweiteten Augen sahen sie einem Mann hinterher, der an einer Hundeleine einen zweiten Mann spazieren führte.

Zufällig fand an jenem Tag in Schöneberg gerade das Folsom-Festival statt, Europas größtes Straßenfest für schwule Fetischkultur. Männer mit Polizeimützen, Ledermasken und geschlitzten Latexhöschen paradierten an den irritierten Russen vorbei. Die Unglücklichen hatten sich für ihre Literaten-Tour den einen Tag des Jahres ausgesucht, an dem Berlin so aussieht, wie Westeuropa im russischen Propagandafernsehen jeden Tag aussieht.

Wer nach Sex sucht, findet ihn in Schöneberg natürlich auch an anderen Tagen. Auf meinem Weg durch Berlins wohl sinnenfrohsten Ortsteil hatte ich Marlene Dietrich im Ohr: Das war in Schöneberg im Monat Mai / Ein kleines Mädchen war auch dabei / Das hat den Buben oft und gern geküsst / Wie das in Schöneberg so üblich ist.

Zwischen Marlene Dietrich und Straßenstrich

Als die Dietrich das sang, durchlebte Berlin gerade seine erste erotische Erdbebenphase, in der Schöneberg mit seinen Tanzkabaretts und Transvestitenbars das Epizentrum war. Eine lange sinnliche Traditionslinie zieht sich seitdem durch die Geschichte des Ortsteils: Christopher Isherwood schrieb in der Nollendorfstraße seine „Berlin Stories“, Billy Wilder sammelte am Victoria-Luise-Platz Inspirationen für seine Geschlechterkampfkomödien, neben Marlene Dietrich wurden in Schöneberg Aktstar Helmut Newton und Zotenkönig Hugo Egon Balder geboren, Jeffrey Eugenides arbeitete hier an seinem Hermaphroditen-Roman „Middlesex“.

Die Kehrseite des Schöneberger Geschlechterlebens ist der Strich rund um die Kurfürstenstraße. An der Ecke Potsdamer sah ich ein Mädchen auf absurd hohen Pfennigabsätzen den Bürgersteig entlang staksen, schwankend wie eine bekiffte Giraffe, an der Seite eines älteren Mannes, der unbeteiligt vor sich hin starrte. Das Mädchen hielt ein Telefon ans Ohr gepresst und sprach ohne Pause Bulgarisch. Gemeinsam verschwanden die beiden in der dunkelsten Ecke eines Parkplatzes. Keine fünf Minuten später kam das Mädchen alleine zurückgestakst, wieder – oder immer noch? – mit dem Telefon am Ohr.

Auf der anderen Seite des Parkplatzes liegt Berlins größter Sexshop, das LSD („Love Sex Dreams“). In der Spielzeugetage lauschte ich den Beratungsgesprächen zwischen einem älteren Verkäufer und seinen Kunden, die einzeln oder paarweise den Laden betraten. Den einen nahm er galant die Scham („Jeder macht’s, keiner sacht’s“), den anderen bot er Orientierung bei der Dildo-Auswahl („Frauen kaufen größer als Männer“), manche führte er vorsichtig an 40-Zentimeter-Modelle heran („Wo ein Kinderkopf durchpasst, passt der auch durch“), wieder anderen erklärte er den Sitz des G-Punkts („Wenn du reinkommst, links oben“).

Wie viele Berliner Ehen, fragte ich mich, hatte dieser Schöneberger Eros wohl schon gerettet?

Fläche:10,6 km² (Platz 30 von 96)

Einwohner:120725 (Platz 6 von 96)

Durchschnittsalter: 42,0 (ganz Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Marlene Dietrich (Schauspielerin), John F. Kennedy (Berliner)

Gefühlte Mitte: Akazienstraße

76 Ortsteile hat Jens Mühling bereits besucht. Alle Folgen seiner Kolumne „Mühling kommt rum“ finden Sie auf unserer Internetseite unter www.tagesspiegel.de/96malberlin

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