Alkoholfreie Partys in Berlin: Raven auf Rübensaft
Partys veranstalten ohne Alkohol und Drogen? In Berlin? Das muss Satire sein. Doch Gideon Bellin meint das ernst – und will damit einen Trend setzen.
Am Tag danach bohren sich die Kopfschmerzen unerbittlich durch die Schläfen. Der von acht, neun, zehn Stunden Tanz geschundene Körper lässt sich nicht einen Zentimeter bewegen. Und auf der Zunge scheint ein totes, pelziges Tierchen zu liegen. Feiern gehen in Berlin, das heißt für viele: Drinks, Drogen, Zigaretten. Und davon viel.
Umso revolutionärer erscheint darum das, was Gideon Bellin macht. Partys, auf denen es nicht mal Sekt zum Anstoßen gibt. Partys, die um 18 Uhr anfangen und Punkt Mitternacht beendet sind. Partys, die das Wort „nüchtern“ schon im Namen tragen: „Sober Sensation“. Das ist keine Satire, er meint das völlig ernst.
Hedonismus ohne High-sein – geht das?
„In Berlin machen die Leute unter der Woche Detox und ziehen sich am Wochenende alles Mögliche rein, das ist doch paradox“, sagt Gideon Bellin und zählt auf, was es bei seinen Partys an der Bar gibt: Smoothies zum Beispiel, Limonade aus ungerösteten Kaffeebohnen, Kokoswasser, Kakao, demnächst vielleicht auch Ingwer-Shots.
Hedonismus ohne High-sein – geht das? „Wenn man es schafft, auf der Party eine Welt zu erschaffen, in der man dem Alltag entfliehen kann – klar.“ Darum ist er anspruchsvoll, was den Sound angeht, die Anlage muss stimmen. Und die Musik: weniger Techno, mehr House, mehr Gesang und Wärme. Bei jeder Party kommen Live-Instrumente zum Einsatz, Glitzer und Konfetti funktionieren auch nüchtern, glaubt Bellin. Und durch die Nase ziehen seine Gäste allerhöchstens subtile Aromen wie Pfefferminze, die im Raum versprüht werden.
Auf die Idee kam er bei einer Party im Ramadan
Auf die Idee mit den katerfreien Partys kam der 26-Jährige schon vor neun Jahren. Er war als DJ auf einem türkischen Geburtstag in der Nähe von Frankfurt am Main engagiert worden. Es war Ramadan und die Eltern bestanden darauf, dass kein Alkohol ausgeschenkt wird. „Zu der Zeit war ich selbst oft feiern und hab’ viel getrunken“, erzählt Bellin. Für die Party habe er sich dann besonders um die Musik bemüht und um spezielle Lichteffekte. Die Investition, sagt er, war es wert. „Total gute Atmosphäre, fast alle haben getanzt. Die Erfahrung blieb mir dann immer im Kopf.“
Irgendwann hatte er selbst genug vom Alkohol, der automatisch floss, sobald er feiern ging. Und er merkte: Auch ohne Bier und Schnaps konnte er Spaß haben. Die Idee zu den „Sober Partys“ verfestigte sich während seines Eventmanagement- und Tourismusstudiums in Berlin. Vor einem Jahr schließlich organisierte er mit seinem damaligen Mitbewohner die erste Ausgabe der Sober-Partyreihe. Heute trinkt Gideon Bellin zwar ab und zu etwas, aber nicht bis zum Exzess. Er will aber niemanden missionieren. Andersrum seien die Leute hingegen oft dogmatisch. „Man muss sich fast immer erklären, wenn man beim Weggehen nichts trinkt. Viele ziehen dann auch mit, weil es einen gewissen Gruppenzwang gibt.“
Statt Türsteher gibt es "Door Doctors"
Bei Bellins „Sober Sensation“-Partys sind alle gleich: vor allem gleich nüchtern. Vorglühen ist nicht erwünscht, am Einlass stehen statt miesgelaunter Türsteher hier „Door Doctors“, also Türärzte, die zum Spaß Pupillen und Puls checken. Auch das gehört zu Bellins Ansatz, eingefahrene Muster im Berliner Nachtleben zu durchbrechen: „Sonst ist es doch so, dass man gleich raus ist, wenn man nicht cool genug ist, in der Schlange zu laut spricht oder lacht. Bei uns ist der Empfang herzlich.“
Auf den nüchternen Raves erinnert wenig an die üblichen Berliner Clubs: Nur bis zu 150 Leute sind eingeplant, die Räume der wechselnden Locations sind eher luftig und hell. Außerdem gebe es einen Frauenüberschuss, sagt Gideon Bellin. Gefeiert wird mittwochs, die Party endet nicht mit der After Hour im nächsten Laden, sondern im Bett, denn am nächsten Tag ruft die Arbeit oder die erste Vorlesung. Partys also für die Leistungsgesellschaft? „So habe ich das noch nicht gesehen“, sagt Bellin und zögert. Viele der Gäste kämen, weil sie das neue Konzept interessiere, weil die Zeit anders vergehe, wenn man nicht betrunken ist, weil man fremde Leute besser kennenlerne. Auch Veranstalter aus der Szene, DJs aus dem Sysiphos oder dem Watergate seien schon vorbeigekommen, um sich die gesundheitsschonenden Partys anzuschauen.
Auch Partys in Hamburg soll es geben
Bellin glaubt, dass seine Events einen Markt haben. 2018 sollen die auch in Hamburg starten, dann vielleicht in Zürich und Kopenhagen. „Irgendwann Las Vegas, New York, London.“ Was seine Visionen angeht, ist Bellin weniger nüchtern: Warum nicht auch eine Sober-Bekleidungslinie, mit der die Träger Statements setzen können? Oder ein Sober-Musiklabel, das DJs und Künstler vertritt, die aus Überzeugung alkohol- und drogenfrei unterwegs sind? „Früher war das undenkbar, aber jetzt sind die Leute bereit dafür“, glaubt er. Erste Konkurrenz gibt es schon aus Köln: Die „Detoxrebels“ organisieren „Detoxnights“. Und die letzte Ausgabe des London-Exports „Morning Gloryville“ organisierte Gideon Bellin sogar selbst mit – bei diesen Frühaufsteher-Partys wird getanzt, um gut in den Tag zu kommen.
Wer sich in sozialen Netzwerken wie Instagram umschaut, bekommt in der Tat den Eindruck, dass Fitness für immer mehr Menschen nicht nur ein guter Vorsatz für das neue Jahr ist. Unzählige Bilder werden dort täglich unter Hashtags wie „detox“, „cleaneating“ und „healthyliving“ hochgeladen. Berlin gilt zudem als deutsche Veganerhauptstadt, Fitnesstrends wie Bouldern und Crossfit boomen hier. Vielleicht passen die „Sober Partys“ also doch besser als gedacht in die Stadt – und vielleicht gerade jetzt nach den Feiertagen.
Die nächste Party steigt am 10. Januar von 18 bis 24 Uhr im Tor Eins, Möckernstraße 43. Alle Infos und Tickets ab 10 Euro unter www.sobersensation.com
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