Provenienzforschung in Berlin: Raub und Rückkehr
Berlin ist Hauptstadt der Provenienzforschung. Diese spürt Kunst nach, die einst von den Nazis gestohlen wurde. Hier gab es die meisten jüdischen Sammlungen, hier blühte der Handel. Die Museen restituieren, doch so manches Stück darf bleiben.
Der Herr Direktor strahlt über das ganze Gesicht. Zärtlich streicht er über das cremeweiße Passepartout, das die Zeichnung sicher hält, gestützt in einem aufstellbaren Rahmen, der zum Einsatz kommt, wenn im Lesesaal des Kupferstichkabinetts ein besonderes Werk vorgeführt wird. Die Federzeichnung des Architekten Jean Baptiste Broebes von 1700 ist aber auch ein ausnehmend schönes Stück. Es zeigt, wie die Göttin Athene dem Preußenkönig Friedrich I. im Berliner Stadtschloss die Personifikationen der Künste vorführt. Bildhauerei, Malerei, Geschichte nähern sich ihm hintereinander mit ihren Attributen: Zirkel, Globus, Leinwand.
Direktor Heinrich Schulze Altcappenberg ist entzückt – nicht nur über die bezaubernde Szene auf dem Papier. Der Paradezug besitzt auch noch einen ganz besonderem Berlin-Bezug. Mit leuchtenden Augen erzählt Schulze Altcappenberg von einer Geschichte mit Happy End für sein Museum. Die Zeichnung darf im Kupferstichkabinett bleiben – nachdem sie als Raubkunst im Bestand der Sammlung dingfest gemacht worden ist. Glück für ihn. Normalerweise gehen solche Stücke an ihren einstigen Besitzer oder dessen Nachfahren zurück. Hier einigte sich das Museum mit den Erben des jüdischen Kaufmanns Fritz Haussmann, und die Stiftung Preußischer Kulturbesitz zahlte den gängigen Marktpreis als Ersatz.
Die Provenienzforschung hat den Fall gelöst, durch Recherchen in Archiven den eigentlichen Besitzer gefunden. Mittels Restitution ging das Werk an ihn zurück – und er überließ es dem Museum ein zweites Mal. Diesmal auf eigenen Wunsch. Provenienzforschung und Restitution, das sind für deutsche Museen in den letzten 25 Jahren schlagende Begriffe, seit sie sich ihrer jüngsten Vergangenheit stärker stellen müssen. Der Fall des Eisernen Vorhangs, die Öffnung der Archive, die Unerschrockenheit der Enkel-Generation der im Nationalsozialismus Verfolgten, ihre Ansprüche zu formulieren – all das hat zu einem neuen Umgang mit der Vergangenheit geführt. Seit Anfang 2016 arbeitet in Magdeburg das von Bund und Ländern gegründete Deutsche Zentrum für Kulturgutverluste, offizielle Anlaufstelle für Museen wie Privatbesitzer von Kunst. Von dort verlaufen die Fäden der meisten Fälle nach Berlin.
Die Broebes-Zeichnung im Kupferstichkabinett führt vor, was Provenienzforschung in ihrer Konsequenz bedeutet. Künftige Ausstellungen werden auf die verschlungenen Wege des Bildes hinweisen. Unversehens geht es nicht nur um eine Berlinensie der Barockzeit, sondern auch um während der Nazi-Diktatur begangenes Unrecht und seine Auswirkungen bis in die Gegenwart.
Bis zum Mauerfall war Raubkunst kaum ein Thema
Bereits vor neun Jahren wurde aus der Gemäldegalerie ein anderes Werk der Kollektion, der „Zug des Silen“ des Barockmalers Guiseppe Crespi, an die Familie restituiert. Der Sammler Haussmann konnte 1938 in die Schweiz emigrieren. Um die von den Nationalsozialisten auferlegten Ausreiseabgaben zu entrichten, übergab er seine wertvollsten Stücke zuvor dem Kaiser-Friedrich-Museum. Ein klarer Fall von „verfolgungsbedingtem Entzug“, wie der juristische Terminus lautet. Doch irgendwo mussten sich neben dem kapitalen Crespi noch andere Werke in der Obhut der Staatlichen Museen befinden, so viel ging schon 2007 aus den seit der Wiedervereinigung zugänglich gewordenen Archivmaterialien hervor. Systematisch ließ sich danach nicht suchen, die Spuren waren verwischt. Selbst die Unterlagen der Familie verrieten nicht, um welche Stücke es sich handeln könnte. Ihre Listen führten nur die Namen prominenter Künstler auf.
Erst in den vergangenen zehn Jahren hat sich mit der Provenienzforschung ein neuer Berufszweig etabliert, der sich just der Lösung derartiger Rätsel widmet. Bis zum Mauerfall war Raubkunst kaum ein Thema, erst nach 1989 wurde für die bislang wenig behelligten Ausstellungshäuser die Aufarbeitung ihrer nationalsozialistischen Geschichte zum heißen Eisen.
Zuvor schien die Sache bereits in den frühen Sechzigern mit den letzten Wiedergutmachungsverfahren der Bundesrepublik, den verebbenden Anfragen von Familienangehörigen abgeschlossen. Die Fristen galten als abgelaufen. Was bislang in den Museen hing oder in den Depots lagerte, galt als ihr Besitz, auch wenn immer wieder Diskussionen um die Rückgabe spektakulärer antiker Stücke an die Ursprungsländer aufflammten. Berlin besteht auf seiner Nofretete, das British Museum in London auf seinen Elgin Marbles, den Akropolis-Fragmenten. Was aber mit all den jüdischen Besitzern abgepressten Schätzen, die in den Sammlungshäusern landeten, was mit den im Handel in den dreißiger Jahren erworbenen Stücken?
Für Berlin kam die Konfrontation mit einem Donnerschlag 2006 durch die „Causa Kirchner“, die Restitution eines Hauptwerks des Expressionismus aus dem Brücke-Museum, auch wenn die Bundesrepublik und mit ihr die öffentlichen Museen längst eine Leitlinie zum Umgang mit Raubkunst besaßen. Zusammen mit 44 weiteren Staaten hatte Deutschland 1998 die Washingtoner Erklärung unterzeichnet, nach der durch die Nationalsozialisten entzogene Kunst den einst verfolgten Besitzern zurückzuerstatten sei. Mehr noch, dass die Museen selbst aktiv werden und ihre Sammlungen auf unrechtmäßigen Besitz überprüfen sollten, wie es in der ein Jahr darauf veröffentlichten Handreichung heißt. Aber erst die heftigen Auseinandersetzungen um die Restitution von Kirchners „Berliner Straßenszene“ aus dem Brücke-Museum, die zur Einberufung eines Untersuchungsausschusses im Berliner Abgeordnetenhaus führte, machte der Öffentlichkeit bewusst, was in den Depots womöglich noch schlummerte.
Das Land Berlin restituierte das Werk an die in England lebende Enkelin des jüdischen Sammlers, auch wenn der Förderverein des Museums ein Verfahren wegen Veruntreuung gegen den Senat einzuleiten suchte. Wenige Wochen später ging das Bild bei Christie’s für fast 30 Millionen Euro an Ronald S. Lauder, den Sprecher des World Jewish Congress, der es seitdem in seinem Privatmuseum „Neue Galerie“ in New York präsentiert.
Eine kleine Notiz kann entscheidend sein
Die Provenienzforschung befand sich damals noch in ihren Kinderschuhen. Wie kompliziert die Arbeit dieser neuen Wissenschaft ist, bei der jeder Kaufbeleg, jede Erwähnung in Geschäftsbüchern, in den Eingangsakten von Museen geprüft werden muss, vor welch heikler Aufgabe die Kunsthistoriker stehen, all das wurde schlagartig klar. Eine kleine Notiz oder auch ihr Fehlen kann über die künftigen Besitzverhältnisse entscheiden.
Für den Direktor des Berliner Kupferstichkabinetts ist Provenienzforschung heute Alltag. Seit etlichen Jahren wird der Bestand des Hauses durchforstet. Mehr noch, Heinrich Schulze Altcappenberg will Vorbild sein. Er hat ein Papier aufgesetzt, das systematisch die Herangehensweise für eine Riesensammlung aufzeigt: 16.000 Zeichnungen, Grafiken, Ölskizzen, Aquarelle muss er überprüfen, die nach 1933 erworben wurden und vor 1945 entstanden sind – die neuralgischen Jahre.
Vor dem gleichen Problem, der schieren Masse, stehen als „large-scale collections“ auch Kunstgewerbemuseen und Kunstbibliotheken. Das hat zugleich Folgen für den Umfang der Restitutionen. Über 200 Arbeiten hat das Berliner Kupferstichkabinett seit der Washingtoner Erklärung zurückgegeben, mehr als jedes andere Berliner Museum. Darunter befanden sich wertvolle Stücke wie die Federzeichnung van Goghs aus der Sammlung des Breslauer Unternehmers Max Silberberg, die für 8,5 Millionen Dollar in New York versteigert wurde und heute im New Yorker Museum of Modern Art hängt. Oder die „Zwei welken Blätter“ des Romantikers Friedrich von Olivier von 1817, die vor zwei Jahren in Berlin einen Rekord von 2,6 Millionen Euro erzielten. Die besondere Vorgeschichte mag die Bieter angestachelt haben.
Hanna Strzoda, Provenienzforscherin am Kupferstichkabinett, erinnert sich genau, wie sie den Fall recherchierte. Ihr gehen die Geschichten hinter den Fällen nahe, auch wenn sie „professionelle Distanz“ zu wahren sucht: „Schließlich geht es nicht nur um abstrakte Eigentumsfragen, sondern um Menschen und ihre Schicksale.“ So manches Mal ringt die Kunsthistorikerin um Fassung, etwa wenn sie in den Akten von einer jüdischen Familie liest, die Selbstmord beging, um einer Deportation zuvorzukommen. Einer späteren Notiz konnte sie entnehmen, dass SS-Beamte um den hinterlassenen Besitz schacherten.
Auch bei Marianne Schmidl, der einstigen Besitzerin der „Welken Blätter“, fiel Strzoda das Weiterlesen schwer. Die Urenkelin Friedrich von Oliviers musste das kostbare Stück, ihr Familienerbe, verkaufen, weil sie nach ihrer Entlassung als Bibliothekarin und Erhebung von Sonderabgaben für Juden darin die letzte Möglichkeit sah, an Geld zu kommen. Im Mai 1941 taucht das Werk auf einer Auktion in Leipzig auf, wo es die Berliner Nationalgalerie für ihre Sammlung der Zeichnungen erwirbt, die sich heute im Kupferstichkabinett befindet. Von Marianne Schmidl ist nur noch überliefert, dass sie 1942 ins polnische Ghetto Lublin deportiert wurde, danach verliert sich ihre Spur.
Die Museen bekennen sich zu ihrer Vergangenheit
Auch wenn Schulze Altcappenberg solche Schätze nur ungern ziehen lässt, steht für ihn eines fest: „Wenn sich etwas zu Unrecht in unserer Sammlung befindet, wenn Blut daran klebt, dürfen wir es nicht behalten.“ Hier hat sich die Einstellung grundlegend geändert. In der Nachkriegszeit wollten es die Kuratoren noch nicht allzu genau wissen, woher ihre Exponate stammten, die während des „Dritten Reiches“ und auch danach erworben worden waren, als die Museen die durch die NS-Beschlagnahmungsaktion „Entartete Kunst“ gerissenen Lücken im Bereich der Moderne zu schließen suchten.
Heute gehen die Häuser offensiv mit diesem dunklen Kapitel um. Sie recherchieren in ihren Archiven und präsentieren die Funde. Sie bekennen sich zu ihrer nicht immer rühmlichen Vergangenheit. Mit der Ausstellung „Die schwarzen Jahre“ im Hamburger Bahnhof betreibt die Nationalgalerie aktuell eine solch publikumswirksame Aufarbeitung par excellence. „Geschichten einer Sammlung 1933–1945“ lautet hier der Untertitel.
Eine weitere Wendung führte der Fall Gurlitt herbei. Mit dem vier Jahre zurückliegenden Fund in der Münchner Wohnung des Sohnes von NS-Kunsthändler Hildebrand Gurlitt rückten plötzlich auch die Privatbesitzer möglicher Raubkunst in den Blick. Mehr als tausend Bilder, vornehmlich Zeichnungen, ließ die Augsburger Staatsanwaltschaft beschlagnahmen, 500 standen zunächst unter Verdacht und sollten durch die von der Bundesregierung und Bayern eingesetzte Taskforce „Schwabinger Kunstfund“ untersucht werden. Mitte Januar wurde Kulturstaatsministerin Monika Grütters nun in Berlin der Abschlussbericht der Forscher überreicht.
Das Ergebnis musste enttäuschen. Auf der einen Seite der internationale Skandal, der Wirbel um den Erben, der sich kurz vor seinem Tod zur Washingtoner Erklärung bekannte und bei Raubkunst zur Restitution bereit erklärte, auf der anderen Seite die Provenienzforschung, die für ein abschließendes Ergebnis manchmal Jahre braucht – das wollte nicht zusammenpassen. Am Ende hatte sich nur für fünf Werke der Gurlitt-Sammlung der Verdacht erhärtet, erst zwei sind bisher restituiert. Nachdem die Taskforce aufgelöst wurde, wird am Zentrum für Kulturgutverluste in Magdeburg weitergeforscht. Für 117 Stücke der Kollektion gibt es noch Hinweise auf „NS-verfolgungsbedingten Entzug“, für 25 gilt „höchste Priorität“, sie sind stark verdächtig. Größere Entdeckungen sind trotzdem nicht zu erwarten.
Provenienzforschung ist zum erlernbaren Beruf geworden
Ob das frustriert? Hannah Strzoda arbeitet sich unverdrossen durch das Inventarbuch des Kupferstichkabinetts, das sämtliche Ankäufe aufführt: von Feuerbach bis Philipp Otto Runge, ob bei Paul Cassirer oder Ferdinand Moeller gekauft. Anschließend sichtet sie die Originale, dreht und wendet jedes Blatt, gerade die Rückseiten mit ihren Stempeln und Aufklebern verraten viel über die wechselnden Besitzer. Zuletzt konsultiert Strzoda das Zentralarchiv der Staatlichen Museen in Mitte, wo die Erwerbungsakten lagern, die Korrespondenzen mit Händlern und Künstlern.
Die Kunsthistorikerin gehört zur ersten Generation der Provenienzforscher in der Bundesrepublik, für die Berlin das Zentrum ist. Hier existierten bis 1933 die wichtigsten jüdischen Sammlungen, hier blühte der Handel. Nach Berlin führen viele Spuren, denn hier befinden sich auch die wichtigsten Archive, hier lassen sich Entschädigungs- und Wiedergutmachungsakten studieren. Waren die Pioniere dieser neuen Berufssparte noch Autodidakten, zur einen Hälfte meist Kunsthistoriker, zur anderen Historiker, die ihr eigenes Terrain absteckten und sich für Einzelfälle von Museen oder von auf Restitution spezialisierten Anwaltskanzleien beauftragen ließen, so ist Provenienzforschung heute zum erlernbaren Beruf geworden. Das Kunsthistorische Institut der Freien Universität bietet seit 2011 ein Modul zur Provenienzforschung an. Demnächst soll ein eigener Lehrstuhl entstehen – allerdings in Bonn. Die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung hat Geld für eine Stiftungsprofessur bei den Kunsthistorikern der Friedrich-Wilhelms-Universität bereitgestellt. Noch ist die Zahl der Provenienz-Profis überschaubar, man kennt sich, trifft sich regelmäßig im Arbeitskreis. Der Austausch ist elementar, um sich auf dem Laufenden zu halten. Was die Nationalsozialisten zu verschleiern suchten, indem sie bei Einlieferung in den Auktionshäusern die ursprünglichen Besitzer verschwiegen, muss mühsam rekonstruiert werden.
Die geplante Website der Staatlichen Museen zur „Galerie des 20. Jahrhunderts“, dem Vorläufer der Neuen Nationalgalerie, könnte dafür ein wichtiges Arbeitsmittel sein. Sie wird im März freigeschaltet. Bislang unbekannte Sammler, neue Verbindungen der Berliner Galerien tauchen darin auf, Anstoß für künftige Recherchen.
Kunst mit hohem emotionalem Wert
Zu den Nutzern wird dann auch die Rechtsanwältin Imke Gielen gehören. Wer sie in der Kanzlei Von Trott zu Solz Lammek am Kurfürstendamm besucht, stutzt am Eingang. Eine Gedenktafel neben der Tür erinnert an Jeanne Mammen. Zwischen 1919 und 1976 wohnte die Künstlerin hier ebenfalls im vierten Stock, allerdings im Hinterhaus, wo sie während des Nationalsozialismus im Verborgenen weiterarbeiten konnte – nicht verfolgt, aber doch gefährdet durch ihren expressiven Zeichenstil. Berliner Kunstgeschichte und „Drittes Reich“ kreuzen sich schon im Entree.
Von Trott zu Solz, das ist in Berlin ein bekannter Name in Sachen Restitution, die Kanzlei lieferte damals dem Senat das Gutachten zu Kirchners „Straßenszene“ und wurde dafür von den Gegnern der Rückgabe gescholten. Dass die Erben dem Land die einst für den Kauf gezahlten zwei Millionen Euro nach der New Yorker Versteigerung zurückerstatteten, ist den wenigsten bekannt, erzählt die Rechtsanwältin mit einer gewissen Bitterkeit. Doch sprechen möchte sie darüber eigentlich nicht mehr.
Lieber lobt sie im Namen der von ihr vertretenen Familie Haussmann die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, wie in einer Pressemeldung der Stiftung zu Jahresbeginn zu lesen ist. Dort wurden Restitution und Verbleib der Broebes-Federzeichnung im Kupferstichkabinett gemeldet. Gielen hatte den Fall betreut, Vertreter des Museums mit der in England lebenden Erbin des Kunstsammlers Fritz Haussmann zusammengebracht – und eine Einigung mit der Stiftung erzielt, die von sich aus auf die alte Dame zugetreten war.
Privatleute müssen die Herkunft ihres Kunstbesitzes nicht offenlegen
Auch für die Anwältin ist die Lösung ein Happy End. Zwar traf die Restitution kein prominentes Werk wie das Gemälde von Guiseppe Crespi, ebenfalls aus der Kollektion Haussmann, das in der Studiensammlung am Kulturforum hing. Aber geraubte Kunst besitzt für die Nachfahren häufig vor allem einen emotionalen Wert, manchmal ist sie die letzte Erinnerung an das einstige Zuhause. So erlebte Gielen, wie bei einem anderen Fall im Laufe der Recherchen ein Chardin seine Echtheit verlor, fortan nur noch als Werk im Stil des französischen Malers galt und im Wert dadurch sank. Für die Familie blieb das Bild dennoch eine Kostbarkeit.
Imke Gielen kennt das Geschäft seit vielen Jahren, ihre Kanzlei vertritt seit der Wiedervereinigung jüdische Familien, damals noch als Rechtsvertreterin bei der Restitution von Grundstücken und Immobilien. Als die Prozesse Mitte der Neunziger abgeschlossen waren, stand die Frage nach den ebenfalls im „Dritten Reich“ verloren gegangen Sammlungen weiter im Raum – ein neues Feld für die Anwälte. Gielen verfolgt den umgekehrten Weg wie die Museen, die ausgehend vom vorhandenen Objekt ihre Nachforschungen beginnen. Die Juristin fragt zuerst, welche Werke eine Familie besaß, wie die Objekte abhandengekommen sind, dann legt sie los. Mithilfe der Lost-Art-Datenbank beim Zentrum für Kulturgutverluste in Magdeburg, das rund 100.000 Objekte aufführt, können Suchende fündig werden. Die Kanzlei tritt dann an das entsprechende Museum heran. Mal handelt es sich um ein kleines Blatt, das nur mit 600 Euro beziffert ist, mal um ein bedeutendes Gemälde für 50.000 Euro.
Die prozentual beteiligte Kanzlei geht allen Fällen nach. Eine Mischkalkulation, denn so manche verloren gegangene Kollektion umfasst über tausend Objekte, große und kleine. Etwa die des Kölner Industriellen Ottmar Strauß, der auf Kunstgewerbe spezialisiert war, darunter auch Meißner Porzellan. „Der Großteil dieser unzähligen verlorenen Gegenstände befindet sich heute wohl in Privatbesitz“, sagt Imke Gielen. „Wo sollen sie sonst auch sein? Sie können ja nicht alle in Museen sein.“ Das Auftauchen der Sammlung Gurlitt bestätigt diese Vermutung. Anders als Museen können Privatpersonen nicht gezwungen werden, die Herkunft ihres Kunstbesitzes offenzulegen oder gar herauszugeben, wenn es sich um gutgläubigen Erwerb handelt oder der Kauf weit zurückliegt.
Dann und wann kommt ein Stück auf den Markt, wenn die nachfolgende Generation den Geschmack der Eltern nicht mehr teilt und es etwa zur Auktion in die Villa Grisebach gibt. Das Berliner Versteigerungshaus residiert einen Katzensprung von der Kanzlei Gielens entfernt in einer alten Villa in der Fasanenstraße, West-Berlins Meile für den gehobenen Kunsthandel. Wird ein Lesser Ury, ein Max Liebermann angeliefert, sind Florian Illies, Micaela Kapitzky, Markus Krause, alle drei Partner der Villa Grisebach, sogleich alarmiert. Denn beide Maler gehörten zu den bevorzugten Künstlern jüdischer Sammler. Bislang galt der Signatur-Stempel Liebermanns als Ausweis erster Güte, heute weiß man, dass hier Unrecht geschah. Die Bilder wurden erst gestempelt, als sich die Witwe in höchster Not befand und verkaufen musste, um auszureisen. Martha Liebermann gelang die Emigration nicht mehr, am Vorabend ihrer Deportation nahm sie sich das Leben.
Museen sichern sich ab, bevor sie ein Werk ankaufen
Bei der Villa Grisebach kommt es immer wieder zu solchen Einlieferungen mit „problematischem“ Hintergrund, wie es im Jargon heißt. Pro Auktion drei bis vier Werke, die Zahl nimmt zu. Häufig wurde die Kunst von den Käufern ahnungslos erworben oder stammt von den Großeltern. Mit den Recherchen für den Auktionskatalog kommt erst die ganze Vorgeschichte ans Licht. „Die Bereitschaft der Anbieter wächst, sich mit den Erben zu einigen“, sagt Markus Krause, Experte für Moderne Kunst im Hause.
Versteigern kann die Villa Grisebach solche Bilder nicht. Gutgläubiger Besitz gilt für den künftigen Besitzer nicht mehr. Für den seriösen Markt ist ein solches Bild tabu. Will der Einlieferer es verkaufen, muss er einen Kompromiss mit den Erben finden, das Auktionshaus hilft hierbei als Vermittler. Schließlich ist es am künftigen Erlös beteiligt. Meist geht ein Drittel des Preises an den einstigen Besitzer, zwei Drittel an den Einlieferer. Der Kompromiss kommt auch vor dem Hintergrund zustande, dass der Einlieferer sein Werk zurückziehen kann. Verkaufen muss er schließlich nicht. Der Markt ist also sensibilisiert. Auch die Museen müssen sich akribisch absichern, bevor sie ein Werk kaufen. Nicht immer gelingt das. Der Förderverein des Bode-Museums hat einen Modus gefunden, als er die Muttergottes mit dem Jesuskind des Ulmer Bildschnitzers Michel Erhart für die Skulpturensammlung erwarb. Die Provenienz ließ sich nicht vollständig klären, zumal ein Wiener Kunsthändler, der bei der „Arisierung“ jüdischen Besitzes eine Hauptrolle spielte, zu den Zwischenstationen gehört. Trotzdem hat der Kaiser-Friedrich-Museumsverein sich zum Kauf entschlossen – und eine Ausfallbürgschaft bereitgestellt, sollte es durch neue Erkenntnisse der Provenienzforschung zu einer Restitution kommen.
Für Petra Winter, die Leiterin des Berliner Zentralarchivs, ist dieser Weg beispielhaft für den künftigen Ankauf ungesicherter Werke, um überhaupt Erwerbungen tätigen zu können. „Die Museen stehen mit dem Rücken zur Wand“, sagt sie. „Provenienzforschung kann nicht alle Lücken schließen. Häufig gelingt es nur, einen Verdacht auszuschließen.“ Die Historikerin und Archivarin ist nicht nur Herrin über 4000 laufende Meter Schriftgut – sämtliche Museumsakten der Stiftung, diverse Künstlernachlässe, die Fotosammlung und Baupläne lagern bei ihr –, sie koordiniert außerdem den Einsatz der Forscher in den Häusern der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. „Wir sind das schlechte Gewissen und historische Gedächtnis“, umschreibt sie ihren Arbeitsplatz. Auf Überraschungen ist sie gefasst, wie 2004 bei Caspar David Friedrichs „Watzmann“. Aus den Erwerbungsakten von 1937 war bis dahin nicht zu erkennen, dass der einstige Besitzer zum Verkauf gezwungen war. Während der Verhandlungen mit den Erben und dem anschließenden Ankauf durch eine Bank, die das Werk als Dauerleihgabe zur Verfügung stellt, blieb der „Watzmann“ an seiner Wand in der Alten Nationalgalerie hängen. Die Rückgabe ging für das Bild bewegungslos vonstatten, still und leise. Aus Diskretionsgründen blieb auch der Preis ungenannt. Das Glück für alle bestand darin, dass es bleiben durfte.
Lesen Sie hier: "Wie Berlin loslassen lernte" - eine kleine Geschichte der Restitutionen aus Berliner Besitz.
Dieser Text erschien zunächst in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin. Die Autorin hat zusammen mit Meike Hoffmann, Mitglied der Taskforce „Schwabinger Kunstfund“, die Biografie „Hitlers Kunsthändler. Hildebrand Gurlitt 1895–1956“ geschrieben. Das Buch erscheint am 9. März im C.H. Beck Verlag.