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Demonstration gegen den Terrorismus des "Islamischen Staats" in Berlin.
© dpa

Beratungsstelle in Berlin-Friedrichshain: Radikalisierte Jugendliche: Eltern suchen Hilfe

Wenn muslimische Söhne und Töchter radikal werden, verzweifeln oft Eltern. Besuch in einer Beratungsstelle in Friedrichshain, die derzeit so häufig wie nie helfen muss.

In einem unscheinbaren Ladenlokal in Friedrichshain steht seit Wochen das Telefon nicht mehr still. Eltern aus Berlin, aus Nordrhein-Westfalen, aus Hessen und Bayern rufen hier an: hilflos, verzweifelt, panisch. Sie fürchten, dass ihre Söhne und Töchter radikalen islamischen Predigern in die Hände gefallen sind und womöglich nach Syrien oder in den Irak ausreisen wollen, um sich dem „Islamischen Staat“ anzuschließen. Manchmal rufen auch Großeltern an, weil sie sich um ihre Enkel sorgen. Claudia Dantschke und ihre beiden Mitarbeiter von der Berliner Beratungsstelle „Hayat“ im Zentrum Demokratische Kultur gehören im Moment zu den gefragtesten Menschen in Deutschland, wenn es darum geht, wie man Jugendliche von einem radikalen Weg abbringen kann.

Dantschke und ihre Mitarbeiter kennen sich aus mit dem Islam, mit Islamismus und internationalen Terrornetzwerken. Claudia Dantschke ist Islamwissenschaftlerin und beobachtet seit vielen Jahren, was in den deutschen und besonders in den Berliner Moscheen vor sich geht. Sie weiß, wie sich Prediger entwickelt haben, manche zum Guten, manche zum Schlechten. Doch längst sind Dantschke und ihre Mitarbeiter viel mehr als Islamexperten. Sie sind Seelsorger, Psychologen und Familientherapeuten.

Für Jugendliche ist die Salafisten-Community Familien-Ersatz

Sie versuchen, die aufgebrachten Väter und Mütter, die bei ihnen anrufen, zu beruhigen, sie aufzuklären, und sie tun alles, um die Jugendlichen von ihrem radikalen Weg abzubringen, falls das nötig ist. Dazu sind viele Gespräche mit den Eltern nötig, mit Sozialarbeitern, Moscheen, mit der Polizei und Jugendämtern.

„Hayat“ (arabisch für "leben") gibt es seit 2012. Seitdem haben Dantschke und ihr Team 101 Familien beraten, 72 Familien stehen sie im Moment zur Seite. Davon sind 20 Fälle „sicherheitsrelevant“. Das heißt: Die Jugendlichen stehen kurz vor der Ausreise ins Dschihad-Gebiet oder sind im Kontakt mit terroristischen Predigern. Vier junge Menschen konnte sie in den vergangenen zwei Jahren von ihrem radikalen Weg abbringen. Einige der anderen sind mittlerweile tot.

Auf Youtube, Facebook oder Twitter vermittle der IS den Jugendlichen: Bei uns kannst du Geschichte schreiben, du bist auf der Seite der Starken. Das spreche Jugendliche an, sagt Dantschke in ihrem Büro in Friedrichshain. Besonders in der Pubertät suchten viele nach Vorbildern und eindeutigen Identitäts- und Rollenmustern. „Die Jugendlichen gehen da nicht primär hin, um Köpfe abzuschlagen.“

Aufklärerin und Seelsorgerin. Claudia Dantschke von der Beratungsstelle "Hayat"
Aufklärerin und Seelsorgerin. Claudia Dantschke von der Beratungsstelle "Hayat"
© promo/Aypa

Claudia Dantschke und andere Experten wie der Islamwissenschaftler Götz Nordbruch vom Berliner Verein „Ufuq“ betonen, dass die Gruppe der Jugendlichen, die sich radikalisieren, eine kleine Minderheit ist. Aber auch darin sind sich viele Experten einig: Salafismus ist nicht nur eine religiöse Strömung, sondern auch ein Phänomen der Jugendkultur. Salafistische Prediger wie Pierre Vogel cool zu finden und IS-Videos anzuschauen, sei weit verbreitet unter Jugendlichen. Für Jugendliche, die in Familien aufwachsen mit wenig emotionaler Bindung, könnten die „Brüder“ und „Schwestern“ in der Moschee oder in der virtuellen Salafisten-Community zum Familienersatz werden. Das eindeutige, schwarz-weiße Weltbild der Salafisten gebe Orientierung in einer zunehmend komplizierten und vielfältigen Welt. Auch der Habitus der Salafisten sei attraktiv für junge Menschen. Männer, die sich dem Salafismus zugehörig fühlen, tragen oft ein langes Gewand und Bart, was eine vermeintliche Gelehrtheit zum Ausdruck bringen soll. Besonders auf Jungen und Mädchen, die sonst oft wegen ihrer arabischen oder türkischen Herkunft diskriminiert werden und unter Minderwertigkeitskomplexen litten, wirke so etwas anziehend. Viele Jugendliche seien auch einfach auf der Suche nach jemandem, der ihnen Antworten auf ihre religiösen Fragen gibt.

Eltern sind überfordert, wenn die Kinder auf einmal fromm werden

Viele Eltern sind überfordert, wenn der Sohn oder die Tochter auf einmal fünfmal am Tag betet, sich verschleiert oder sich nur noch nach den islamischen Speisevorschriften ernähren will, sagt Claudia Dantschke. In säkularen Familie führe es oft zu Konflikten, wenn die Kinder auf einmal fromm werden, und die Jugendlichen fühlen sich erst recht nicht mehr in der Familie zu Hause, sondern in der Moschee oder bei Youtube-Predigern.

Meistens sind es deshalb säkulare Familien, die bei „Hayat“ Hilfe suchen. Dantschke und ihr Team raten den Eltern, die Kinder ernst zu nehmen, ihnen zuzuhören, Fragen zu stellen, den neuen Lebensstil nicht abzuwerten und den Jugendlichen entgegenzukommen, wo es geht. „Hauptsache, die emotionale Bindung reißt nicht ab“, sagt Dantschke.

Einen Vater hat sie gerade beschworen, er solle der Tochter erlauben, eine Ausbildung zur Kindergärtnerin anzufangen. Obwohl hinter dem Berufswunsch der radikale Prediger aus der Moschee stehe, obwohl die Eltern andere Pläne für die Tochter hatten. „Die junge Frau ist drauf und dran auszureisen“, sagt Dantschke. „Da müssen wir Zeit gewinnen, eine Ausbildung dauert, Menschen ändern sich.“ Dantschke gibt die Hoffnung nie auf.

Selbst wenn ein Sohn aus einem IS-Lager in Syrien zu Hause anrufe, sei es nicht zu spät. Wenn die Eltern ihm am Telefon sagten, wie sehr sie ihn lieben und Angst um ihn haben, könne das viel bewirken.

Schwerer als die Jugendlichen auf der emotionalen Ebene zu erreichen, sei es, die radikale Ideologie in ihren Köpfen aufzubrechen, wenn sie sich dort einmal festgesetzt habe, sagt Dantschke. Am ehesten helfe dann, die Jugendlichen mit ihren eigenen Argumenten zu schlagen. Sie zum Beispiel darauf hinzuweisen, dass sich auch einige salafistischen Prediger klar gegen die Anwendung von Gewalt ausgesprochen und die blutrünstigen Taten des "Islamischen Staates" als "unislamisch" kritisiert haben.

Viele Berliner Lehrer scheuen die Auseinandersetzung mit dem Islam

Wenn Eltern bei „Hayat“ anrufen, sind die Kinder meistens schon ein Stück weit radikalisiert. Mehr und mehr Lehrer, Sozialarbeiter und auch Moscheen fragen sich, was sie tun können, um zu verhindern, dass es überhaupt so weit kommt. Denn Lehrer beobachten immer häufiger, dass salafistische Videos unter muslimischen Jugendlichen kursieren. Es gebe einen regelrechten Wettbewerb unter den Schülern, wer der beste Muslim sei, sagt die Neuköllner Schulrätin Gisela Unruhe. Wer die Salafisten und den IS gut finde, bekomme Pluspunkte in den Augen mancher Mitschüler. Viele Lehrer bräuchten Unterstützung, was das Thema angeht, beobachtet Unruhe, viele hätten auch einen Widerwillen, sich mit Religion und besonders mit dem Islam auseinanderzusetzen. „Das hilft nicht gerade weiter“, sagt Unruhe – und hat die Neuköllner Lehrer für November zum Workshop eingeladen.

IS-Videos anzuschauen, das sei halt „hip“, aber mehr nicht, hätten ihr Schüler gesagt, erzählt eine Lehrerin im Lehrerzimmer der Kreuzberger Carl-von-Ossietzky-Oberschule. Sie solle sich mal keine Sorgen machen. „Wir nehmen das aber sehr wohl ernst“, sagt die Schulleiterin. Die Schule arbeitet regelmäßig mit Initiativen zusammen, die sich mit dem Islam, Islamismus oder Antisemitismus besser auskennen als das Kollegium und auch, damit die Schüler ab und zu auch mit externen Experten diskutieren können.

Die Carl-von-Ossietzky-Schule holt sich Hilfe von außen

An diesem Mittwoch findet im Klassenraum nebenan ein Workshop "Medienkompetenz" für Zwölftklässler statt. Aycan Demirel von der "Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus" zeigt einen Dokumentarfilm. Es geht um ein Schwimmbad in München, in dem es spezielle Frauen-Schwimm-Nachmittage geben soll. Das Angebot richte sich besonders an muslimische Frauen, sagt die Fernsehreporterin. Zu Beginn des Filmes wird die Stimmung angeheizt, im weiteren Verlauf argumentiert der Film sachlich das Pro und Contra. Einige Schüler sagen sofort, der Film sei ja "total diskriminierend". Am Ende der Stunde haben viele ein differenzierteres Bild und können die Mechanismen des Films ganz gut analysieren. Sie sollen lernen, sich ihre Informationen über die Welt nicht nur von RTL und Facebook zu holen, sagt Aycan Demirel. Wenn die Diskussionen in allen Oberschulen so verlaufen wie in diesem Workshop, bräuchte man sich wohl keine Sorgen zu machen um Jugendliche. Zumindest solange Journalisten dabei sind, kann hier keiner den Salafisten und schon gar nicht dem "Islamischen Staat" etwas Positives abgewinnen. "Es ist erschreckend, wie diese Leute die Religion ausnutzen, um andere zu töten", sagt der 17-jährige Cem.

Hilfesuchende Eltern können sich an die Hotline von Hayat wenden unter Tel: 030-23408464 oder an die Hotline des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge unter Tel. 0911-9434343

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