Rollbergviertel in Berlin: Muslime aus Neukölln im Visier von Salafisten
Der IS-Terror hat Auswirkungen bis nach Neukölln: Junge Muslime werden zum Ziel von Propaganda, es wird versucht, sie für den "Heiligen Krieg" zu begeistern. Und zwischen Sunniten und Schiiten wird aus Freundschaft Hass.
In Syrien kämpfen Muslime gegen Muslime. Im Irak morden die Milizen des „Islamischen Staates“ im Namen Allahs. Die Auswirkungen sind bis nach Berlin spürbar, bis ins Neuköllner Rollbergviertel. Nachbarn sind auf einmal verfeindet, Mädchen-Cliquen spalten sich, Jungen, die noch vor einem Jahr befreundet waren, reden mit Abscheu übereinander. „Headhunter“ versuchen, junge Männer und Frauen in ihre Moscheen zu locken und sie für den „Heiligen Krieg“ zu begeistern. Tiefe Gräben sind entstanden – nicht erst seit gestern. „Doch der Syrien-Krieg und der IS-Terror haben die Spaltung extrem verschärft“, sagt Sevil Yildirim.
Die 30-jährige Psychologin ist im Rollbergviertel aufgewachsen und arbeitet dort im Mädchen-Treff „Madonna“. Sie spricht jeden Tag mit den Jugendlichen im Kiez und registriert sehr früh, wenn sich die Atmosphäre verändert. So wie nach der Ermordung des libanesischen Ex-Premiers Rafiq Al-Hariri 2005. Hariri war Sunnit, die Ermittler vermuteten schiitische Milizen hinter dem Attentat. „Nach dem Attentat krachte es hier im Kiez zwischen Sunniten und Schiiten“, sagt Gabriele Heinemann. Sie leitet „Madonna“ und kennt das Viertel seit 30 Jahren. Nach dem Attentat hätten sich die schiitischen Mädchen zurückgezogen. „Madonna“ gelte seitdem als sunnitische Einrichtung. „Absurd“, sagt Heinemann.
Das Rollbergviertel, südlich der Boddinstraße, grob eingegrenzt von Hermannstraße und Karl-Marx-Straße, hat seit längerem Probleme. Kriminelle arabische Großfamilien und Jugend-Gangs terrorisierten den Kiez in den 90er Jahren. Dann griff die Polizei durch, Nachbarschaftsvereine gründeten sich, Häuser wurden saniert, es kehrte etwas Ruhe ein. „Die soziale Lage hatte sich gerade verbessert“, sagt Gabriele Heinemann. Bei „Madonna“ habe es früher keine Rolle gespielt, welcher Religion die Jugendlichen angehören, die sich hier treffen. Umso tragischer ist die jüngste Entwicklung, die sich mit dem Krieg in Syrien und im Irak verschärfte. Denn auch in Syrien bekämpfen sich Schiiten, Sunniten und Aleviten. Die Milizen des „Islamischen Staats“ haben auch deshalb großen Zulauf, weil sie als Sunniten gegen die Schiiten vorgehen und den im Irak marginalisierten Sunniten vermeintlich Rechte zurückgeben.
In Neukölln werfen sich sunnitische und schiitische Gruppen gegenseitig vor, vom Westen korrumpiert zu sein, sagt Sevil Yildirim. Die ideologische Spaltung in „wir Muslime“ gegen „den Westen“ habe es auch schon vorher gegeben. Sunnitische wie schiitische Moscheen heizten die Stimmung weiter an und vertieften die Spaltung. Manche belassen es nicht beim Beten und Predigen. Sie betreiben „Reisetourismus“ nach Syrien und in den Irak, wie es Sevil Yildirim und Gabriele Heinemann nennen. Junge Männer und noch jüngere Frauen werden in den „Heiligen Krieg“ geschickt und helfen den dortigen Sunniten oder Schiiten – im Glauben, sie täten ihrer Religion etwas Gutes. Nach Erkenntnissen des Berliner Landeskriminalamts sind „Personen im mittleren zweistelligen Bereich nach Syrien ausgereist, um dort an Kampfhandlungen teilzunehmen oder den Widerstand in sonstiger Weise zu unterstützen“. Der Großteil der Ausgereisten seien keine Kämpfer.
Die Hälfte der 16 Moscheen in Nord-Neukölln hält Sevil Yildirim nicht für „sauber“, wie sie es ausdrückt. „Das sind keine Terror-Moscheen, aber die sind nicht in der Lage unsere westlichen, demokratischen Werte zu vermitteln.“ Den Jugendlichen werde eingetrichtert: Die Deutschen seien verdorben und könnten Muslime nicht leiden; muslimische Jugendliche würden diskriminiert, bekämen keinen Ausbildungsplatz, dagegen müsse man kämpfen. Der Kampf bestehe aber nicht in Hausaufgabenhilfe, sondern indem man betet, sich abschottet und sich für Gebetsräume an Schulen engagiert. „Nicht gerade förderlich fürs Zusammenleben“, sagt Yildirim.
"Gute Muslime" und der Kampf gegen IS
Nicht alle Moscheen, die Abgrenzung predigen und Hass säen, gehören zu den Salafisten. Aber die meisten Salafisten predigen Abgrenzung und eine fundamentalistische Auslegung des Korans. Viele Salafisten treffen sich in Berlin in der Al-Nur-Moschee in Neukölln. Der Zustrom an jungen arabischen Muslimen und deutschen Konvertiten steigt stetig. Mittlerweile gibt es Ableger in Wedding und Tempelhof. Auch in Neukölln haben sich in den vergangenen zwei Jahren vier, fünf neue Gruppierungen in Hinterhöfen und Kellern angesiedelt, die den Verfassungsschützern Sorge bereiten. „Die Salafisten breiten sich aus wie eine Krake“, sagt Arnold Mengelkoch, der Migrationsbeauftragte im Bezirk Neukölln. In der Tempelhofer Ibrahim-Al-Khalil-Moschee predigte vor einer Woche ein Scheich über den Krieg in Syrien und im Irak. Er äußerte zwar keine offene Sympathie für den Terror des „Islamischen Staates“ und betonte, im Islam sei das Töten verboten. Aber nur weil ein paar Westler geköpft worden seien, sagte er, bedeute das nicht, dass man als guter Muslim den Kampf des Westens gegen den IS unterstützen dürfe. Der Westen sei schließlich schuld an allem.
Ähnlich denken auch Gläubige in der „Afrikanischen Moschee“ in der Leykestraße, die ans Rollbergviertel grenzt. Zum Freitagsgebet treffen sich in Kellerräumen 50, 60 meist afrikanische und arabische Männer. Sie kommen zu Fuß, fahren im klapprigen Auto vor oder im schicken Geländewagen. Frauen sind nicht zugelassen. Die Polizei hat ein Auge auf die Moschee. Für Claudia Dantschke vom Zentrum für Demokratische Kultur gilt sie als einer der radikalen „Hotspots“ in Berlin.
Nach dem Gebet beantworten der stellvertretende Imam Fadi El-Hammoud und einige Vereinsmitglieder beim Tee Fragen. „Wir kommen nur zum Beten zusammen, Politik spielt hier keine Rolle“, sagt El-Hammoud. Deshalb will er sich auch nicht zum „Islamischen Staat“ äußern. Nur so viel: Jemanden den Kopf abzuschlagen, sei Blödsinn. Der Islam sei eine friedliche Religion, und man dürfe niemanden gegen seinen Willen zum Islam zwingen. Er rate den Gläubigen auch, nicht der Meinung eines einzelnen Predigers zu glauben, sich mehrere Interpretationen einer Koranstelle anzuschauen und dann die auszuwählen, „die dem eigenen Herzen näher liegt“. Dass sich im Rollbergviertel nebenan Sunniten gegen Schiiten stellen und umgekehrt, davon wisse er nichts. „Wir sind alle Brüder.“ Aber er könne ja nicht in die Köpfe der Betenden hineinschauen, sagt El-Hammoud. Er wisse nicht, was die Männer machen, wenn sie die Moschee verlassen.
Sevil Yildirim hat schon öfter mitbekommen, was einige Männer nach dem Freitagsgebet machen: Sie sprechen Jugendliche im Kiez an und laden sie zum Tee in die Moschee ein. Andere fahren mit protzigen Autos vor und bieten den Jungen an, sie dürften auch mal fahren. Jugendliche, die den Lockrufen folgen, verändern sich, werden fromm, beten, grenzen sich ab, erzählt Yildirim.
Streetworker berichten, dass Jugendliche auch in Fitnessstudios und Frisörläden angesprochen werden. Auf dem Fußballplatz soll neulich eine Gruppe junger Männer Jugendlichen den Deal angeboten haben: Wenn ihr gewinnt, verschwinden wir. Wenn wir gewinnen, kommt ihr mit in die Al-Nur-Moschee. „Wir nehmen das sehr ernst, wenn wir so etwas hören“, sagt der Migrationsbeauftragte Mengelkoch. „Die Moscheen müssen sich dafür verantworten.“ Die Ausrede, man wisse nicht, was jemand außerhalb der Moschee tue, lässt er nicht gelten.
Viele Jugendliche seien verunsichert, was sie von all dem halten sollen, sagt Sevil Yildirim. „Die Werber geben den Sehnsüchten der Jugendlichen Raum.“ Sie geben ihnen Anerkennung, Gemeinschaft und das Gefühl, an einer heilswichtigen Sache beteiligt zu sein. Wer aus dem Krieg zurückkehre, werde verehrt „wie ein Heiliger“. Sie ist dafür, dass der Staat Rückkehrern mit dem Entzug des deutschen Passes droht. „Dann würden die sich dreimal überlegen, ob sie ausreisen.“ Und Sevil Yildirim hat noch eine Methode, eine ebenso einfache wie anstrengende. Für die Jugendlichen da sein, Zeit haben, sie ernst nehmen und: reden, reden, reden.