20-Jährige am U-Bahnhof Ernst-Reuter-Platz getötet: Verdächtiger ist psychisch krank
Ein 28-Jähriger hat am Dienstagabend in Berlin eine junge Frau vor eine U-Bahn gestoßen. Das Opfer starb vor Ort. Der Verdächtige kam in eine psychiatrische Einrichtung.
Am Vormittag nach dem Tod der jungen Frau im U-Bahnhof Ernst-Reuter-Platz deutet nichts mehr auf den schrecklichen Vorfall am Dienstagabend hin. Volle Züge kommen an, Menschen quellen heraus, strömen zum Ausgang oder gehen zielstrebig auf das kleine Backwarengeschäft zu. Dort steht Nurgul, die hier Kaffee und Brötchen verkauft. "Ich habe nichts davon mitbekommen, dafür war es zu spät", sagt sie. "Nur als ich heute Morgen zur Arbeit kam, war noch alles gesperrt. Ich musste draußen warten." In den sieben Jahren, die sie hier arbeite, sei so etwas noch nicht passiert. "Traurig" sei das, sagt Nurgul.
Am Abend zuvor war gegen 23.40 Uhr eine 20-jährige Frau zu Tode gekommen. Aus bisher unbekannten Gründen schubste ein 28-jähriger Mann die junge Frau vor einen Zug der Linie U2, als dieser gerade in den Bahnhof einfuhr. Die Frau wurde von der U-Bahn erfasst. Sie starb auf den Gleisen an ihren schweren Verletzungen.
Zeugen hielten den Verdächtigen fest
Zeugen alarmierten die Polizei und hielten den Mann fest, bis die Einsatzkräfte eintrafen und ihn festnahmen. Laut Polizei sollen sich "etliche" Menschen auf dem Bahnsteig aufgehalten haben, als sich die Tat ereignete.
Eine Mordkommission übernahm die Ermittlungen. Die Befragungen des Mannes dauerten noch an, hieß es am Mittwochmittag. Die Zeugen sollten im Verlauf des Tages vernommen werden, die Hintergründe der Tat seien noch unklar. Allerdings gehe man davon aus, dass sich das Opfer und der Verdächtige nicht kannten.
Bahnsteigvideo sichergestellt
Der U-Bahnhof Ernst-Reuter-Platz ist videoüberwacht. Die BVG sagte am Mittwochvormittag, man habe die Aufzeichnungen der Mordkommission übergeben. "Wir haben die Videoaufzeichnungen sichergestellt", bestätigte ein Polizeisprecher.
Nach Angaben des Sprechers gibt es derzeit keine Hinweise darauf, dass der 28-.Jährige bei der Tat unter dem Einfluss von Drogen oder Alkohol stand. "Wir haben dem Mann Blut für einen Test abgenommen. Das Ergebnis steht noch aus", hieß es. Auch prüfe man, ob der Verdächtige unter einer psychischen Erkrankung leide.
Polizei: Verdächtiger wegen mehrerer Delikte bekannt
Das RBB-Inforadio meldete am Mittwochmittag, dass der Verdächtige bereits polizeibekannt ist. Demnach soll der 28-Jährige in der Vergangenheit schon einmal vor Gericht gestanden haben, sei aber vom zuständigen Richter als "nicht schuldfähig" eingestuft worden. Nicht gesagt wurde, weswegen der 28-Jährige vor Gericht stand.
Die Polizei bestätigte auf Nachfrage, dass der 28-Jährige wegen Gewalt- und Eigentumsdelikten polizeibekannt ist. Unter anderem soll gegen ihn wegen Körperverletzung, Raub und Einbruch ermittelt worden sein. "Diese Taten soll er vorrangig im norddeutschen Raum verübt haben", sagte ein Sprecher. Es habe sich aber um "vereinzelte Vorgänge" gehandelt.
Staatsanwaltschaft: Mann stand in Hamburg unter Betreuung
Die Berliner Staatsanwaltschaft teilte am Mittwochmittag mit, dass sich der Verdächtige in den Vernehmungen bislang noch nicht zur Tat eingelassen habe. Sprecher Martin Steltner dementierte, dass der Mann von einem Richter als "nicht schuldfähig" eingestuft worden sei.
Steltner sagte, dass der Verdächtige ohne festen Wohnsitz sei und kurz vor der Tat aus Hamburg nach Berlin gereist war. "In Hamburg stand der Mann nach derzeitigem Kenntnisstand unter Betreuung", sagte Steltner. Am Dienstag habe der 28-Jährige vergeblich versucht, einen Schlafplatz in einer Obdachlosenunterkunft zu bekommen. In der Folge habe sich die Gewalttat ereignet. "Der Mann soll die Frau mit Anlauf vor die Bahn geschubst haben", sagte Steltner. Das Opfer sei an multiplen Traumata gestorben.
Gutachter: Verdächtiger psychisch krank
Der 28-Jährige wurde noch am Mittwoch von einem Gutachter untersucht. Dieser stellte fest, dass der Mann an einer psychischen Erkrankung leidet. Justizsprecher Steltner sprach von einer "Persönlichkeitsstörung". Am Mittwochabend wurde der Verdächtige vor einen Ermittlungsrichter geführt. Dieser entschied, den Mann in einer psychiatrischen Einrichtung unterzubringen.
Polizei sucht weitere Zeugen
Bereits am Mittwochvormittag hatte die Polizei einen Zeugenaufruf gestartet. Man möge sich bei der Mordkommission des Landeskriminalamtes in der Keithstraße 30 in Tiergarten unter der Telefonnummer (030) 4664–911555 oder bei einer anderen Polizeidienststelle melden.
Der Bahnhof wurde nach dem tödlichen Angriuff komplett gesperrt. Die U2 war nach BVG-Angaben bis Betriebsschluss gegen 1 Uhr in beiden Fahrtrichtungen unterbrochen. Zwischen Wittenbergplatz und Bismarckstraße wurde ein Ersatzverkehr mit Bussen eingerichtet. Ab Betriebsbeginn um 4 Uhr verkehrten die Züge wieder planmäßig, hieß es aus der Leitstelle der Verkehrsbetriebe.
Am Vormittag nach der Tat stehen zwei Sicherheitsbeamtinnen der BVG am Gleis. Aber nicht wegen des Unfalls, sagen sie, sie seien gleich wieder weg. Unter einer Informationstafel steht ganz verloren eine einzelne erloschene Kerze.
BVG: Einbau von Bahnsteigtüren unrealistisch
Mit Bahnsteigtüren, die erst öffnen, wenn dahinter der Zug eingefahren ist, wäre ein solcher Vorfall wohl zu verhindern gewesen. Die Nachrüstung ist aus Sicht der BVG allerdings unrealistisch: "Wir bräuchten für jeden Bahnhof eine Spezialanfertigung, die Türabstände aller Züge müssten genau passen, und an schmalen Bahnsteigen wie an der Friedrichstraße wäre kaum Platz für solche Trennwände", sagt BVG-Sprecherin Petra Reetz. Hinzu komme der Denkmalschutz. Wenn die Berliner U-Bahn nachgerüstet werden sollte, wäre ein über viele Jahre laufendes, vermutlich milliardenteures Investitionsprogramm nötig.
Fahrerin sah den Unfallhergang
Die Fahrerin des Unglückszuges hat nach Auskunft von Reetz einen schweren Schock erlitten und wird psychologisch betreut. Sie habe den Hergang des Sturzes der Frau mitbekommen "und diese fürchterliche Machtlosigkeit" erlebt, sagte Reetz.
Mehrere ähnliche Vorfälle in der Vergangenheit
Immer wieder hatte es in der Vergangenheit ähnliche Vorfälle gegeben. 2011 stieß eine Frau ein andere Frau vor einen einfahrenden Zug im Lichtenberger U-Bahnhof Magdalenenstraße. Der Zug konnte noch bremsen. Beide Frauen waren zuvor in Streit geraten. Kurz vor diesem Zwischenfall schubste eine Betrunkene während eines Streits auf dem S-Bahnhof Potsdamer Platz eine 68-jährige Frau in Richtung Gleis, die sich aber auf dem Bahnsteig halten konnte.
Ein Jahr später gab es einen Prozess, bei dem sich ein damals 20-jähriger Bundeswehrsoldat wegen solch einer Tat vor Gericht verantworten musste. Auf dem Bahnhof Friedrichstraße hatte er nach einem banalen Streit einen damals 17-jährigen Schüler ins Gleisbett der S-Bahn gestoßen. Die schnelle Reaktion des S-Bahn-Lokführers verhinderte Schlimmeres. Der Soldat wurde wegen versuchten Totschlags zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt.
Ende Oktober vorigen Jahres gerieten auf dem S-Bahnhof Landsberger Allee mehrere Männer in Streit. Bei der Auseinandersetzung wurde ein 22-Jähriger auf die Schienen der S-Bahn gestoßen. Zeugen konnten ihn noch rechtzeitig auf den Bahnsteig zurückziehen, bevor er von einem Zug erfasst worden wäre.
Mann wollte Frau vom Bahnsteig drängen
Schlimmeres wurde Ende November 2015 auch auf dem U-Bahnhof Rathaus Spandau verhindert. Dort hatte ein 42 Jahre alter Mann offenbar versucht, eine 17-Jährige vom Bahnsteig zu drängen. "Nur durch akute Gegenwehr der überraschten Frau, die sich schließlich zu Boden warf, konnte Schlimmeres verhindert werden", berichtete damals die Polizei. Der Fahrer der U-Bahn, die gerade in den Bahnhof einfuhr, leitete eine Vollbremsung ein und kam rechtzeitig zum Stehen.