Todesschuss auf Bewaffnete: Beamter bleibt im Dienst
Nach dem tödlichen Schuss im Märkischen Viertel wird Tathergang ermittelt Präsidium: Hilfe von Spezialeinheit SEK wurde nicht als notwendig erachtet
Teelichter, ein Kondolenzbuch und ein Kuscheltier stehen vor dem Hochhaus im Senftenberger Ring im Märkischen Viertel. Die Nachbarn trauern um Andrea H., 53 Jahre alt, die hier am Mittwoch von einem Polizisten erschossen wurde. Zwei Beamte waren gebeten worden, einen Vorführbeschluss des Amtsgerichtes zu vollstrecken: Die Frau sollte in einer Psychiatrie untergebracht werden. H. weigerte sich aber und griff einen Beamten offenbar mit einem Messer an. Ein Polizist schoss ihr mit seiner Dienstwaffe in die Brust. Gegen den Schützen wird – wie bei Schusswaffengebrauch üblich – ermittelt. „Wir prüfen, ob der Schuss gerechtfertigt war“, sagte Simone Herbeth von der Staatsanwaltschaft. Zum Alter und dem Dienstgrad des Schützen gab es keine Auskunft. Er soll aber ein erfahrener Mann aus einer Einsatzhundertschaft sein. Der Beamte wird psychologisch betreut, er habe umfassend ausgesagt, hieß es. Nun werden Zeugen befragt. Für eine Suspendierung vom Dienst gibt es laut Polizei keine Gründe.
Die entscheidende Frage für die Ermittler lautet: Hätte Andrea H. anders überwältigt werden können, zumal die eingesetzten Beamten Schutzwesten trugen? Hat es beim Einsatz möglicherweise Fehler gegeben, schließlich wurde die 53-Jährige zunächst mit Pfeffergas zurückgedrängt? Im regelmäßigen Einsatztraining werden Berliner Polizisten auch auf Messerangriffe vorbereitet.
Um beurteilen zu können, wie gut der Einsatz lief, wird der genaue Ablauf von Bedeutung sein. Nach bisherigen Erkenntnissen spielte sich das Ganze wie folgt ab: Zunächst klingelten zwei Beamte und eine Mitarbeiterin des Sozialdienstes, um die Frau abzuholen. Andrea H. weigerte sich. „Sie stürmte dann mit einem Messer aus der Tür und hat einen Kollegen am Unterarm verletzt“, sagte eine Polizeisprecherin. „Die Kollegen setzten Pfefferspray zur Verteidigung ein.“ Die Frau habe sich in die Wohnung zurückgezogen, die Polizisten riefen eine Einsatzhundertschaft und einen Krankenwagen zu Hilfe. Als die Verstärkung eintraf, sei die Frau erneut mit dem Messer auf die angerückten Beamten losgegangen. Daraufhin hat ein für die Sicherung zuständiger Polizist geschossen.
„Wer Polizisten mit einem Messer angreift, muss damit rechnen, erschossen zu werden“, sagte Bodo Pfalzgraf von der Deutschen Polizeigewerkschaft. Bei einem Angriff – noch dazu in einer Wohnung – müssten die Kollegen sichergehen, dass niemand verletzt werde. Sie wären außerdem „stufenweise“ vorgegangen, hätten also zunächst Pfefferspray eingesetzt. Trotz Schutzweste bleibe für sie ein Restrisiko: Stiche in Arme oder Kopf könnten nicht abgewehrt werden.
Wie viele Kollegen am Einsatz beteiligt waren, teilte die Polizei nicht mit. Nicht dabei war das für gefährliche Täter ausgebildete Spezialeinsatzkommando (SEK). „Weil es keine Anhaltspunkte gab, dass von der Frau eine solche Gefahr ausging“, sagte ein Polizeisprecher.
Der Schusswaffeneinsatz in Berlin ist im „Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwangs“ geregelt: Es besagt, dass ein Beamter seine Waffe gebrauchen kann, um jemanden angriffs- oder fluchtunfähig zu machen, etwa indem in die Beine geschossen wird. Schüsse müssen angedroht werden. Anders sieht es aus, wenn eine Notwehr- oder Nothilfesituation vorliegt. Dann muss zur „Abwehr eines gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffs“ stets das mildeste Mittel gewählt werden – das kann auch eine Schusswaffe sein, wenn der Angriff in gebotener Kürze nicht anders abzuwehren ist.
Andrea H. lebte in einer Einrichtung für betreutes Wohnen: Der Träger betreibt in dem 14-geschossigen Hochhaus im Märkischen Viertel noch eine zweite Wohnung. „Sie war ein netter Mensch, der keinem etwas getan hat“, sagt eine Anwohnerin. Jeder habe gewusst, dass sie psychisch verwirrt gewesen sei. Andrea H. habe ihr Pizzareste und Spielzeug aus dem Müll vor die Tür gelegt, berichtet die Nachbarin: „Für meine Enkelin.“ Eine andere Anwohnerin aber berichtet, sie habe die Straßenseite gewechselt, wenn ihr H. entgegengekommen sei. H. soll schon Flaschen vom Balkon geworfen haben, weil Kinder zu laut gespielt hätten.
Vergangenes Jahr schossen Berliner Polizisten im Dienst 95 Mal, darunter fünfmal auf Menschen. Im März starb dabei ein 37-jähriger Deutschrusse.
Hannes Heine, Björn Stephan
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