Analyse zum 1. Mai in Berlin: Die Revolution ging in der Party unter
Es war der friedlichste 1. Mai seit langem. Nun sehen sich alle als Sieger. 72 Straftäter wurden festgenommen.
Deutlich über 10.000 Menschen, darunter ein hoher Anteil vermummter Gewaltbereiter, zog unangemeldet durchs Myfest und Neukölln – und es passierte fast nichts. Erstmals war die traditionelle „Revolutionäre 1.-Mai-Demo“ nicht angemeldet worden, die Organisatoren hatten zu einem Start auf dem Oranienplatz aufgerufen, also im Myfest. „Selbermachen“ stand auf dem Fronttransparent der Autonomen, dazu gehörte eben die Verweigerung der Kooperation mit der Polizei.
Versichert hatten die Autonomen aber auch, dass die Nichtanmeldung „kein Ausdruck von Militanz“ sei. Mit sehr viel Rauch und Pyrotechnik startete die Demo dann, beobachtet von Polizeivizepräsidentin Margarete Koppers, die sich unter das Volk gemischt hatte.
Die Polizei hatte im Vorfeld angekündigt, sie werde die unangemeldete Demo auch durch das Myfest ziehen lassen, für ein Stoppen oder Zerschlagen gebe es keine rechtliche Handhabe. Im Fest war die Polizei weitgehend unsichtbar.
Und es war auch das taktisch Klügste. Da es nicht zu verhindern ist, dass Menschen in ein Volksfest einsickern, um eine Demo zu starten, muss man sie dann auch losziehen lassen. Da das Myfest leerer wirkte als früher und in der Naunynstraße keine Bühnen und Stände waren, durchquerte der Demozug das Fest schnell und unproblematisch.
Vor allem die FDP und AfD, aber auch CDU-Abgeordnete, kritisierten diese Tolerierung der Nichtanmeldung als Schwäche des Rechtsstaates. Eine Debatte im Innenausschuss steht bevor.
Polizei nahm 72 Menschen fest
In der Skalitzer Straße, an der Grenze des Festgebietes, wartete die Polizei. Der Rest der Demo war dann wieder Routine, die Autonomen hatten vorher ihre Wegstrecke veröffentlicht. Die Stimmung kochte immer dann hoch, wenn die Polizei einen Tatverdächtigen aus der Menge holte. Die 72 Festnahmen sind kein Zeichen besonderer Militanz, sondern der Stärke der Polizei: Die Beamten hatten trotz der heiklen Gemengelage Zeit und Muße, erkannte Straftäter aus der Menge zu holen und abzuführen. Polizeipräsident Klaus Kandt und Innensenator Andreas Geisel (SPD) zogen Dienstagmittag eine positive Bilanz. Allerdings wurden 32 Polizisten leicht verletzt, so wenig wie seit vielen Jahren nicht mehr.
Einige Demonstranten gingen während des Protestmarsches gezielt auf den SPD-Politiker Tom Schreiber los - er blieb aber unverletzt.
Erstaunlich war, dass die Stimmung trotz dieser Nadelstiche durch Festnahmen nie kippte, brav trottete der Zug regelmäßig nach wenigen Minuten Gebrülle weiter. Das lag wohl auch an der massiven Polizeipräsenz. Die Demo wurde durch behelmte Hundertschaften begleitet.
Und dann war das Ziel, der Spreewaldplatz erreicht, und die Luft war raus. Im bereits sehr friedlichen Jahr 2016 hatte es zum Abschluss der 18-Uhr-Demo noch einen mehrminütigen Gewaltausbruch mit Flaschen- und Steinhagel auf Polizisten gegeben. In diesem Jahr fiel auch dieser aus, die vielen leer getrunkenen Bierflaschen blieben auf dem Boden liegen. Die vielen tausend Demonstranten versickerten regelrecht in der Masse der – teilweise stark betrunkenen - Feiernden.
Alles sehen sich als Sieger
Die Organisatoren der Demo sehen sich dennoch als Gewinner. „Die Demo heute Abend war ein Ausdruck von #selbermachen. Nehmt die Energie von heute mit in die Alltagskämpfe“, heißt es in einem Tweet von „@Rev1MaiBerlin“.
Sicherheitsbehörden konstatieren dagegen eine Niederlage. „Wenn die Szene es angesichts des 30. Jahrestages der Krawalle von 1987 und dem bevorstehenden G20-Gipfel in Hamburg nicht schafft, den Funken zu zünden, dann wird sie es nie mehr schaffen in Berlin“, hatte ein Spitzenbeamter am Tag zuvor dem Tagesspiegel gesagt. Auch nach Einschätzung des Polizeipräsidenten habe der G20-Gipfel in Hamburg keinerlei Einfluss auf das Berliner Geschehen gehabt.
Die letzten massiven Auseinandersetzungen gab es bekanntlich 2009 in Kreuzberg. Wegen Streitigkeiten in der Szene hatte es am Montag eine zweite „Revolutionäre“ Demo gegeben, die mit 1200 Menschen, darunter überwiegend kurdische und palästinensische Gruppen, störungsfrei am Nachmittag durch Neukölln und Kreuzberg gezogen war.
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