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Sozialforscher Dieter Rucht hat lange über jene Kräfte geforscht, die sich außerhalb des politischen Diskurses bewegen.
© Picture Alliance / dpa / Paul Zinken

Rückblick auf den 1. Mai 1987: "Die autonome Szene blieb immer am Rand"

Vor 30 Jahren herrschte in Kreuzberg Ausnahmezustand. Was führte zu der Konfrontation? Ein Gespräch mit dem Sozialforscher Dieter Rucht über die autonome Szene in West-Berlin.

Wie würden Sie die autonome Szene West-Berlins beschreiben?

Die autonome Szene hat ihre Impulse aus Italien bekommen, von radikalen linken Gruppen, hat dann in Deutschland Mitte der 70er Jahre Fuß gefasst und ist seit Mitte der 90er Jahre im Niedergang begriffen. Die autonome Szene hat die Vorstellung, dass diese Gesellschaft fundamental ungerecht ist, kapitalistisch durchdrungen, und dass man diese Ordnung auf revolutionärem Weg beseitigen müsste. Die Autonomen lehnen Hierarchien und auch das Patriarchat ab. Sie organisieren sich egalitär, in kleinen Zirkeln. Deshalb sind sie von außen schwer zu durchschauen. Man sieht sie als Schwarzen Block. Was dahinter steht, wie viele es sind, was sie planen – darüber ist wenig bekannt.

Hatten Sie damals als Forscher Kontakt zu Mitgliedern der Szene?

Zu ganz wenigen Personen. Über sie habe ich einiges über den 1. Mai in Berlin erfahren.

Was unterschied die autonome Szene von anderen sozialen Bewegungen?

Die Autonomen gehören zum undogmatischen radikalen linken Spektrum. Da würden sich die neuen sozialen Bewegungen nicht verorten. Die Autonomen haben deren zum Teil konstruktive Bemühungen, die Gesellschaft zu verbessern, eher belächelt. Thematisch haben sie sich zum Beispiel in die Stadtpolitik eingeklinkt, in die Auseinandersetzung um Mieten und Stadtsanierung. Häufig standen aber konfrontative Proteste im Mittelpunkt – 1987 der Besuch von Ronald Reagan in Berlin, 1988 die IWF-Weltbanktagung oder 2007 beim G-8-Gipfel in Heiligendamm.

Mit welchen politischen Bewegungen kann man die autonome Szene historisch vergleichen?

Mit den italienischen Gruppen der „Arbeiterautonomie“, die versucht haben, die Brücke zur Arbeiterschaft zu schlagen – was in Italien zum Teil gelungen ist, in Deutschland aber nicht. Es gibt auch anarchistische Inspirationsquellen, zum Beispiel das Konzept, sich in kleinen informellen Zirkeln zu organisieren. Die Leninsche Vorstellung einer Avantgarde der Arbeiterklasse sowie die Form einer politischen Partei wird abgelehnt.

Waren die späten Achtziger politisch aufgeregter als die Gegenwart?

Wenn man das am Maß an Konfrontation ablesen will, vor allem an Konfrontation von linker Seite, dann ja. Es gab eine Polarisierung der Gesellschaft. In den späten 70er Jahren hatte es in West-Berlin eine Art Aufbruch gegeben, sichtbar auch am tunix-Kongress, der viel mehr Zulauf hatte, als die Organisatoren erwarteten. Es gab die Vorstellung: am linken Rand der Gesellschaft entwickelt sich die Keimzelle einer anderen Gesellschaft. Was sich tatsächlich entwickelt hat, war eine radikal linke Szene, die aber nicht in eins zu setzen ist mit Terroristen. Die Autonomen haben dafür womöglich Sympathien gehabt, sich aber davon abgegrenzt – auch wenn ideologische Gemeinsamkeiten bestanden.

Gab es Erfolge, die die autonome Szene in West-Berlin für sich verbuchen konnte?

Tag des Zorns: der 1. Mai 1987 in Kreuzberg.
Tag des Zorns: der 1. Mai 1987 in Kreuzberg.
© imago/Peter Homann

Wenn man öffentliche Aufmerksamkeit als Erfolgskriterium wertet, dann sind die Autonomen sehr, sehr sichtbar geworden – vor allem durch die Protestgewalt. Verbunden damit ist aber eine scharfe Ablehnung solcher Handlungen durch die breite Öffentlichkeit. So ist die autonome Szene erfolgreich, was die Aufmerksamkeit angeht, zugleich aber erfolglos, weil ihr nie der Brückenschlag in breitere gesellschaftliche Kreise gelungen ist. Sie hat es auch nicht geschafft, das gemäßigte linke Spektrum zu gewinnen. Sie blieb am Rand. Sie hat die etablierte Politik in ihrer Grundrichtung nicht beeinflusst.

Hat es der autonomen Szene eher genutzt oder geschadet, dass sie kein klar definiertes politisches Ziel hatte?

Aus heutiger Sicht war die autonome Szene eine wichtige Episode, was politische Debatten angeht, insbesondere über Stadtpolitik sowie die Rechtfertigung und die Grenze von Militanz. Aber es bleibt eine Episode – auch wenn die Szene nicht ganz verschwunden ist. Sie hat jedoch an Kraft und Anhängern deutlich verloren. Gerade der 1. Mai zeigte, dass sich die Bevölkerung im Kiez, die kleinen Händler, die teilweise auch unter der Randale gelitten hatten, eher abwandten. Sie hatten von der ritualisierten Gewalt die Nase voll.

War die autonome Szene dem Berliner Senat jemals gefährlich?

Nein. Nicht in dem Sinn, dass der Senat insgesamt in Bedrängnis geraten wäre. Aber in einzelnen Politikfeldern änderte sich das Senatshandeln. In der Zeit der Hausbesetzer, in den frühen 80er Jahren, war ein enormer Druck auf den Senat entstanden: in Richtung behutsamer Stadtsanierung, stärkerer Bürgerbeteiligung, Wertschätzung der einzelnen Initiativen, gegen brachiale Projekte der Stadtplanung. Das hat in der Summe einiges bewirkt. Die Stadt sähe anders aus, sie sähe schlechter aus, hätte die Politik damals problemlos und entsprechend ihrer Wunschvorstellung agieren können. Aber insgesamt gab es keine Infragestellung der etablierten Parteipolitik.

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