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Köpfe auf der Mauer. Aber was ist aus der Mauer in den Köpfen geworden?
© picture alliance / dpa

Ost und West in Berlin: Nur die Eingeborenen merken’s noch

Ost und West, das war einmal. Bernd Matthies grübelt, was wohl aus der Mauer in den Köpfen geworden ist.

Lange nichts mehr gehört von der Mauer in den Köpfen. Das kann zweierlei bedeuten: Entweder ist sie weg. Oder keiner redet mehr drüber, weil alle glauben, dass sie schon weggeht, wenn keiner mehr drüber redet. Klar ist eigentlich nur: Irgendwann wird sie weg sein, weil keiner mehr lebt, der mit dem Begriff etwas anfangen kann. Das dauert aber noch ein paar Jahre.

Demoskopisch gesehen sieht die Sache so aus: 2009 haben 24 Prozent der Berliner keinen Unterschied mehr zwischen Ost und West gemacht, 2014 waren es laut Hertie-Studie schon 36 Prozent. Das hat natürlich auch mit dem Zuzug zu tun, der die Neu-Berliner vor allem nach Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Pankow führt. Außer Pankow sind das Bezirke, die teils im alten Osten, teils im Westen liegen – wer von draußen hinzieht, der interessiert sich oft gar nicht dafür, auf welcher Seite der einstigen Mauer er eigentlich wohnt.

Kaufhalle oder Supermarkt? Das interessiert nicht mehr

Aber wir Ureinwohner? Da sind die Vorbehalte immer noch deutlich spürbar – oder besser: Wir registrieren die jeweilige Herkunft, wenn wir sie erfahren oder vermuten, ohne daraus schon automatisch Schlüsse zu ziehen. Aber wir interessieren uns dafür. Wenn nicht alles täuscht, sind die einst so wichtigen Kennzeichen verschliffen: „Jetze“ statt „Jetzt“ oder „urst“ statt „toll“ – das ist längst im gemeinsam allgegenwärtigen „Geil!“ verschliffen. Kaufhalle oder Supermarkt? Das interessiert nicht mehr, genauso wenig wie Letscho/Ketchup oder die einst so bedeutende Frage, ob die Currywurst nun mit oder ohne Darm die echte sei. Die sächsische Sprachfärbung, typisch Ost, ist längst nicht mehr das, was sie mal war, und auch das prononcierte Berlinern lässt sich keiner Stadthälfte mehr richtig zuordnen.

Digedags oder Urmel, Puhdys oder Grönemeyer

Aber die kulturellen Differenzen sind noch immer deutlich spürbar. Pittiplatsch, die Digedags und die Puhdys sind im kollektiven Ost-Bewusstsein verankert wie das Urmel, Asterix und Grönemeyer im Westen, das bleibt vorerst auch so. Aber die Grenzen verwischen langsam: Die Rocklegenden-Tour mit Puhdys, City und Karat, im Osten flächendeckend unterwegs, macht zumindest auch in großen West-Städten Halt.

Wichtig ist: Was steht in unseren Bücherregalen? Sind es Politikerbiografien, dann ist der Ost-West-Graben noch immer deutlich. Und auch bestimmte alte Schulbücher dienen heute noch selbst 30-Jährigen als Distinktionsmerkmal. Wie überhaupt die größte noch bestehende Differenz zwischen den beiden alten Stadthälften wohl im Bildungssektor zu suchen ist und dort noch lange bestehen wird.

Und dabei ist 1968 immer noch wichtiger als 1989. Denn die Grundhaltung, die als Folge der „Studentenrevolution“ im Westen Standard wurde, hat den abgeschotteten Osten Berlins nie berührt. Daraus ergeben sich fundamentale Verhaltens- und Wertedifferenzen, die in Lehrer- und Erzieherkollegien weiter eine große Rolle spielen: Der Ost-Stil gilt dem Westler als rigide und altmodisch, der West-Stil umgekehrt als verspielt und zu wenig ergebnisorientiert. Und immer noch gibt es Kämpfe um die Frage, ob Schulbücher vom alten West- oder Ost-Verlag angeschafft werden. Der „DDR-Tisch“, den es einst ab und zu in einigen Buchhandlungen gab, ist allerdings zusammen mit den Buchhandlungen verschwunden.

Wer sich als West-Berliner versteht, der wird sich bei der Wohnungssuche auch heute immer noch auf die alten West-Bezirke konzentrieren, und umgekehrt; dieses Muster können erst die Zuzügler langsam aufbrechen. Denn immer noch gibt es West-Berliner, die in Richtung Osten nie über den Gendarmenmarkt hinausgekommen sind, und Ost-Berliner, die es nach dem 9. November nie wieder auch nur bis zum KaDeWe geschafft haben – und die darauf womöglich auch noch stolz sind.

Aber das wird weniger, auch durch das Wirken der Zeit. Und schließlich gibt es für gut verwurzelte Lichtenrader nur wenig Gründe, im ebenfalls westlichen Tegeler Forst spazieren zu gehen – sie sind dort genau so selten wie Köpenicker am Orankesee. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, das ist östlich der Mauer im Kopf nicht anders als im Westen.

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