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Mitarbeiter eines Start-ups in Berlin.
© Britta Pedersen/dpa

Start-up-Hauptstadt Berlin: Mut zum Gründen, Mut zum Scheitern

Wagemut und Freiheit – beides bedingt einander. Diese Mischung hat Berlin zur Hauptstadt der Start-ups gemacht. Ein Überblick zum 70. Tagesspiegel-Geburtstag.

In keine andere Stadt Europas fließt derzeit so viel Wagniskapital in frisch gegründete Firmen wie nach Berlin. Selbst in die ungleich größeren Metropolen London und Paris nicht. Bleibt nur die Frage: Was macht eigentlich Nikolaus Meyer?

Meyer war einmal der heimliche Star der Berliner Gründerszene. Heimlich, weil er nicht im Dunstkreis der schillernden Samwer-Brüder eine noch fettere Pizza-Bringdienst-App programmiert hatte – und so auch nicht Liebling der Jugend und der Börsen wurde. Meyer erdachte ein Produkt, das in naher Zukunft womöglich Wolkenkratzer zwischen Dubai und L. A. zu Plus-Energie-Häusern machen könnte. Meyer machte Solarmodule. Aber nicht irgendwelche.

115 Millionen Euro Fremdkapital – aber kein Cent Gewinn

Der Physiker hatte sich während seiner Promotion am Berliner Hahn-Meitner-Institut innovativen Herstellungsmethoden für Sonnenenergiekollektoren beschäftigt. Statt des üblicherweise gebräuchlichen Siliziums verwandte er eine Mischung anderer Chemikalien, vor allem Schwefel, um den Wirkungsgrad der Module zu erhöhen und sie dünner und flexibler zu machen, sodass man sie bequem in Fassaden integrieren kann. 2003 sicherte er sich mit Kollegen die Startfinanzierung für sein Unternehmen Sulfurcell, später hieß es Soltecture. Nach neun Jahren hatte er zwar 115 Millionen Euro Fremdkapital eingesammelt – aber noch keinen Cent Gewinn gemacht. Im Mai 2012 stellte Meyer den Insolvenzantrag.

So gut kann Meyers Idee nicht gewesen sein, wird man spontan sagen. Die meisten Branchenexperten und selbst enttäuschte Geldgeber sagen aber: Meyer hat nichts falsch gemacht. Chinesische Unternehmen hatten mit Milliarden aus Peking den Weltmarkt für 08/15-Solarmodule aufgerollt – und damit auch innovative Produkte „Made in Berlin“ verdrängt. Sie haben Fortschritt vereitelt.

„Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“, wussten schon Tocotronic

So geht Wettbewerb, Soltecture war noch nicht fit für den großen und harten Weltmarkt: Das ist die eine Sicht der Dinge. Gescheiterte trösten sich mit einer Liedzeile der Hamburger Band Tocotronic: „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“.

Gründen und Scheitern. Unmengen an Zahlen, Daten und Fakten haben Statistiker darüber schon zusammengetragen; Eine brauchbare Anleitung, wie das eine nicht zum anderen führt, ergibt sich daraus nicht. Also bleibt nur der Glaube an die Geschäftsidee und der Appell an den Mut. Die beliebteste, weil einfachste These dazu lautet: Hätten weniger Menschen Angst vor dem Scheitern, würden mehr Menschen gründen. In den Sonntagsreden eines Wirtschaftsministers klingt das gern so: „Wir in Deutschland brauchen eine Kultur des Scheiterns – wie in den USA zum Beispiel“.

Vielleicht wird Scheitern in den Staaten tatsächlich eher als wertvolle Erfahrung gewertet, ist sozial akzeptierter. Doch liegt das wirklich an der Mentalität mutiger Cowboys? Hilfreicher scheint ein Blick ins dortige Unternehmens- und Insolvenzrecht: Scheitern und neu starten fällt in den USA leichter, weil Unternehmer – abgesehen vom persönlichen Kapitaleinsatz – im Falle der Pleite seltener eine vollumfassende persönliche „Verhaftung“ fürchten müssen. Zudem reduzieren Mitinvestoren ihre Risiken in der Regel nicht durch Sicherheiten wie Einträge ins Grundbuch oder Bürgschaften. Sie tragen das Ausfallrisiko. Kurz gesagt: In den USA scheitert das Unternehmen, bei uns der Unternehmer!

Jüngere Unternehmer können besser scheitern als Ältere

Doch auch hierzulande dürfte das Scheitern des Sulfurcell-Gründers Meyer von der Mehrheit der Bevölkerung eher verziehen werden – weil mutmaßlich externe Gründe das Aus für seine Firma besiegelten. Das legt eine aktuelle Studie der Stuttgarter Uni Hohenheim nahe. Diese hat zudem ergeben, dass Menschen zwischen 18 und 29 Jahren, Akademiker und Selbstständige eher toleranter im Umgang mit gescheiterten Unternehmerexistenzen sind als Ältere, weniger Gebildete und abhängig Beschäftigte.

Der Studie zufolge sind auch drei Viertel aller in Deutschland Befragten der Ansicht, einem gescheiterten Unternehmer sollte man eine zweite Chance geben. Zugleich gaben aber mehr als 40 Prozent der Befragten zu, dass sie beim Bestellen von Waren Vorbehalte gegenüber einem bereits gescheiterten Unternehmer hätten. Moralischer Anspruch und praktisches Verhalten decken sich nicht immer.

Vielleicht muss man aber hinterfragen, wie wichtig die öffentliche Meinung für jemanden ist, der fest an seine Idee glaubt. Sind andere Faktoren nicht viel wichtiger? Der unbürokratisch einfache Zugang zu Startkapital zum Beispiel. Oder die Verfügbarkeit qualifizierter Mitarbeiter, die kulturelle Attraktivität des Umfeldes, die Höhe der Büro- und Gewerbemieten, die juristischen Folgen einer Insolvenz und vielleicht die Nähe zu großen Konzernen, die Sympathie für die kleine Gründer hegen und sie unterstützen, ohne den Gründern aber schon im Aufbaustadium die Geschäftsidee für ein Handgeld abkaufen zu wollen.

Berlin ist bei Gründern beliebter als München und Hamburg

Was die Gesamtmischung angeht, scheint Berlin jedenfalls ein gutes Pflaster für Gründer zu sein. Zumindest wird in keiner der drei größten Städte mehr gegründet: Betrachtet man die Gründungsintensität, lag Berlin 2014 mit rund fünf Gründungen je 1000 Erwerbstätigen weit vor München (4,0) und Hamburg (2,9). Der Durchschnitt liegt bei 3,0.

Die Gründer mit großen Plänen finden in Berlin inzwischen auch die nötige Finanz-Infrastruktur. Allein die Banken wie IBB, Bürgschaftsbank, Volksbank und Berliner Sparkasse habe alle Gründerzentren in der Stadt. Auch die lokal aktive Weberbank pflegt die Szene und die große Deutsche Bank hat eine Start-up-Unit an der Spree gegründet. „Es gibt also zahlreiche Institutionen, die sich mit viel Know-how und Erfahrungen um Unternehmensgründer bemühen und damit Risiken sehr gut einschätzen können“, sagt Holtkamp. In Berlin ließen sich vermutlich leichter Risiken finanzieren als in anderen Städten.

Halten wir fest: Gründen ist also relativ leicht möglich in Berlin. Und Scheitern braucht hier nicht so viel Mut. Das liegt wohl ein wenig an dem Geist der Stadt, in der die Niederlage, das Unfertige, die Nicht-ich-sondern-die-Umstände-sindschuld-Attitüde Teil der kollektiven Stadtidentität sind. Jürgen Allerkamp, der Chef der Investitionsbank Berlin, erklärt Berlins Aufstieg zu Europas Start-up-Metropole Nummer eins etwas anders: „Das liegt an der einzigartigen Mischung aus Liberalität, Toleranz und Kultur. Wenn eine Stadt eine Kultur des Scheiterns erlaubt, dann ist es Berlin!“

Doch es gibt auch strukturelle Gründe: Anders als in Städten, wo oft wenige – aber große – Mittelständler oder Großkonzene die lokale Wirtschaft prägen, ist Berlin die Stadt der Kleinfirmen: Rund 90 Prozent aller Unternehmen in Berlin haben weniger als zehn Mitarbeiter, sind jünger als 15 Jahre. Wenn so ein Unternehmen in die Insolvenz geht, kann es relativ geräuschlos abgewickelt werden.

Stolz auch trotz Insolvenz

Und was ist nun aus Nikolaus Mayer geworden? „Es war ein bitteres Ende, aber ich konnte auf zehn erfolgreiche Jahre zurückblicken“, sagt er heute über die Pleite 2012. Er habe einzigartige Möglichkeiten gehabt, auch ein außergewöhnlich motiviertes und gut strukturiertes Team. Die Insolvenz sei nicht die Folge dramatischer Fehler, sondern der Marktentwicklung gewesen. „Insofern habe ich trotz der Insolvenz Stolz empfunden.“

Er habe gleichwohl „einige Monate“ gebraucht, um sich in ein neues Projekt zu stürzen. Nun leitet er gemeinsam mit Tobias Viernickel die Firma Geo-En mit Sitz in Friedenau durch die Wachstumsphase. Auch dort geht es darum, patentierte Systemlösungen für erneuerbare Energie zu entwickeln und zu vermarkten. Bei Soltecture ging es um Strom, bei Geo-En um Wärme und Kälte – durch Geothermie.

Berlin bleibe ein attraktiver Standort für Gründer, Unternehmer und Investoren, sagt Manager Meyer, der wohl nie bei einer der Rocket-Internet-Buden anheuern wird – wenn er sagt: „Für die Zukunft wünsche ich mir, dass noch mehr technologiegetriebene Start-ups dazukommen – und nicht nur E-Commerce.“

Dieser Text erscheint zum 70-jährigen Bestehen des Tagesspiegels. Lesen Sie weitere Beiträge zum Geburtstag auf unserer Themenseite.

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