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Berlin zieht an. Im ersten Halbjahr übernachteten vier Prozent mehr Gäste in Berliner Hotels und Unterkünften.
© Willie B. Thomas/Getty

Tourismus in Berlin: Mit Zwang gegen den Andrang?

Der Touristenstrom stellt Berlin vor Herausforderungen. Die Grünen fordern ein BVG-Zwangsticket zum Schutz der Infrastruktur. Das reicht nicht, warnen Experten.

Freitagabend am U-Bahnhof Schlesisches Tor. „Das ist ja eine tolle Auswahl!“, ruft ein junger Mann, als er den Späti betritt. In zwölf aneinandergereihten Kühlschränken stehen alkoholische Getränke in allen denkbaren Geschmacksrichtungen. Aus den Boxen dröhnt Techno, vor dem Laden wird getanzt. So wie hier in Kreuzberg geht es mittlerweile vielerorts in der Stadt zu. Tagein, tagaus: Berlin ist zu einer touristischen Attraktion geworden, zieht Menschen aus allen Weltgegenden an.

Das stellt die Anwohner, die Kieze und die Infrastruktur vor Herausforderungen. Und weil das so ist, will Daniel Wesener, der für die Grünen im Abgeordnetenhaus sitzt, die Touristen an den Kosten dieser Herausforderungen beteiligen. Seine Idee: Touristen sollen künftig täglich ein BVG-Ticket in Höhe von fünf Euro lösen. Selbst dann, wenn sie gar nicht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren.

Sein Vorstoß sorgte deshalb Anfang letzter Woche für massive Kritik – unter anderem von der BVG selbst. „Wir gehen davon aus, dass die meisten Berlin-Besucher ohnehin Fahrkarten kaufen“, sagt Sprecherin Petra Nelken. Ein Zwangsticket bringe daher nichts.

Wesener zeigt sich „überrascht“ vom Gegenwind, bleibt aber grundsätzlich bei seiner Forderung: „Touristen müssen am Unterhalt der Infrastruktur der Stadt beteiligt werden.“ Denn die Gäste brächten nicht nur Einnahmen in die Stadt, sondern auch Probleme: Lärm, Müll und höhere Mieten. Deshalb sollten sie zur Kasse gebeten werden, findet Wesener.

„Mit aller Vehemenz" spricht sich hingegen der Berliner Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) gegen die Idee aus. Die Branche sei bereits jetzt durch die City Tax belastet. Eine weitere Abgabe könne Besucher abschrecken. Der Berlin-Tourismus sei „ein zärtliches Pflänzchen“, das in Gefahr sei, teilte Geschäftsführer Thomas Lengfelder mit. „Der gute Ruf“ der Hauptstadt stünde auf dem Spiel.

Doch ist der Tourismus tatsächlich bedroht? Dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg zufolge hält der Aufschwung an, verlangsamt sich aber. Im ersten Halbjahr 2019 stiegen 6,7 Millionen Gäste in Hotels und anderen Unterkünften ab – 3,8 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Die Zahl der Übernachtungen stieg um 5,3 Prozent auf 16,1 Millionen. Die Bruttowertschöpfung im Tourismus betrug laut Investitionsbank Berlin (IBB) 2018 rund 5,7 Milliarden Euro. Damit hat der Tourismus einen Anteil von 4,3 Prozent an der Wirtschaftsleistung der Hauptstadt, in etwa so viel wie das Baugewerbe. Auch die Zahl der Hotels und anderen Beherbergungsbetriebe steigt seit Jahren kontinuierlich. Im Juni 2019 gab es laut Statistikamt 803 Unternehmen in diesem Bereich. Und weitere kommen hinzu. Einer (unvollständigen) Auflistung der Dehoga zufolge sollen in den kommenden drei Jahren mindestens 49 Hotels im Stadtgebiet neu gebaut werden. Der Grünen-Politiker Wegener fordert daher einen Hotelbauplan, um die Anzahl der Unterkünfte in Zukunft besser regulieren zu können. So möchte er den Touristenströmen Einhalt gebieten.

Grünen-Politiker Daniel Wesener.
Grünen-Politiker Daniel Wesener.
© picture alliance / dpa

„Die hohe Zahl der Touristen allein ist nicht das Problem“, sagt hingegen Andreas Becker, Gesellschafter von The Circus. Sein Unternehmen betreibt das Circus Hotel und Hostel am Rosenthaler Platz sowie ein Apartmenthaus. Debatten wie die um das BVG-Ticket kratzten nur an der Oberfläche, glaubt Becker: „Wir müssen uns ganz grundsätzlich fragen: Wie integrieren wir den Massentourismus?“

Viele Touristen würden Berlin als eine Stadt ansehen, in der man sich alles erlauben könne. Die Politik sollte seiner Ansicht nach härter gegen die schlimmsten Auswüchse vorgehen: Vermüllung, Lautstärke sowie Alkohol- und Drogenkonsum in der Öffentlichkeit dürften nicht einfach geduldet werden. Becker sieht einen „kulturellen Clash“ zwischen Partytouristen und Einheimischen: Die einen wollen feiern, die anderen in Ruhe ihrem Alltag nachgehen.

Ein weiteres Problem: In Innenstadtbezirken gäbe es bereits Restaurants und Bars, deren Angebot sich ausschließlich an kaufkräftige Gäste aus dem Ausland richte. Viele Anwohner könnten sich deren Besuch gar nicht leisten. „Da entwickelt sich eine parallele Infrastruktur, die an den Bedürfnissen der einheimischen Bevölkerung vorbeigeplant ist“, sagt Becker. Das führe zu Neid und einer sinkenden Akzeptanz für Tourismus.

„Die Situation ist vergleichbar mit der in Barcelona“, warnt Becker. In der katalanischen Stadt kommt es immer wieder zu Protestaktionen gegen den Massentourismus, teilweise mit Gewalt. So weit könne es auch in Berlin kommen, glaubt Becker. „Was wir hier gerade erleben, ist nur der Auftakt.“ Denn der wahre Boom stünde der Stadt noch bevor. Die aufsteigenden Mittelschichten in China und Indien entdeckten gerade erst das Reisen für sich. Bald würden diese Zielgruppen verstärkt in europäische Städte drängen, prognostiziert der Unternehmer, der selbst regelmäßig in asiatischen Metropolen unterwegs ist.

Der Massentourismus werde deshalb noch deutlich zunehmen. „Die soziale Sprengkraft ist enorm“, sagt Becker. Deshalb bedürfe es einer langfristig angesetzten Strategie.

„Die Bevölkerung schaut heute in vielen Regionen kritischer auf den Tourismus“, sagt Harald Pechlauer, Professor für Tourismus an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. „Die Menschen sind selbst reiseerfahren und stören sich daran, wenn touristische Angebote ihrer Region gar nicht zu ihrem Selbstverständnis passen.“ Insgesamt werde die Gesellschaft zunehmend sensibler für Fragen der Stadtentwicklung. Deshalb könne der Ausbau des Fremdenverkehrs heute nicht mehr allein Tourismusmanagern überlassen werden, sagt Pechlauer.

Das Image, das die Marketing-Experten einer Metropole verpassen, dürfe nicht dem „Lebensgefühl“ ihrer Bewohner widersprechen. „Die Anwohner betroffener Stadtteile müssen in die Entwicklung einbezogen werden“, sagt der Forscher. Und das Marketing müsse Gäste ansprechen, die zur Stadt passen. Ein positives Beispiel sei Wien. Die österreichische Hauptstadt führe regelmäßige Umfragen unter den Bewohnern durch. Der Tourismusforscher ist sich sicher: „Es gibt Spielraum für eine nachhaltige Entwicklung.“ An deren Finanzierung sollten die Besucher beteiligt werden. An eine abschreckende Wirkung glaubt er nicht: „Touristen sind heute auch bereit, mehr zu zahlen.“

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