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Über Jahrzehnte ist sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche vertuscht worden. (Symbolbild)
© Uwe Zucchi/dpa
Update

Gutachten zur katholischen Kirche: Mindestens 120 Opfer sexuellen Missbrauchs in Berlin

In Berlin sei Aufklärung über Jahrzehnte behindert worden, heißt es in dem Gutachten. Von den 61 beschuldigten Priestern und Diakonen sind 37 verstorben.

Im katholischen Erzbistum Berlin, zu dem neben der Bundeshauptstadt auch große Teile Brandenburgs sowie der Landesteil Vorpommern gehören, bestanden teils bis in die jüngste Zeit hinein schwere Mängel bei der Verfolgung und Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.

Das geht aus einem Gutachten der Rechtsanwaltskanzlei Redeker, Sellner und Dahs hervor, das am Freitag in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Das Erzbistum hatte das Gutachten 2018 in Auftrag gegeben. Es behandelt die in den Jahren 1946 bis 2020 aktenkundig gewordenen Vorwürfe gegen Kleriker.

Dazu analysierten die Gutachter Personalakten, die ihnen vom Erzbistum übergeben worden waren. Allerdings wurde die Untersuchung am Freitag nicht komplett veröffentlicht: Rund 440 Seiten, auf denen die einzelnen Fälle detailliert beschrieben waren, fehlten. Damit wolle man nach Angaben von Sprecher Stefan Förner verhindern, dass personenbezogene Daten in die Öffentlichkeit gelangten und es zu Verstößen gegen den Schutz von Persönlichkeitsrechten oder einer Retraumatisierung von Betroffenen komme.

Die Schlussfolgerungen der Gutachter sind dennoch deutlich. „Aus der Untersuchung der Personalakten ergibt sich eine Vielzahl von Missständen, die bereits für sich genommen, insbesondere aber in der Kumulation geeignet sind, die Verhinderung von sexuellem Missbrauch durch Kleriker zu erschweren, die Aufklärung zu verhindern und notwendige Schlüsse für Intervention und Prävention unmöglich zu machen.“

So stellen die Gutachter fest, dass erst seit 2018 „systematisch sämtliche Vorwürfe sexuellen Missbrauchs gegenüber Klerikern unmittelbar auch den Staatsanwaltschaften mit der Bitte um Einleitung von Ermittlungsverfahren“ übermittelt wurden.

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„Vor 2018 war dies nur vereinzelt der Fall, auch wenn es bereits seit etwa 2012 eine Übereinkunft zwischen dem Erzbischöflichen Ordinariat, den Ansprechpersonen und den für das Erzbistum Berlin zuständigen Generalstaatsanwaltschaften in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern gibt, bei der Verfolgung von sexuellen Missbrauchstaten eng zusammenzuarbeiten.“

Allerdings haben die Gutachter nun die Erkenntnisse aus sämtlichen von ihnen bearbeiteten Personalakten an die Staatsanwaltschaften übergeben. Neue Verfahren, so die mit der Studie befassten Rechtsanwälte, Peter-Andreas Brand und Sabine Wildfeuer, seien dadurch nicht entstanden. In einem konkreten Fall besteht laut Gutachten aber die „dringende Notwendigkeit zur Prüfung, ob es eine aktive Vertuschung von bekannten Vorwürfen sexuellen Missbrauchs gegeben hat und ob der Beschuldigte gleichwohl im Jahr 1986 innerhalb des Erzbistums in eine andere Gemeinde versetzt wurde.“

Von den 61 Beschuldigten sind 37 bereits verstorben

Immerhin hat sich ab den 2000er Jahren wohl die Mentalität im Erzbistum etwas verändert: „Während in den Jahren vor 2002 aus den Akten häufig noch eine deutlich größere Empathie mit den Beschuldigten zu erkennen ist als sie den Betroffenen gegenüber entgegengebracht wurde, hat sich dies seit 2002 erkennbar und grundlegend zum Besseren verändert.“ Von den 61 beschuldigten Priestern und Diakonen sind 37 bereits verstorben, 18 befinden sich nach Angaben von Wildfeuer im Ruhestand. In 49 Fällen wurde ihnen sexueller Missbrauch Minderjähriger vorgeworfen, daneben gab es Grenzüberschreitungen und in einem Fall den Besitz von Kinderpornographie.

Wildfeuer geht zudem von einer „großen Dunkelziffer“ aus, das Gutachten sei „nur eine Momentaufnahme“. Dennoch sind den Gutachtern insgesamt 120 Betroffene sexuellen Missbrauchs bekannt. In einer Reihe von Fällen lassen sich aus den Unterlagen ferner Rückschlüsse auf weitere Betroffene ziehen, die sich bislang nicht ans Erzbistum gewandt haben. Erzbischof Heiner Koch rief diese Menschen ausdrücklich auf, sich bei der Erzdiözese zu melden. „Ihr Leben und Ihr Leid ist uns wichtig“, sagte er. „Vertrauen wiederzugewinnen durch ehrliches, transparentes und offenes Aufarbeiten und das Ziehen von Konsequenzen ist auch ein Ziel der Auswertung des jetzt vorgelegten Gutachtens.“

Dazu hat das Erzbistum unter anderem eine Kommission gebildet, der Vertreter des Diözesanrats und des Priesterrates des Erzbistums angehören. Zudem soll zusammen mit dem Bistum Dresden-Meißen, mit dem im Süden Brandenburgs vertretenen Bistum Görlitz und dem katholischen Militärbistum eine unabhängige Aufarbeitungskommission und ein Betroffenenbeirat gebildet werden, kündigte Generalvikar Pater Manfred Kollig an.

Kleriker unterrichteten „unkontrolliert Sexualkunde“

Auch innerhalb des Erzbistums steht noch viel Arbeit an: Der Leser des Gutachtens spürt förmlich das Entsetzen der Experten, wenn es etwa heißt, dass sich „bis heute innerhalb des Erzbischöflichen Ordinariats noch nicht die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass es grundsätzlich ausgeschlossen ist, dass ein erwachsener Priester gemeinsam mit einem Kommunionkind auf einer Fahrt in einem Zimmer übernachtet“. Zudem gibt es keine Curricula für den Kommunion- oder Firmunterricht – was konkret dazu führte, dass Kleriker „unkontrolliert Sexualkunde“ unterrichteten. „Aufklärung als solche kann nicht Aufgabe der Kirche sein“, sagte Brand. „Das ermöglicht die Vorbereitung von Missbrauchstaten.“

Weiter kritisierten die Gutachter, dass im Erzbistum, das über 2734 Mitarbeiter verfügt, dafür nicht ausgebildete Kleriker die Personalabteilungen leiteten. Zudem müssen sich die Akten auch in einem chaotischen Zustand befunden haben: Der Bericht verweist darauf, dass Unterlagen nicht einmal mit Seitenzahlen versehen waren, sodass nicht nachvollziehbar war, ob Teile fehlten. Durch die Nichtveröffentlichung des Teils des Gutachtens, in dem es um konkrete Fälle geht, sind Namen von Tätern nicht nachvollziehbar.

Sehr wohl erkennbar ist aber, wer von den Gutachtern als jeweiliger Verantwortlicher um Stellungnahme gebeten wurde. Hier sind in erster Linie der heutige Weihbischof Matthias Heinrich, der für den Einsatz von Priestern zuständige Domvikar Monsignore Hansjörg Günther und der frühere Berliner Erzbischof und heutige Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki genannt.

Während in Berlin das Missbrauchsgutachten vorgestellt wurde, sorgte der Kölner Kardinal indes erneut für Schlagzeilen: Der Diözesanrat im Erzbistum Köln gab am Freitag unter anderem wegen mangelnder Transparenz in Sachen Missbrauchsaufarbeitung bekannt, die Zusammenarbeit mit Woelki vorläufig ruhen zu lassen.

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