Dauerregen in Berlin: Meteorologen zeigen sich gelassen
So viel Regen wie zuletzt gab es noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen in Berlin. Alles schon mal da gewesen, sagen Experten.
Alle reden übers Wetter, und natürlich muss man dann vor allem über den Regen reden. Auf manche Berliner Kieze ist seit Montagabend schon wieder mehr als eine durchschnittliche Monatsmenge geprasselt: 69 Liter wurden in Schönefeld gemessen, 54 in Dahlem. Einerseits außergewöhnlich, aber andererseits wenig im Vergleich zum Monsun Ende Juni. Es schien nur diesmal ähnlich dramatisch, weil die Böden völlig gesättigt sind, sodass auch Wasser in Tiefgaragen und Senken läuft, das sonst versickern könnte.
Über dieses verrückte Wetter redet man am besten mit Wetterverrückten: Auf dem Gelände der historischen Malzfabrik in Tempelhof hat neuerdings die „Wettermanufaktur“ ihr Büro, gegründet von altgedienten Berliner Meteorologen. Die 200 Liter pro Quadratmeter, die an jenem berühmten 29. Juni auf die Messstation in Tegel prasselten, waren schon „ein Aha-Effekt“, sagt Jörg Riemann, meteorologischer Leiter der Wettermanufaktur: So nass kann es also in Berlin werden, obwohl die Wolken hier weder ein Meer zum Volltanken in direkter Nachbarschaft haben noch ein Gebirge, das sie staut und melkt.
Bisher stand das amtliche Berliner Maximum bei 125 Litern – am 14. August 1948. Und die 200 Liter dieses Junitages wären beinahe untergegangen, weil das moderne Messgerät der Wetterstation nach 150 Litern ausgestiegen war. Dass dann am Abend noch eine durchschnittliche Monatsmenge obendrauf pladderte, wurde nur bemerkt, weil die Station am Flughafen noch bemannt ist und nicht voll automatisiert. Es war aber auch Zufall, dass diese Regenmasse Berlin getroffen hat und nicht einfach 50 Kilometer weiter westlich das Havelland, in dem das Wasser ungemessen und unbemerkt versickert oder Richtung Elbe abgeflossen wäre: Geografisch hat Berlin wenig zu bieten, was spektakuläre Wetterextreme begünstigt.
Luft kommt aus anderen Gebieten
Wenn sie nach Rekorden gefragt werden, kommen Riemann und sein Stellvertreter Gregor Neubarth immer wieder mit dem Hinweis: (fast) alles schon mal da gewesen. 109 Jahre lückenlose Wetteraufzeichnung in Berlin haben zwar einen großen Datenberg geschaffen, aber sind bei einem Thema wie dem Klima zugleich eine dünne Basis, um nicht zu sagen: eine Momentaufnahme. Extremwerte zeichneten sich eben dadurch aus, dass sie selten seien, sagt Riemann.
Neubarth holt eine Grafik hervor, die die Häufigkeit bestimmter Wetterlagen in den Berliner Sommern der letzten 100 Jahre zeigt. Seit gut zehn Jahren häufen sich die Südwestlagen auffällig, die oft schwülwarme Luft in die Region bringen. Mehr Wärme bedeutet mehr Energie und mehr Kapazität, um Feuchtigkeit aufzunehmen. Alles zusammen bedeutet: mehr Unwetter. „Der häufige Starkregen liegt also nicht daran, dass die Polarluft zehn Grad wärmer geworden wäre“, sagt Riemann. „Sondern daran, dass die Luft öfter aus anderen Gebieten kommt als in früheren Jahren.“
Überwiegend kam das Berliner Wetter im 20. Jahrhundert vom Atlantik: mäßig warm im Sommer, mäßig kalt im Winter. Dazu regelmäßiger Regen. Aber 200 Liter am Tag? Kann eine Luftmasse nur über dem sommerwarmen Mittelmeer tanken; der Atlantik wäre viel zu kalt. Und auch eine lokale Unwetterzelle schafft solche Mengen nicht an einem Fleck. Langjährige Berliner Erfahrung ist, dass Gewitter meist von Südwesten heranziehen. Während die Regenmenge auf ihrem Weg über die Stadt tendenziell abnimmt, legt die Blitzrate Richtung Osten eher noch zu. Es dürfte daran liegen, dass über der stark versiegelten Stadt zwar noch mehr Hitze aufsteigt, aber der vom Boden verdunstende Wassernachschub für die Wolken abreißt.
Die Klimawissenschaft sei ernst zu nehmen
Neubarth schaut von seinem Balkendiagramm hoch, um den nächsten Alles- schon-mal-da-gewesen-Beleg zu liefern: „Der bisher wärmste bekannte Sommer war 1826 und der kälteste Winter 1829/30“, sagt er. Die alten Daten seien für heutige Maßstäbe aufbereitet worden und plausibel. Vernünftigste Erklärung für diese dicht beieinanderliegenden Extreme sei, dass die Westlage mit dem mäßigenden Effekt des Atlantiks schon damals geschwächelt habe. Womit man fast zwangsläufig beim Klimawandel ist. Riemann sagt, er sei sehr dafür, Ressourcen und Umwelt zu schonen.
Aber kaum einen Effekt würden Neubarth und er sicher dem menschengemachten Klimawandel zuschreiben: Die Klimawissenschaft sei ernst zu nehmen, aber jung. Zu jung, um verbindliche Wahrheiten zu verkünden. Dazu sei das Klima mit seinen Wechselwirkungen zu komplex. Zweifellos gebe es gut durchdachte Theorien. Aber alle stünden bisher auf tönernen Füßen.
Dagegen scheinen die physikalischen Rahmenbedingungen den Experten solide genug, um Grenzen zu definieren: Das Berliner Temperaturmaximum von 37,9 Grad aus dem Jahr 2015 – der alte Rekord von 37,8 Grad hatte 56 Jahre Bestand – sei durchaus zu toppen, wenn alle Zutaten passten, also hoher Sonnenstand und eine stramme Luftströmung aus Süden.
Aber für viel mehr als 40 Grad reiche die Sonneneinstrahlung im global weit nördlich gelegenen Berlin einfach nicht. Irkutsk liegt übrigens auf demselben Breitengrad – aber tausende Kilometer entfernt von allen Meeren, sodass minus 40 Grad im Winter dort normal, aber hier unmöglich seien. Auch Stürme hätten ihre Grenzen: Mehr als etwa 150 km/h seien nicht möglich, sagt Riemann, „mehr gibt die Erdrotation nicht her“. Der Dahlemer Rekord liegt bei 131 km/h; an exponierten Stellen wurde schon mehr gemessen. Wobei die Schäden nicht linear mit der Windgeschwindigkeit zunehmen, sondern exponentiell.
Nur Laien dürfen ungestraft übers Wetter meckern
Mit ihrem Sachverstand wollen die Wetterexperten in eine Marktlücke stoßen: Das übliche Wetter könnten die gängigen Computermodelle gut vorhersagen, aber besondere Lagen überfordern sie leicht, sagt Riemann. Das gelte auch für lokale Spezialitäten wie die breiten Ausfallstraßen in den östlichen Bezirken, die im Winter bei Ostwind die eisige Luft praktisch direkt zum Alex durchleiten. Aber dann komme die Stadt als Barriere. Für die BSR und Winterdienstleister hängt von solchen Details ab, ob hunderte Mitarbeiter zum Dienst gerufen und bezahlt werden müssen.
Die Oberflächentemperaturen von Fahrbahnbelägen bei bestimmten Wetterlagen – Wind, Luftfeuchte, Bewölkung – lerne man nicht an der Uni. Auch die Frage, ob ein possierlicher Schneeschauer über der Uckermark ein paar Stunden später Chaos auf den Berliner Flughäfen auslöst, lasse sich nur mit Studium plus Erfahrung sicher beantworten. Auf diesem, ihrem Wissen wollen Riemann, Neubarth und demnächst noch weitere Kollegen ihr Geschäftsmodell aufbauen.
Als zweites Standbein haben sie die Radiostationen mit ihren Morgensendungen im Auge: Nichts sei schlimmer als ein für den Abend angekündigtes Gewitter, das die Leute dann doch schon morgens auf ihrem Weg zur Arbeit treffe, sagt Riemann. „Das gibt richtig Ärger.“ Nur Laien dürfen ungestraft übers Wetter meckern.