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Hermann Rudolph, ehemaliger Herausgeber und Chefredakteur, im alten Tagesspiegel-Hof an der Potsdamer Straße.
© Sven Darmer

Vom Mauerfall zum Zeitungskrieg: „Man fühlte sich mitten drin in einer großen Geschichte“

Um zur Stimme der ganzen Stadt Berlin zu werden, musste der Tagesspiegel sich neu erfinden: Ex-Chefredakteur Hermann Rudolph über Hürden und Herausforderungen.

Herr Rudolph, eine Zeitung neu zu erfinden – geht das überhaupt?
Jede Zeitung muss von Zeit zu Zeit neu erfunden werden. Der Tagesspiegel ist ein schönes Beispiel dafür. Bis zur Wende 1989/1990 war die Zeitung eine West-Berliner Institution - eine Stimme der Stadt, eine verlässliche Instanz. Sie verstand es als ihre Aufgabe, das Selbstbewusstsein der Stadt zu stärken, das kulturelle Leben, ihr wichtigstes Kapital, zu unterstützen - und die außenpolitische Balance der Viermächte-Stadt im Auge zu behalten, weil davon ihre Existenz abhing. Damit konnte sie gut leben.

Und das ging nach Mauerfall und Wiedervereinigung der Stadt nicht mehr?
Alle in Berlin mussten sich auf ungeahnte neue Bedingungen einstellen, auch die Zeitungen. Im Falle des Tagesspiegels kam zu dieser Herausforderung der Umstand, dass die Entwicklung des Zeitungswesens an ihm ziemlich vorbei gegangen war. Ich kam von der „Süddeutschen Zeitung“, die sich mit der Modernisierung auch nicht gerade leicht tat. Aber als ich Ende 1990 zum ersten Mal durch den Tagesspiegel geführt wurde - an einem Sonntag, als die Redaktion frei hatte -, verschlug es mir doch fast die Sprache. Was ich da sah, erinnerte mich an westdeutsche Zeitungen in den sechziger Jahren. Enge Büros, überall die Utensilien der altertümlichen Zeitungspraxis, Schreibmaschine, Schere und Kleber, von Computern weit und breit keine Spur.

Welche Erwartungshaltung herrschte in Verlag und Redaktion, als Sie Chefredakteur wurden?
Alle setzten auf einen neuen Anfang, Denn erstens war damals alles auf Zeitenwende gestimmt. Und zweitens hing am Tagesspiegels eine besondere, fast traumatische Geschichte: Bis zur Blockade 1948 hatte die Zeitung eine Auflage von 400.000 Exemplaren und war weit über Berlin hinaus im mitteldeutschen Raum verbreitet. Mit der Einschließung West-Berlins fiel die Auflage in kürzester Zeit ins Bodenlose, auf knapp 100.000. Was lag da näher als die Hoffnung, mit Mauerfall und Wiedervereinigung könnte das Blatt an die alten Zeiten anschließen? Entsprechend ins Kraut schossen die Erwartungen, 200.000 oder 300.000 Auflage waren das mindeste.

War das nicht ziemlich größenwahnsinnig? Haben Sie das im Ernst geglaubt?
Immerhin verkaufte das Blatt im kleinen West-Berlin 130.000 Exemplare. Aber vor allem gab es ja die Erwartung, dass die Leser im Osten begierig nach den westlichen Zeitungen greifen würden, nachdem sie Jahrzehnte auf die Lektüre von Parteizeitungen angewiesen waren. Ich selbst habe nie mit den ganz großen Sprüngen gerechnet. Doch dass wir auf runde 200.000 kommen könnten, habe ich schon angenommen. Aber Zeitungsleser sind Gewohnheitstiere, und wir mussten lernen, dass ein halbes Jahrhundert DDR nicht ohne Folgen für das Leseverhalten geblieben waren.

Mauerfall: Ein vierseitiges Extrablatt des Tagesspiegels wird zur Öffnung der Grenzen verteilt.
Mauerfall: Ein vierseitiges Extrablatt des Tagesspiegels wird zur Öffnung der Grenzen verteilt.
© Norbert Kesten

War die Zeitung, eine kleine Zeitung trotz ihres Renommees, für solche Entwicklungen aufgestellt?
Man konnte am damaligen Tagesspiegel sehen, was es technisch und organisatorisch hieß, auf der Insel West-Berlin - letzter Flug ins Bundesgebiet irgendwie zwischen acht und neun - zu existieren. Man kann sich das heute kaum noch vorstellen. Die Redaktion begann überhaupt erst um 13 Uhr zu arbeiten. Es gab praktisch keine Konferenzen. Die Seiten wurden ohne Layout und Struktur nach Zeilenzahl zusammengeschustert.

Die Druckmaschine war uralt, auf das sogenannte rheinische Format ausgelegt, das gab es sonst bei Qualitätszeitungen nicht mehr. Im Scherz sagte ich Christoph Stölzl, der damals das historische Museum aufbaute: „Wenn Sie eine Zeitung fürs Museum brauchen, nehmen Sie doch den Tagesspiegel.“ Immerhin, eine moderne Druckmaschine war schon im Aufbau und konnte im April 1991 ihre Arbeit beginnen. Aber das war nur ein Schritt in einem vollkommenen Umbau des Blattes.

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Eine Zeitungsrevolution nach der friedlichen Revolution?
Jedenfalls war es eine Erneuerung an Haupt und Gliedern, wie sie der Tagesspiegel bis dahin nicht erlebt hatte. Das Motto hieß die „Die Zeitung mit dem neuen Format“ und wollte signalisieren, dass das Blatt eine neue Epoche seiner Existenz ansteuerte. Größeres Zeitungsformat, sechs statt fünf Spalten, Einteilung in Ressortbücher, täglicher Leitartikel, aber auch ein Ausbau der Redaktion, neue Arbeitsräume, Erneuerung der Technik - der Tagesspiegel wurde zu einem Blatt, das in Erscheinungsbild und technischem Format den großen, überregionalen Zeitungen entsprach. Und dann kam das große Erschrecken: Die Auflage stieg nicht, sondern ging sogar zurück.

Was war da schief gegangen? Hatte der Tagesspiegel die Stadt und die Erwartungen der Leser und Leserinnen so wenig verstanden?
Ich weiß es bis heute nicht. Es war wohl eine Vielzahl von Gründen. Den einen war das neue Format zu groß, den anderen zu modern. „Wollen Sie ihre Schwiegermutter etwa im Minirock sehen?“, schrieb ironisch mein Freund Arnulf Baring, ein treuer Tagesspiegel-Leser. Das umschrieb ganz gut, wie sehr die Zeitung von den West-Berlinern als eine Art Familienmitglied gesehen wurde. Unsere Modernisierung war für manche Leser schwer zu schlucken. Aber die Auflagen-Delle war für uns ein schwerer Schlag.

Jedenfalls stellte er Chefredakteur und Redaktion heftig auf den Boden der Tatsachen. Und der war in diesen ersten Nachwendejahren hart und voller Schlaglöcher. Man muss sich erinnern, dass 1991 die Vereinigungseuphorie bereits zu kippen begann. Die Industrie brach weg, nicht nur in Ost-Berlin, die Stadt kämpfte mit hohen Arbeitslosenzahlen, auch im Westen, der Stimmungspegel sank.

Und auf dem Zeitungsmarkt, wo die West-Berliner Blätter bislang friedlich miteinander gehaust hatten, gab es mit einem Male Konkurrenz. Im vereinten Berlin drängelten sich nicht weniger als 15 Tageszeitungen! Und der Tagesspiegel stand als kleiner Mittelständler zwischen zwei Großverlagen – Springer auf der einen Seite, auf der anderen Seite der Hamburger Zeitungskonzern Gruner und Jahr.

Fragten Sie sich da nicht schon mal, ob der Umbau des Tagesspiegel gelingen würde? Worauf Sie sich da eingelassen hatten?
Dass nicht alles glatt gehen würde, konnten wir, höchst symbolisch, schon beim Start des neuen Blattes ahnen. Dieser 3. April 1991, an dem der Tagesspiegel die neue Druckerei in Betrieb nahm und die erste erneuerte Ausgabe erschien, bescherte uns am frühen Morgen die Schreckensnachricht von der Ermordung von Treuhand-Chef Rohwedder und am Abend das Zittern, ob die viel zu kurz eingefahrene neue Rotationsmaschine überhaupt anspringen würde. Tat sie dann doch, wenn auch nur für drei Stunden, aber da hatten dann alle Festgäste das neue Blatt schon in der Hand. Die Premiere war gelungen. Doch die neuen Herausforderungen warteten schon auf das Blatt.

Womit hatten Sie denn sonst noch nicht gerechnet?
Zum Beispiel damit, dass unsere Erscheinungsweise uns erhebliche Probleme bereiten könnte. Der Tagesspiegel erschien vom Dienstag bis Sonntag, wie das in Berlin in den zwanziger Jahren üblich war. Das gab der Ost-Berliner „Berliner Zeitung"- Erscheinungszeitraum Montag bis Samstag - die Chance, mit ihrer Montagsausgabe, vor allem mit dem Sportteil, in unser Verbreitungsgebiet einzudringen.

[Hermann Rudolph, Jahrgang 1939, war Chefredakteur und bis 2013 Herausgeber des Tagesspiegel. Für seine journalistische Arbeit erhielt er unter anderem den Theodor-Wolff-Preis und den Karl-Hermann-Flach-Preis.]

Um dieses Einfallstor zu schließen, griffen wir in unserer Not zu einem beispiellosen Schritt: dem Erscheinen von Montag bis Sonntag, also an allen sieben Tagen. Denn die Abschaffung der Sonntagsausgabe, dem Stolz der Inselzeit, zugunsten des bundesweit üblichen Erscheinens traute sich der Verlag nicht; vierzig Jahre West-Berlin wirkten nach. Was bedeutete: mehr Personal, Papier, mehr Planung. Gut für die Leser, verheerend für die Kosten. Auf den ohnedies unter den Investitionen für den Blatt-Umbau ächzenden Tagesspiegel kamen noch Mehrkosten von nicht weniger als zwanzig Prozent hinzu.

Verfügte der Tagesspiegel denn über Reserven, um mit alledem fertig zu werden? Er stand ja allein da, ohne einen großen Konzern im Rücken.
Als ich mich vor dem Wechsel nach Berlin in der Stadt umgehört hatte, sagten mir alle: Der Tagesspiegel steht auf sicheren Füßen. Ganz so war es nicht. Kurz und gut: ohne die Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck hätte der Tagesspiegel kaum überlebt. Es wurde lange und zäh verhandelt. Die Leute aus Stuttgart legten den Finger auf jeden Posten, während im Hause Tagesspiegel mancher den Verlust der Eigenständigkeit scheute. Am Ende stand die Übernahme des Tagesspiegels. Die Frage war dann aber: Was werden die Neuen mit dem Blatt machen? Ich war und bin der Überzeugung, dass die Übernahme ein Glücksfall war. Aber ohne Spannungen und Konflikte ging es nicht ab. Ein Chefredakteur muss immer auch die Redaktion verteidigen.

Zu alledem kam Mitte der neunziger Jahre ein heftiger Zeitungskrieg in Berlin. Der Reporter der großen Zeitungen sparten nicht mit dem einschlägigen Vokabular: Die „Süddeutsche Zeitung“ zum Beispiel beschrieb die „Entscheidungsschlacht um den Berliner Zeitungsmarkt“, andere den „spannendsten Kampf der Deutschen Pressegeschichte“.
Ja, die Wogen gingen hoch, und wir hatten zu tun, darin nicht unterzugehen. Gruner und Jahr unternahm mit der „Berliner Zeitung“ einen Großangriff auf den Berliner Zeitungsmarkt. Der Konzern steckte Millionen in das frühere SED-Blatt und verpflichtete 60 neue Redakteure, darunter das halbe FAZ--Feuilleton! Hauptkontrahent natürlich der Tagesspiegel. Wobei wir es besonders nett fanden, dass die lieben Kollegen, durchweg aus dem Westen, in der „Berliner Zeitung“ den großen Testlauf für die deutsch-deutsche Zukunft des Zeitungswesens sehen wollten - mit nichts Geringerem als der „Washington Post“ als Zielmarke -, während der Tagesspiegel als West-Berliner Auslaufmodell abgetan wurde.

Was hat Ihnen in dieser Situation die Zuversicht gegeben, das das Unternehmen gelingen kann?
Es war die Aufgabe selbst – die Chance, Zeitung an dem Ort zu machen, an dem das Abenteuer der Wiedervereinigung einer Stadt versucht wurde, die zu zwei Städten geworden war. Ein historisch und politisch singulärer Vorgang! Und das unmittelbar an der alten Trennungslinie, nahe dem Potsdamer Platz, der bald zum Zentrum des Wandels der Stadt wurde. Und dann stand man nach der Arbeit, gegen zehn oder halb elf, im rauschenden Abendverkehr der Potsdamer Straße. Das war etwas anderes als die bundesdeutsche Normalität in München, Frankfurt oder gar Bonn. Man fühlte sich mitten drin in einer großen Geschichte.

Der Tagesspiegel - Schriftzug
Der Tagesspiegel - Schriftzug
© imago images/Steinach

Hatten Sie eigentlich ein Programm ?
In den neunziger Jahren war natürlich das große Thema, Berlin als zusammenwachsendes Gebilde zu erkunden und zu beschreiben. Und wir konnten zu diesem Prozess beitragen, indem wir ihn immer wieder in den Mittelpunkt rückten. Angefangen mit der Auseinandersetzung um den Umzugsbeschluss und dann in einem geschätzt hundertjährigen Ringen um seine Verwirklichung. Ich glaube, keine andere Zeitung hat diesen Prozess so intensiv begleitet wie der Tagesspiegel. Und das bezog sich nicht nur auf den Berlin-Bonn-Schlagabtausch, sondern auch auf Kultur und Gesellschaft, in vielfältiger Weise, mit Streifzügen durch die wiedervereinte Stadt, mit der Wiederentdeckung älterer Schichten des Stadtlebens und mit der Wiederherstellung der Stadtlandschaft.

Der Bundestagsbeschluss für Berlin hing ja an einem seidenen Faden. Wie wichtig war er für den „Tagesspiegel“ ?
Wir haben ihn als eine Garantie für die Zukunft empfunden. Denn damit war erst wirklich klar, dass die Zeitung künftig am zentralen Schauplatz der Politik erscheinen würde und nicht in einer von Spannungen und Problemen gezausten Metropole an ihrem Rande, zu der Berlin ohne Zweifel sonst geworden wäre. Wobei man sich in Erinnerung rufen muss, dass zu Beginn des Jahres 1993, eineinhalb Jahre nach dem Bundestagsbeschluss, die Mehrheit der Deutschen gegen Umzug war – 83 Prozent nach einer ARD-Umfrage.

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Wie haben Sie damals neue Leute gefunden, die bei diesem Zeitungsprojekt mitzogen?
Das war nicht das Problem. Viele wollten nach Berlin, nachdem dort unabsehbar die Post abging. Aber dann ereilte uns im Zuge der Sparbeschlüsse des damaligen Finanzministers Waigel zur Finanzierung der deutschen Einheit die Streichung der Berlin-Zulage, die sogenannten „Zitterprämie“. Das waren acht Prozent des Bruttogehaltes. Bei den knappen Gehältern des Tagesspiegels galten die als fester Gehaltsbestandteil. Ohne sie hätten viele, vor allem jüngere Kollegen, den Umzug nach Berlin vielleicht gar nicht riskiert. Und der Verlag war nicht in der Lage, die Einbuße auszugleichen.

Stimmt es, dass die Euphorie über den Hauptstadtumzug auch in Berlin nicht nur auf Zustimmung stieß?
Nicht zuletzt die Bezirke bildeten eine lautstarke Front gegen die Bonner Hauptstadt-Pläne. Zum Beispiel machte ein West-Berliner Bürgerforum die Angst der Bürger vor dem Regierungsviertel zum Thema, weil es zu einem „Hochsicherheitstrakt“ zu werden drohe. Vielfach lebte sich da wohl nur die notorische Berliner Neigung zum Meckern aus. Aber ich erinnere mich noch an das Erstaunen des französischen Botschafters, der vor seinem Amtsantritt für einen Sprachkurs paar Monate nach Kreuzberg zog und es nicht fassen konnte, dass er mit seiner Begeisterung über Berlins Hauptstadtwerdung unter seinen Nachbarn ziemlich allein war.

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Bei allen Neuerungen, für die Sie angetreten sind: Wurden Sie dann doch Teil des alten Mythos Tagesspiegels?
Mit Mario Garcia holten sich Holtzbrincks einen Star-Layouter aus den USA. Ich habe ihm geraten, erst mal durch die Stadt zu gehen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wer wir sind und was wir machen.

Er hat uns erzählt, Sie wollten ihn wegschicken, damit möglichst nichts am Blatt verändert wird.
Unser Credo war, den Tagesspiegel zu verändern, damit er der Tagesspiegel bliebe. Und das hieß als Konzept: Eine regionale Qualitätszeitung mit überregionalem Anspruch, die den Anspruch erheben und einlösen kann, die Stimme Berlins zu sein. Publizistisch und intellektuell haben wir bei allen Veränderungen weiter auch vom Nimbus des Blattes gelebt, das ein West-Berliner Gewächs war und lange geblieben ist. Der langjährige Senatssprecher Wilfried Fest hat uns dazu die Sentenz ins Stammbuch geschrieben: „Der Tagesspiegel ist der Tagesspiegel. Alles andere ist alles andere“ - ein Prädikat, das wir uns gerne und oft und durchaus überzeugt an den Hut gesteckt haben.

Was macht Berlin für Sie heute aus?
Die Erfahrung der gelungenen Wiedergeburt der Stadt einschließlich der gewaltigen Um- und Aufbrüche, die hier in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben. Nach Gründerzeit und dem Überleben der Stadt in der Blockade sind diese Jahrzehnte die wichtigste Epoche in der Geschichte der Stadt. Nach meiner Überzeugung ist sie eine der großen Geschichten unserer Zeit – und der Tagesspiegel kann von sich sagen, dass er sie mitgeschrieben hat.

Die Sonne geht über dem Potsdamer Platz auf, links ist der Funkturm zu sehen.
Die Sonne geht über dem Potsdamer Platz auf, links ist der Funkturm zu sehen.
© Paul Zinken/dpa

Was hätten Sie aus heutiger Sicht anders machen sollen?
Wir hätten viel mehr in den Osten gehen sollen, die großen Geschichten dort noch häufiger aufschreiben müssen. Vielleicht hätte ich auch bestimmter führen sollen. Als ich anfing und natürlich tägliche Konferenzen einführte, blieb die Redaktion doch lange sehr reserviert. Man hätte die Kollegen viel mehr aktivieren sollen, um den redaktionellen Austausch zu stimulieren. Später hat das Giovanni di Lorenzo dann als Chefredakteur ganz hervorragend verstanden, viel besser als ich.

Und was bleibt für Sie aus den bald drei Jahrzehnten übrig, auch an erfreulichen Ereignissen, auch an Anlässen zur Genugtuung?
Verwundert hat mich die Lebenskraft, die die Zeitung bewiesen hat, vor der Wende, aber auch in den zum Teil hoch angestrengten Jahren danach. Die Zeitung hat nicht nur überlebt, was am Zeitungsmarkt Berlin keine Kleinigkeit ist - der Weg zur Zeitungsstadt Berlin von heute ist mit Zeitungsleichen gepflastert. Sie hat das Grau der Nachkriegs- und Teilungszeit abgeschüttelt und präsentiert sich heute auf der Höhe der Zeit, typographisch, thematisch und mit einer beträchtlichen Zahl an guten Autoren, guten Rubriken. Nicht zuletzt hat die Zeitung die spöttischen Urteile über die alte Tante Tagesspiegel glänzend widerlegt.

Kurz: Der Tagesspiegel kann auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken. Und nach drei Jahrzehnten schweißtreibender Konkurrenz im Zeitungsmarkt Berlin ist er schließlich auch zur größten Zeitung der Stadt geworden.

Ärgert Sie gar nichts am heutigen Tagesspiegel?
Ich finde manche Bilder zu groß, zu dominant für das Layout. Und manchen professoralen Gastbeitrag überflüssig. Aber keine Sorge, ich lese den Tagesspiegel gern.

Auch auf dem Tablet oder auf dem Handy?
Ich lese Zeitung.

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