Lastenräder in Berlin: Lust auf Last
Transportfahrräder werden immer wichtiger für die Mobilität in der Großstadt. Als Auto-Ersatz für junge Eltern, für Kleinunternehmer und große Logistikfirmen. Die Verkehrspolitik eiert hinterher.
Das Kiosk-Café Eule im Gleisdreieckpark liegt etwas versteckt zwischen den Schrebergärten. Der einstmalige Geheimtipp im Schöneberger Parkteil hat sich aber inzwischen herumgesprochen, an schönen Tagen kann der kleine Platz vor dem Kiosk ganz schön voll werden. Die Gäste kommen zu Fuß, mit Fahrrad, mit Fahrrad und Anhänger – und immer öfter halten auch Lastenräder dort an. Die gesellen sich zu dem dreirädrigen Transportrad, mit dem die Betreiber Nachschub für die hungrigen und durstigen Gäste in das Parkcafé bringen. „Ich wüsste gar nicht, wie wir das sonst machen sollten. Es sollen ja keine Autos im Park fahren“, sagt Wirtin Kristina Elig.
Die Lastenräder der Gäste sind ganz verschieden – und unterschiedlich sind auch die Nutzungen. Da ist das Modell Marke Eigenbau, das ein junger Vater selbst gebastelt hat, um seine Tochter herumzukutschieren. Er trifft auf die Flohmarkt-Kinderbuchhändlerin, die sich immer ein Lastenrad von den Nachbarn ausleiht, wenn sie Bücher zu Märkten transportiert. Und manchmal kommt ein Familienvater, der statt seines Kleinkinds seine gehbehinderte Mutter ins Lastenrad lädt, wenn sie zu Besuch kommt, damit sie den Karottenkuchen in der Eule nicht verpasst. Sie alle kommen schnell miteinander ins Gespräch – das Thema sind immer wieder auch die Räder selbst. Nur die Kuriere, die auf den schnellen Transport-Zweirädern der Marke Bullitt vorbeisausen, haben keine Zeit für ein Stück Kuchen.
Cargobikes sind keine Nischenprodukte mehr
Das Rad der Wirtin stammt von der Firma Christiania aus Kopenhagen und ist besonders häufig in Berlin zu sehen. Aber auch die niederländischen Bakfiets-Modelle fahren immer öfter über die Berliner Straßen (siehe Text unten links). Das Lastenrad, das in Amsterdam und Kopenhagen traditionell das Stadtbild beherrscht, ist dabei, auch Berlin zu erobern. Oder besser: wieder zu erobern. Schließlich war es zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein weit verbreitetes Transportmittel – bis es von der Innovation Auto verdrängt wurde. In Wilmersdorf, Steglitz oder Marzahn kann es zwar noch passieren, dass alte Damen neugierig fragen, was das denn für ein merkwürdiges Gefährt sei. In Schöneberg, Friedrichshain und Kreuzberg aber sind die Räder aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken. Vor allem Familien und kleine Firmen nutzen das Fortbewegungsmittel zunehmend als Auto-Ersatz.
„Seit etwa drei Jahren geht es steil nach oben mit den Lastenrädern. Und die Entwicklung wird weitergehen“, sagt Michael Schönstedt von der Firma Pedalpower in Lichtenberg, die die Strampeltransporter seit 15 Jahren herstellt. „Die ersten Lastenräder haben wir für Bioläden und Kitas angefertigt. Vor zehn Jahren war das noch ein Nischenprodukt. Das ist es längst nicht mehr.“ Mehrere hundert pro Jahr werden in Lichtenberg geschweißt und montiert, nicht alle werden innerhalb Berlins verkauft. Gerade sind Schönstedts Mitarbeiter dabei, eine Bestellung für den Logistikkonzern UPS fertigzubauen – auch dort setzt man offensichtlich nicht mehr nur auf große braune Lieferwagen mit Motor.
Schönstedt läuft von seinem Laden, in dem einige seiner Mitarbeiter mit Endmontage beschäftigt sind, zur großen Werkstatt in einem Hinterhof schräg gegenüber. Er zeigt auf eine Bäckerei neben seinem Geschäft: „Die haben jetzt auch ein Lastenrad. Und der Eisladen da hinten hat eins mit Kühlung bestellt.“ Viele der Pedal-Power-Lastenräder haben inzwischen einen Elektromotor, vor allem die für die Kurierdienste. „Der Energieverbrauch ist im Vergleich mit einem Auto minimal. Das kostet etwa 20 Cent auf 100 Kilometer.“ Schönstedt hat die Idee, auch dafür zu sorgen, dass überall in der Stadt Solarstationen zum Nachladen aufgestellt werden. Etwa 15 Kurierfirmen seien mit Lastenrädern in Berlin schon unterwegs, schätzt Schönstedt. Da würde sich das lohnen.
Ein weiterer Vorteil, diesmal gegenüber normalen Fahrrädern: Lastenräder sind sichtbarer im Straßenverkehr. „Auf meinem Transportrad bekomme ich von den Autofahrern mehr Respekt entgegengebracht“, sagt Joachim Mull, ein Tischler, dessen Rad ebenfalls aus der Lichtenberger Werkstatt stammt (siehe auch Porträts links). Andererseits würden Lastenradfahrer durch die Tücken der viel zu wenig auf Räder ausgelegten Verkehrsstruktur Berlins stärker behindert als die wendigeren Fahrradfahrer. „Wenn da plötzlich ein Bordstein in die Quere kommt, ist das schon ein größeres Hindernis für mein schwer beladenes, langes Rad“, sagt Mull.
Wenn nun aber immer mehr Lastenräder auf die Berliner Straßen drängen, können sie dann dafür sorgen, dass eine bessere Infrastruktur für alle Radfahrer entsteht? „Das passiert definitiv“, sagt Michael Schönstedt, „In 20 Jahren wird unsere Stadt ganz anders aussehen. Kopenhagen und Amsterdam müssen die Vorbilder sein. Die Radwege werden neu erfunden werden. Sie müssen breiter werden. Wir müssen den Autos eine Fahrspur wegnehmen.“
Berlin wird Fahrradstadt
Eine mutige Vision. Was das Neuerfinden des Fahrradverkehrs angeht, ist Berlin nämlich alles andere als kreativ. Anfang März 2013 beschloss der Senat die Neuauflage der „Radverkehrsstrategie“, die eine Maßnahmenliste von 80 Punkten und viele Versprechen enthielt. Im Februar musste der Senat nun, auf Anfrage der Piratenfraktion, zugeben: Fast nichts davon wurde umgesetzt. Fast kein zusätzliches Personal für die Radverkehrsplanung, keine Strategie gegen Falschparker auf Radwegen. Dazu passt, dass Berlin beim aktuellen „Fahrradklimatest“ des Allgemeinen Fahrradclub Deutschlands und des Bundesverkehrsministeriums unter den Großstädten auf Platz 30 gelandet ist – von 39. Lastenräder sind hier zwar nicht explizit Thema – aber die Schulnoten 4,7 für die Oberfläche der Radwege sowie 4,8 für deren Breite zeigen: Da liegt noch einiges im Argen.
Diese Zahlen erscheinen umso problematischer, weil Berlin sich offenbar immer stärker zur Fahrradstadt entwickelt – und das eben nicht nur auf dem Segment der schlanken Normalmodelle. „Seit etwa fünf Jahren haben wir konstant hohe Verkaufszahlen bei Lastenrädern“, sagt Rosanna Hopp, Geschäftsführerin des Fahrradladens Mehringhof. „Es gibt keinen kurzfristigen Boom, sondern ein richtiges Umdenken. Wenn Leute Eltern werden, kaufen sie sich nicht mehr automatisch ein Auto, sondern oft stattdessen ein Lastenrad.“ Wie zum Beweis schiebt gerade eine junge Mutter ihr Rad in den Verkaufsraum. Sie bringt es zur Reparatur, ihr Kleinkind zieht in den Buggy um – der passt locker mit in die Lastenkiste.
Es gibt kein Umdenken in der Politik
Was die weitere Entwicklung des Geschäfts mit den großen Rädern angeht, ist Rosanna Hopp optimistisch: „Je sichtbarer die Lastenräder werden, desto mehr Leute kommen auf den Gedanken, eins anzuschaffen.“ In Bezug auf die Berliner Fahrradinfrastruktur ist sie trotzdem nicht besonders zuversichtlich. „Es gibt ein Umdenken in der Bevölkerung, was das Verhältnis zum Fahrrad angeht – aber nicht in der Politik. Wir brauchen bestimmt noch zehn Jahre, bis sich etwas bewegt.“
Die Jahreszahl 2025 kommt mehrmals als Zielsetzung in der Berliner „Radverkehrsstrategie“ vor. Verkehrsstaatssekretär Christian Gaebler (SPD) ist der Meinung, dass die Politik durchaus schon etwas bewegt: „Wir bauen das Radroutennetz aus und haben ein paar große Projekte schon umgesetzt, etwa in der Turmstraße und der Müllerstraße. Die Warschauer Straße folgt jetzt. Dass manches lange dauert, will ich nicht bestreiten. Aber da arbeiten wir dran.“ Fast vier Millionen Euro sollten 2015 in den Radwegebau investiert werden. „Was die Kritik an der Breite der Fahrradwege betrifft, muss ich sagen, dass wir ja eben keine solchen mehr bauen, sondern Radfahrstreifen auf der Fahrbahn.“
Fahrradstraßen wären auch für Kinderanhänger wichtig
Viele Betroffene teilen Gaeblers Optimismus nicht. „Der Radverkehr hat einfach keine Priorität für die Verantwortlichen in der Stadt“, sagt etwa Hans Bichel. Bichel, ein großer Mann mit grauen Wuschelhaaren, sammelt Oldtimer-Lastenräder. Er informiert auf der Facebookseite „Bakfiets Lastenfahrrad“ über alles, was in der Berliner Szene so vor sich geht. Man trifft ihn an Samstagen auf dem Markt am Südstern in Kreuzberg. Bichel lehnt an seinem übergroßen roten Gefährt mit drei Rädern. Daran klebt ein Plakat, auf dem ein Lastenradrennen auf der Messe Velo angekündigt wird. Bichel wird mitfahren. „Breitere Radwege und Fahrradstraßen wären nicht nur für Lastenräder, sondern auch für Fahrräder mit Kinderanhängern wichtig – davon gibt es noch mehr als Lastenräder.“
Dann begrüßt er Arne Behrensen, der seine eineinhalbjährige Tochter auf dem Arm trägt. Die beiden sind ebenfalls mit dem Lastenrad gekommen. Behrensen hat das Rennen mitorganisiert, beim Verkehrsclub Deutschland ist er dafür zuständig, das Lastenrad als professionelle Transportmöglichkeit populärer zu machen: „Mehr als die Hälfte aller Transporte in der Stadt könnten mit Lastenrädern gemacht werden. Dazu gehören alle Privateinkäufe“, sagt Behrensen. „Das würde mehr Lebensqualität für alle Berliner bringen. Zum Beispiel die Schadstoffemissionen eindämmen. Dann könnten Kinder wieder auf der Straße spielen – bei uns auf der Sonnenallee in Neukölln ist die Luft furchtbar.“
In Berlin gehört das Lastenrad zum Straßenbild
Auch beim Logistikunternehmen der Post, DHL, ist man schon aufs Lastenrad gestoßen. Drei Monate lang wurden im vergangenen Jahr zwei unterschiedliche Fahrradmodelle in Berlin getestet, um kleinere Paketsendungen im Expressversand auszuliefern: ein zweirädriges Lastenrad mit verschließbarer Transportbox, die 140 Liter fasst. Und ein normales Fahrrad – die Sendungen werden in diesem Fall im Kurier-Rucksack transportiert. Elias Gansel von DHL hatte die Idee zu dem Projekt und koordiniert es von Bonn aus. Auch in Frankfurt gab es eine Testphase: „Dort war unser ,Parcycle‘ gefühlt das erste Lastenrad in der Stadt – in Berlin gehört das ja schon zum Straßenbild.“
Und was haben die Tests ergeben? „Unser Favorit ist das normale Fahrrad mit Rucksack“, sagt Gansel. „Das ,Parcycle‘ kann mehr mitnehmen, braucht aber eine bessere Infrastruktur.“ Und die gibt es eben nicht in Berlin. Gansel hat zudem festgestellt, dass es auch für das Unternehmen selbst viel Aufwand bedeutet, Lastenräder als Kurierfahrzeuge einzuführen. Spezielle Depots zur Paketverwahrung müssten eingerichtet werden. Und Rad und Box müssten gut vor Diebstahl gesichert werden. Andererseits sei die Zustellqualität besser als bei Autos. Gansels Fazit: „Man kann Lastenfahrräder nicht überall einsetzen. Je kürzer die Wege, desto besser funktioniert es.“ Ab dem Sommer will DHL deshalb sowoh Lastenräder als auch normale Fahrräder regulär in Berlin einsetzen. Erstere aber nur dort, wo es gute Wege gibt. „Es wird noch das eine oder andere Jahr dauern, bis die Potenziale richtig genutzt werden.“
Sich mit wenig Kapital selbstständig machen
Auch ein anderes Potenzial wird wohl noch eine Weile nicht so intensiv genutzt werden: „Lastenräder sind eine tolle Möglichkeit, sich mit wenig Geld selbstständig zu machen. Zum Beispiel, indem man es als Verkaufsstand nutzt“, sagt Stella Denning, die genau das gemacht hat und selbst gebackenen Kuchen verkauft. Weniger begeistert ist man beim Bezirksamt Kreuzberg: Wenn man Standgenehmigungen erteile, etwa für Parks, sei es schwer, Grenzen zu setzen. Auf einmal stünden dann 15 mobile Läden da und die Spaziergänger hätten keine Ruhe mehr. Und kontrollieren könne man Lastenrad-Stände auch schwer, da man sie schlecht verfolgen könne, wenn sie davonführen.
Auch Sophia-Maria Antonulas hat eine Absage vom Bezirksamt bekommen, als sie nach einer Erlaubnis fragte, vom Lastenrad aus Kleidungsstücke mit dem Schriftzug „I bike Berlin“ zu verkaufen. Damit will Antonulas nicht nur Geld verdienen, sondern auch „das Radfahren in Berlin promoten“. Aber ihr wurde keine Erlaubnis erteilt: „Als ich nach Plätzen fragte, hieß es, ich würde dann einem Auto den Parkplatz wegnehmen.“
Der vorliegende Text erschien - ebenso wie die folgenden Porträts - erstmals gedruckt am 21.März 2015 in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin.
Service: Welches Lastenrad passt zu mir?
STABIL UND SICHER
Die bei Familien wohl beliebteste Variante ist der dreirädrige Frontlader, vor allem von der dänischen Firma Christiania (ab 1500 Euro). Aber auch das Bakfiets aus den Niederlanden (von Bakfiets.nl ab 1900 Euro angeboten). Ein ähnliches Modell gibt es von Babboe (ab 1300 Euro), es ist jedoch etwas schwerer und einfacher verarbeitet. Die umgekehrte Variante, die dreirädrigen Hecklader (Tricycles), sieht man seltener. Ihr Vorteil: Die Ladefläche kann sehr groß sein, es gibt Modelle mit Platz für acht Kinder (erstes Foto) oder eine Europalette. Alle Dreiräder können zwar trotz aller Stabilität umkippen, aber nur wenn ein Kantstein oder eine scharfe Kurve in die Quere kommt. So gibt es auch Eltern, die ihre Babys für die Fahrt vor die Brust binden, während die großen Kinder auf der Holzbank bei den Einkäufen sitzen.
SCHNELL UND SCHICK
Tieflader („Long Johns“) sind zweirädrige Lastenräder. Zu ihnen gehören die Modelle der dänischen Firma Bullitt (ab 2250 Euro), mit denen oft Kurierfahrer herumsausen. Das dänische Original-„ LongJohn“ gibt es nur noch als Oldtimer. Die Ladefläche ist vorn zwischen Lenker und Vorderrad. Das holländische Bakfiets gibt es auch in der zweirädrigen Variante, es ist etwas kürzer und hat eine Holzkiste (ab 1600 Euro). Selten sieht man die umgekehrte Zweirad-Variante: Hecklader („Longtails“), mit Ladefläche zwischen Sattel und Hinterrad.
KURZ UND WENDIG
Frontlader („Cycle Trucks“) sind kürzer als die Long Johns, der lange Gepäckträger ist über dem Vorderrad (zweites Foto). Auch Räder mit normalem Rahmen und zwei übergroßen Gepäckträgern sind Lastenräder.
Berliner Lastenrad-Porträts 1:
EIN GUTES ALTES STÜCK
Größte Last: "Werkzeug und eine Leiter, insgesamt etwa 70 Kilo."
Größte Freude: "Das Fahrrad durfte mit in eine Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie, weil das Wachpersonal es so toll fand."
Größte Panne: "Ein Freund hatte sich in die offene Transportkiste gesetzt, der Deckel drückte gegen das Lenkrad - und rumms, kippten wir um."
"Ich war wohl einer der Ersten, der in Berlin mit einem Lastenrad umhergefahren ist", sagt Jürgen Burkhard, selbstständiger Fotograf und Beleuchter. Das war vor 14 oder 15 Jahren, genau weiß er das nicht mehr. In Hannover hatte er ein dänisches "Long John" gesehen und wollte unbedingt auch so etwas, um sein Arbeitsmaterial zu transportieren. Also bat er eine Fahrradwerkstatt in seinem Kreuzberger Kiez, aus einem ausrangierten Postfahrrad eins zu bauen. Damit fährt er seitdem etwa zu Baustellen, baut dort ein Stativ auf, stellt sich auf eine Leiter und fotografiert den Fortgang der Arbeiten. Die Fotos verkauft er an Architekten, Bauherren und Bewohner. Fast etwas sehnsüchtig beobachtet er heute die schicken neuen Bullitt-Transportflitzer, wenn er durch die Stadt fährt: "Die wirken stabiler und sind schneller." Aber er hängt zu sehr an seinem guten alten Stück, um es gegen ein neues einzutauschen.
FAMILIENKUTSCHE
Größte Last: "Ein 80-Kilo-Mann."
Größte Freude: "Dass alle ,Wow' sagen, wenn man vorbeifährt."
Größte Panne: "In Straßenbahnschienen hängen geblieben und ein anderes Mal ein geplatzter Reifen."
Anton ist eineinhalb und fährt in einem roten Oldtimer-Mercedes stilvoll durch die Gegend - ganz ohne Benzin und Abgase. Denn Antons Vater, Felix Willems, ist stolzer Besitzer eines echten Einzelstücks: ein Lastenrad, auf dessen Gestell statt einer Holzbox ein kleiner Seifenkisten-Mercedes montiert ist. Das sehenswerte Gefährt hat der 28-Jährige, der gerade in Physik promoviert, bei Ebay ersteigert und im VW-Bus von Hannover nach Berlin gebracht. Aufs Lastenrad gekommen war er aber schon einige Zeit zuvor. Bei einer Summerschool zum Thema "Unternehmertum und Klimawandel" während des Studiums plante er mit einem Team einen Lastenradverleih - und setzte danach die Idee mit einem Kommilitonen tatsächlich als zweimonatiges Projekt um, unter dem Titel "Unser Lastenfahrrad". Inzwischen schätzt er die Fortbewegungsart auch dafür, dass man sie im Familienalltag so vielseitig einsetzen kann - selbst wenn das Mercedes-Gestell ein bisschen weniger Platz bietet als die großen Holzkisten der herkömmlichen dreirädrigen Modelle. An Wochenenden macht die Familie Rad-Ausflüge in entfernte Bezirke - anfangs lag Anton dabei in einer Auto-Babyschale, in der er auch gut schlafen konnte. Inzwischen ist ein richtiger Fahrradsitz im Mercedes montiert. Dahinter ist noch viel Platz für Proviant, Antons Laufrad, Spielzeug - und den Wochenendeinkauf. Und wenn Anton zu krank für die Kita ist, aber nicht krank genug, um es zu Hause im Bett auszuhalten, machen seine Eltern aus dem Lastenrad einfahrendes Krankenlager. Dort ist er warm eingepackt, aber an der frischen Luft.
MIT RAD ZUR TAT
Größte Last: "Eine Schranktür, 150 Kilo Werkzeug, 2,40 Meter lange Bretter."
Größe Freude: "Bergab fahren."
Größte Panne: "Keine!"
Vor einem Jahr beschloss der Tischler Joachim Mull mit Anfang 50, sich selbstständig zu machen. Dabei war ihm klar: Er wollte kein Auto anschaffen. "Es ging mir nicht nur um den ökologischen Effekt", sagt er. "Man kriegt auch nie einen Parkplatz - und es ist teuer im Unterhalt." Und bedeutet so auch ein wirtschaftliches Risiko für eine kleine Ein-Mann-Möbel-Reparatur. Trotzdem musste Joachim Mull irgendwie sein Werkzeug und das nötige Holz zu den Kunden bringen. Denn normalerweise repariert er die Möbel gleich vor Ort. Also kaufte er ein zweirädriges Lastenrad, auf dem er vorn eine große abschließbare Metallkiste anbrachte - für den Schraubenkoffer, die Bohrmaschine, den Akkubohrer, die Werkzeugkiste und die Schleifmaschine. Transportiert er lange Bretter, kann er die Kiste auch abnehmen - Mull schätzt diese Flexibilität. Und das Rad fährt sich sehr gut: Sogar Kunden in Zehlendorf hat der Kreuzberger schon besucht. Er nutzt sein Gefährt aber nicht nur beruflich. Privat macht er Musik - und transportiert auf dem Fahrrad seine großen Sambatrommeln.
GEFEDERTER VELTLINER
Größte Last: "180 Weinflaschen."
Größte Freude: "Eine Gruppe Niederländer hat sich neulich sehr gefreut, als sie das Rad auf dem Markt gesehen haben."
Größte Panne: "Ein Platter nach Feierabend am Samstag."
Die Stände auf dem Markt am Südstern sehen eigentlich alle ganz pittoresk aus. Trotzdem ist das Oldtimer-Lastenrad von Sophia-Maria Antonulas ein ganz besonderer Hingucker. "Es ist ein Verkaufsfahrrad aus den Dreißigern, aus den Niederlanden. Hier in der Ecke hängt noch eine alte Preisliste von einem Bäcker", sagt sie. "Rosinen Brood 1.00" steht dort. "Aber ursprünglich war es tatsächlich zum Weinverkauf gedacht!" Genau dafür nutzt Antonulas es nun wieder. Jeden Samstag verkauft sie Weine aus Österreich auf dem Markt - und transportiert sie per Lastenrad dorthin. "Das Fahrrad hat Federn wie ein Lkw, das ist optimal für den Wein." Unter der Woche verkauft ihre Firma Veltliner und Co.-Weine online. "Die Bestellungen fahren wir auch mit dem Rad aus, allerdings ist das ein normales Rad mit Anhänger", sagt die 45-Jährige, die früher als Journalistin arbeitete. Mit einem anderen Lastenrad verkauft sie auf anderen Märkten auch T-Shirts und Kappen mit dem Logo "I bike Berlin".
Berliner Lastenrad-Porträts 2:
TRAINING FÜR DEN KIEZ
Größte Last: "100 Kilo Streuobstäpfel, die in Friedrichshain verteilt wurden."
Größte Freude: "Die Reaktionen von Passanten."
Größte Panne: "Die Warschauer Straße - da kommt man einfach nicht durch."
Margit Beutler hat eine Zeit lang in Holland gelebt. "Da habe ich gesehen, dass Verkehr sehr gut hauptsächlich übers Rad funktionieren kann." Vergangenes Jahr kam der 33-Jährigen der Gedanke, Lastenräder in der sozialen Arbeit für die Volkssolidarität einzusetzen, für die sie in Friedrichshain eine Begegnungsstätte leitet: Im Dezember schaffte die gemeinnützige Organisation, die sich um Senioren, chronisch Kranke, Pflegebedürftige, sozial Benachteiligte sowie Kinder und Jugendliche kümmert, vier Lastenräder an. "Ich hatte die Idee, dass man damit die Nachbarschaft besser vernetzen und das soziale Bindegewebe trainieren könnte - indem sich die Menschen mit dem Rad gegenseitig helfen", sagt Beutler. Das Projekt bekam den Namen "Quartiersrad". Stationiert sind die Gefährte in sozialen Einrichtungen: im Familienzentrum "Menschenskinder", im Nachbarschaftstreff "Wir im Kiez" an der Koppenstraße und in der Beratungsstelle "Komm rum". Soziale Projekte und interessierte Berliner mit guten Nutzungsideen können die Räder ausleihen. Zurzeit ist das etwa die Aktion "Lebensmittel retten": Abgelaufene Ware, die Geschäfte und Märkte spenden, wird zu den öffentlichen Verteilungspunkten gefahren. Es sollen aber auch Bücher zu älteren Leuten gebracht werden, die nicht mehr mobil genug sind, um in eine Bibliothek zu gehen. Auch die Spaziergangsgruppe aus dem Quartier rund um den Platz der Vereinten Nationen nutzt eins der Räder. Die Senioren können ihre Rucksäcke oder Taschen hineinlegen - oder selbst ein Stück darauf fahren. "Ich habe so etwas bis vor Kurzem noch nicht gesehen", sagt die 70-jährige Brigitte Ode über das Lastenrad.Jetzt schwingt sich sich einfach mal probehalber in den Sattel.
SÜSSER LASTER
Größte Last: "2x1 Meter große, schwere und sperrige Holzplatten, die ich zum Ausbau des Rads brauchte."
Größte Freude: "Zwei Männer, die auf Facebook gesehen hatten, dass ich gerade Kuchen verkaufte, kamen mit Tupperdosen und kauften auf Vorrat."
Größte Panne: "Nach dem allerersten Verkaufstag ist die Kette abgefallen ..."
Direkt vor dem Eingang zur Deutschen Welle an der Voltastraße in Wedding steht eine schlanke junge Frau neben einem Lastenrad. Sie hat es zu einem kleinen Verkaufsstand gemacht und bietet selbst gebackenen Kuchen an: Banana Bread, Oatmeal Raisin Cookies, Zitronenschnittchen, veganer Himbeerstreuselkuchen und vegane Brownies. "Sweetmobil" nennt Stella Denning ihre mobile Bäckertheke. Sie hat ein altes Lastenrad gekauft und einen Aufsatz gebaut, mit Schubladen für Körbe, in denen das Gebäck aufbewahrt wird.Das süße Menü steht auf einer Tafel - ohne Preise. "Wie viel kostet das denn?", fragt eine Kundin. "Du spendest, so viel du möchtest. Leg es einfach da rein", sagt die Selfmade-Bäckerin und zeigt auf eine Box, die neben dem Kuchen steht. Die Kundin legt einen Schein hinein und nimmt sich einige Münzen heraus. "Ein bis drei Euro geben die Leute pro Stück", sagt Denning, als die Kundin weg ist. "Insgesamt nehme ich so wahrscheinlich mehr ein als mit festen Preisen." Wo sie als Nächstes verkaufen wird, kündigt sie auf Facebook, Twitter und Instagram an - mit Fotos, die einem das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Aufgewachsen ist sie in New York, ihre Eltern sind Deutsche. Und obwohl sie erst 24 Jahre alt ist, hat sie schon einen beeindruckenden Lebenslauf: Sie hat Friedens- und Konfliktforschung in Amerika studiert, für eine Organisation gearbeitet, die obdachlosen Frauen hilft und für ein Projekt, das versucht hat, in Boston kleine Lastenradgeschäfte wie ihres zu etablieren. "Da sind wir aber an den behördlichen Auflagen gescheitert."
PLATZ FÜR EINE EUROPALETTE
Größte Last: "300 Kilo Gemüsekisten."
Größte Freude: "Am Stau vorbeifahren im Stadtverkehr!"
Größte Panne: "Als nach Silvester überall Scherben lagen, hatten wir auf einer einzigen Fahrt drei platte Reifen."
Als der Diplom-Wirtschaftssinologe Martin Seißler Vater wurde, überlegte er, ob er jetzt ein Auto anschaffen müsste. Doch er entschied, dass in Kreuzberg ein Lastenrad sinnvoller ist. Und nachdem er gute Erfahrungen bei privaten Transporten aller Art gemacht hatte, kam ihm die Idee, das Transportunternehmern Velogista zu gründen - mit eigens dafür konstruierten Lasten rädern, die wie kleine Lastwagen aussehen. Sie können eine ganze Europalette transportieren und haben 250 Watt starke Radnaben-Elektromotoren, die Geschwindigkeiten bis zu 25 km/h ermöglichen. 60 bis 70 Kilometer weit kommen die Fahrräder mit einer Batterieladung. Das Start-up Velogista ist als Genossenschaft aufgebaut: Fahrer, aber auch andere können Anteile erwerben. Seit einem Jahr transportieren die Dreiräder von Velogista vor allem Getränkekisten, Obst und Gemüse sowie Druckerzeugnisse durch die Stadt ."Wir beliefern auch Kinos mit Snacks", sagt Roland Naumann, als zweites Vorstandsmitglied bei Velogista zuständig für Personal und Kommunikation. "Inzwischen haben wir etwa 40 Firmen als Auftraggeber. Darunter sind viele Bioläden - mir ist aber wichtig, dass Logistik mit Lastenrädern kein ausschließlich grünes Thema ist. Das sollte etwas ganz Selbstverständliches sein. Man kann so die Stadt ein bisschen lebenswerter gestalten, das Parken in zweiter Reihe und sogar den Autoverkehr reduzieren." Drei Lastwagenräder hat das Start-up bisher in Betrieb. Im Lauf dieses Jahres sollen drei weitere hinzukommen. "Der Bedarf ist da, wenn man sich anguckt, wie die Straßen aussehen", sagt Naumann. Irgendwann will die Genossenschaft 100 Fahrzeuge einsetzen.
Der Lastenradfahrer-Porträts erschienen erstmals gedruckt am 21.März 2015 in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin.