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Mehr Verkehrssicherheit durch Rücksichtnahme: „Tempo 30 ist schwer vermittelbar“

Staatssekretär Christian Gaebler über die steigende Zahl der Verkehrstoten, mangelnde Aufmerksamkeit auf den Straßen und das Radfahrkonzept des Senats.

Herr Gaebler, vor zehn Jahren hat der Senat ein Verkehrssicherheitsprogramm beschlossen mit dem Ziel, die Zahl der Verkehrstoten und Schwerverletzten Verkehrsteilnehmer bis 2010 um 30 Prozent zu senken. Laut der neuesten Unfallstatistik ist sie stattdessen seitdem sogar um zehn Prozent gestiegen. Wie erklären Sie das?

Dass wir damit nicht zufrieden sind, ist klar. Der Trend insgesamt zeigt nach unten …

… das gilt für die Getöteten, aber nicht für die Verletzten. Zählt man die Leichtverletzten dazu, sind es binnen Jahresfrist sogar fast 1000 Verkehrsopfer mehr.

Wir müssen uns die einzelnen Risikogruppen anschauen. Der Anstieg betrifft ja vor allem Senioren und Motorradfahrer. Kinder und Jugendliche erreiche ich über die Schulen, Radfahrer teilweise über die Verbände. Die Senioren sind schwieriger zu erreichen, da sie keine homogene Gruppe bilden. Darauf haben wir noch keine richtige Antwort – abgesehen von den üblichen Maßnahmen wie Mittelinseln und Zebrastreifen. Aber auch die Senioren selber müssen bewusster mit den Anforderungen des Großstadtverkehrs umgehen.

Im Zehnjahresvergleich hat sich die Zahl der Unfälle mit Senioren fast verdoppelt. Vielleicht sind Tempo 50 und zehn Sekunden Fußgänger-Grün an Berliner Hauptverkehrsstraßen einfach nicht vereinbar mit dem demografischen Wandel?

Das mit den Ampeln ist die Quadratur des Kreises: Längere Grünphasen bedeuten längere Umlaufzeiten. Das bedeutet längere Wartezeiten, sodass die Leute dann doch bei Rot gehen. Und diese Mär, dass man wegen zu kurzer Grünphasen nicht mehr über die Straße kommt, ist falsch. Die Ampelphasen sind so berechnet, dass ein Fußgänger sicher über die Straße kommt, wenn er bei Grün gestartet ist. Vielleicht müssen wir uns diese Zeitpuffer noch mal anschauen, aber bei Ampelumläufen von zwei oder zweieinhalb Minuten hätten wir definitiv ein Problem.

Und was ist mit Tempo 30?

In mehr als drei Vierteln aller Straßen haben wir ja schon Tempo 30. Wir müssen immer abwägen, dass eine gewisse Mobilität gewährleistet bleibt. Stadtweit auf Verdacht Tempo 30 einzuführen würde eher nicht helfen. Hinzu kommt die Frage der Akzeptanz: Tempo 30 wird da akzeptiert, wo es einen Anlass gibt, also Kitas, Schulen oder Lärmschutz. Aber einfach zu sagen, es dient der Verkehrssicherheit, scheint mir problematisch. Wenn es nicht eingehalten wird, nützt es auch nichts.

Ist Akzeptanz das richtige Kriterium für eine Vorschrift, die zweifellos Menschenleben retten würde?

Würde man diese Logik auf die Spitze treiben, müsste man das Autofahren verbieten. Also bleibt es eine Frage der Abwägung. Wir machen Tempo 30 da, wo es der Sicherheit dient. Aber stadtweit halte ich das für schwer vermittelbar.

An den schlimmsten Unfallschwerpunkten gilt fast ausnahmslos Tempo 50. Warum fängt man nicht wenigstens dort an mit der Entschleunigung? Das dürfte uns viele Schwerverletzte ersparen.

Es ist ja nicht gesagt, dass die Geschwindigkeit die Hauptursache ist. Radfahrer verunglücken besonders oft, weil Kraftfahrer unaufmerksam abbiegen. Aber deshalb kann ich doch nicht das Abbiegen verbieten. Wir können nicht alle Probleme durch Vorschriften lösen, sondern nur durch Rücksichtnahme. Das gilt übrigens für alle Beteiligten. Wir können Querungshilfen bauen, aber die Leute müssen trotzdem aufmerksam sein. Wer 50 Meter Umweg zum nächsten Zebrastreifen scheut, muss eben entsprechend aufpassen.

Apropos Querungshilfen: Im Kindergarten meiner Tochter hängt seit drei Jahren ein Zettel, auf dem der Bau einer Mittelinsel angekündigt wird. Die Insel gibt es immer noch nicht. Aktuell scheitert sie daran, dass die Verkehrslenkung, also Ihre Verwaltung, die Baustelle nicht anordnet. Das darf doch nicht wahr sein!

Den Ärger kann ich verstehen. Hier muss schneller gearbeitet werden. Aber es sind eben immer viele beteiligt: Bezirk, Verkehrslenkung, Polizei. Deshalb dauert es leider oft lange. Das ist unbefriedigend für die Betroffenen.

Die mühsame Abstimmung der Beteiligten ist ein altes Problem. Wird sie denn jemals besser?

Die Anforderungen an die Verwaltung sind eher gestiegen, während gleichzeitig Personal abgebaut wurde. Es war politisch gewollt, dass nur in Kitas, Schulen und Polizei zusätzlich investiert und sonst überall gespart wurde. Das ist kein Vorwurf, aber es erklärt die Probleme. Immerhin haben wir bei der Verkehrslenkung jetzt acht Leute neu eingestellt und dringen bei den Bezirken darauf, dass sie mitziehen. Insofern sehe ich die Chance, dass wir den Stau endlich abarbeiten.

Blitzer, Radfahrer, Zuparker

Noch ein weiteres Bild einer schwierigen Stelle in der Clayallee. Liebe Leserinnen, liebe Leser: Senden Sie uns Ihre Fotos von ärgerlichen Stellen im Berliner Radverkehr an leserbilder@tagesspiegel.de.
Noch ein weiteres Bild einer schwierigen Stelle in der Clayallee. Liebe Leserinnen, liebe Leser: Senden Sie uns Ihre Fotos von ärgerlichen Stellen im Berliner Radverkehr an leserbilder@tagesspiegel.de.
© Sven Tober

Beim Thema Verkehrssicherheit haben Sie oft betont, mehr Blitzer seien nicht die Lösung. Jetzt fordert sogar die CDU welche.

Ich habe gesagt, dass mehr stationäre Blitzer allein keine Lösung sind. Wichtiger ist mir, dass die Polizei ihre mobilen Messgeräte mehr einsetzt und nicht herumstehen lässt, weil sie meint, kein Personal zu haben. Jetzt sind Parlament und Polizei offener, mehr zu investieren. Wenn Blitzer ein probates Mittel sind, um Unfallschwerpunkte zu entschärfen, ist mir das recht.

Bei Unfällen mit Personenschäden spielen Radfahrer eine große Rolle. Vor genau zwei Jahren hat der Senat die Neuauflage der Radverkehrsstrategie beschlossen, aber von den 80 Maßnahmen darin wurde bisher fast nichts umgesetzt.

Ich bekomme oft Beschwerden, dass wir angeblich zu viel für den Radverkehr machen. Dass fast nichts umgesetzt wurde, stimmt so nicht. Wir bauen das Radroutennetz aus und haben ein paar große Projekte schon umgesetzt wie in der Turmstraße und der Müllerstraße. Die Warschauer Straße folgt jetzt. Dass manches lange dauert, will ich nicht bestreiten. Aber da arbeiten wir dran – zusammen mit den Bezirken.

Als Sofortmaßnahme stand in der Strategie beispielsweise, dass die Personalausstattung von Hauptverwaltung und Bezirken verbessert werden soll.

Wir haben Stellen angemeldet und werden bald sehen, ob wir besser bedacht werden als bisher. Außerdem haben wir beispielsweise mit der Fahrradstaffel eine neue und erfolgreiche Form der Zusammenarbeit zwischen Radfahrern und Polizei erreicht. So zu tun, als wäre Berlin die fahrradunfreundlichste Stadt weit und breit, finde ich falsch.

Beim Fahrradklimatest von ADFC und Bundesverkehrsministerium ist Berlin allerdings tatsächlich gerade in den Tabellenkeller gerutscht. Ein Hauptgrund war, dass Fahrradspuren mit größter Selbstverständlichkeit zugeparkt werden. Packt Sie nicht die Wut, wenn diese unbestrittenen Erfolge Ihrer Arbeit von egoistischen Autofahrern zunichte gemacht werden?

Das mit dem Zuparken ärgert mich. Aber ein wesentlicher Punkt im Fahrradklimatest war die hohe Diebstahlrate in Berlin. Wir als Senat haben zusätzliche Abstellmöglichkeiten geschaffen, aber gegen Diebstahl können wir relativ wenig machen. Und was die Kritik an der Breite der Fahrradwege betrifft, muss ich sagen, dass wir ja eben keine solchen Fahrradwege mehr bauen, sondern Radfahrstreifen auf der Fahrbahn.

Die schlechteste Einzelnote, nämlich 5,3, hat Berlin just dafür bekommen, dass das Zuparken dieser Streifen großzügig geduldet wird.

An der Warschauer Straße haben wir als Konsequenz aus diesem Problem schon den Lieferverkehr intensiver bedacht. Der hat ja in vielen Geschäftsstraßen ein Problem. Und gegen das Zuparken müssen nun mal vor allem Polizei und Ordnungsämter vorgehen. Wir sind im Gespräch, aber die Ämter jammern ja auch immer, dass sie kein Personal haben.

Das übliche Berliner Problem, an dem so vieles scheitert.

Wir widmen uns aber dem Verkehrsklima insgesamt, etwa mit der Rücksicht-Kampagne. Die soll Autofahrer dazu bringen, beim Abbiegen aufzupassen. Sie soll Radfahrern vermitteln, dass Verkehrsregeln auch für sie gelten und der Gehweg kein Radweg ist. Und sie soll Fußgänger zu mehr Aufmerksamkeit bringen. Parallel versuchen wir, mit Pilotprojekten wie Maaßenstraße, Bergmannstraße und am Checkpoint Charlie Verbesserungen für alle Beteiligten zu erreichen. Aus diesen Modellvorhaben wollen wir Erfahrungen gewinnen, die dann auch anderen Orten zugute kommen.

Das Gespräch führte Stefan Jacobs.

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