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Nah dran. Geschätzt drei- bis viertausend Wildschweine gibt es in Berlin. Vor zehn Jahren waren es mal 10 000.
© Gregor Fischer/dpa

Wildtiere in Berlin-Brandenburg: Leidet Berlin wirklich unter einer außergewöhnlichen Wildschweinplage?

Die Meldungen über Wildschweine in Berlin und Brandenburg häufen sich. Doch ein Experte sagt: "Auffällig sind nicht die Mengen, sondern bestimmte Rotten." Und er warnt vorm Füttern.

Sechs Wochen lang hatten die Wildschweine auf Berlins größtem Friedhof ihre Ruhe. Aber es soll ihre letzte gewesen sein. Denn sie verwüsten Wege und Gräber und verängstigen die Besucher, die nach der Sperrung wegen Sturm „Xavier“ seit Mitte November wieder den Friedhof In den Kisseln in Spandau betreten dürfen. Zumal die Tiere sich besonders gern tagsüber auf dem waldähnlichen, mit reichlich Rückzugsmöglichkeiten bestückten Gelände aufhalten. Dagegen geht das Bezirksamt nun vor. Doch auch aus anderen Teilen der Stadt kommen Klagen über eine angebliche Wildschweinplage.

Aktuelle Meldungen stammen beispielsweise aus Heiligensee und Tegel im Norden sowie aus dem Allendeviertel in Köpenick. „Neulich Abend habe ich ein großes Wildschwein an der Straßenbahn- Wendeschleife gesehen“, berichtet eine Anwohnerin. „Und mehrere in der Nähe. Entlang der Wege ist wirklich alles umgewühlt. Wahrscheinlich stauen sich dort die Regenwürmer.“

Aus Stolpe-Süd an der Stadtgrenze berichtet die „Märkische Oderzeitung“ von Anwohnern und Briefträgern, die sich nur noch im Auto auf die Straße trauen – und von der Berliner Forstverwaltung erwarten, dass mehr Tiere als bisher geschossen werden. 40 seien schon erlegt worden, hieß es aus dem Revier; bis zu 100 dürften es zum Jahresende werden – viel mehr als in früheren Jahren.

Nicht mehr als sonst

Wird Berlin zurzeit tatsächlich von einer außergewöhnlichen Wildschweinplage heimgesucht? Nein, sagt Derk Ehlert, Wildtierexperte bei der Umweltverwaltung. „Das Vorkommen ist durchschnittlich – mit grob geschätzt drei- bis viertausend Tieren stadtweit. Die Hochzeiten mit acht- bis zehntausend Tieren, wie wir sie vor etwa zehn Jahren hatten, sind vorbei.“ Damals seien Schonzeiten gestrichen und mehr Jagden genehmigt worden.

Die Statistik zeigt den Effekt: Reichlich 3000 geschossene Wildschweine in der Jagdsaison 2008/09 sind der Rekord der vergangenen 20 Jahre. In den letzten Jahren waren es jeweils rund 1500. Hinzu kommen mehr als 100 überfahrene Tiere pro Jahr allein in Berlin.

„Auffällig sind nicht die Mengen, sondern bestimmte Rotten“, erklärt Ehlert die Aufregung. Vor Jahren habe eine an der Heerstraße heimisch gewordene Rotte den Eindruck einer allgegenwärtigen Plage erweckt. Dabei waren das immer dieselben Tiere.“ Straßenränder seien gerade bei Frost attraktiv: Das von der Fahrbahn ablaufende Tausalz halte den Boden frostfrei.

Davon profitiert auch das Gewürm, das wiederum die Schweine anlockt. Für die sei auch ein Friedhof ideal: rund ums Jahr feucht, mit nahrhaften Blumenzwiebeln bestückt, der Boden locker und voller Engerlinge. Hinzu komme das stressfreie Leben dank Hundeverbot.

Bitte nicht füttern

Die „Morgenpost“ berichtete kürzlich von einer noch in diesem Jahr geplanten „Treibjagd“ In den Kisseln. Was nach einem Blutbad auf dem Friedhof klingt, sei in Wahrheit eher eine „Austreibung“, sagt Jens Häsing, Referent des Baustadtrats. Nach Instandsetzung des Zauns, Einbau eines Metallgitterrostes – den die Tiere meiden – am Haupteingang und Sicherung der anderen Tore sollen die Wildschweine dauerhaft vom Gelände vertrieben werden. Knapp 180 000 Euro koste die Aufrüstung den Bezirk.

In Waldnähe gelegene Sportplätze sind nach Auskunft von Ehlert meist schon gut gesichert – mit Zäunen, die aus steifem Metall sein und zusätzlich einen Sockel brauchen oder in den Boden ragen müssen. „Bei Gartenzäunen sollte man Durchlässe für Kleinsäuger wie Igel einplanen“, sagt Ehlert. Ein solider Zaun sowie die konsequente Vermeidung von Futtergaben – zu denen auch Kompost zählt – seien die beste Abwehr. Das Problem, dass Wildschweine bewusst gefüttert würden, gebe es nur noch selten, sagt Ehlert. Bei Verstößen gegen das Fütterungsverbot drohen bis zu 5000 Euro Strafe.

Privatleute können das Land für Schäden nicht haftbar machen, sondern allenfalls ihre eigene Versicherung bemühen. Nach Auskunft einer Sprecherin der Allianz sind Schäden an Gebäude und Zaun in vielen Hausrat-Tarifen mitversichert, nicht aber ramponierte Gärten.

Wildschweine in bester Lage

Wie sich die Wildschweinbestände entwickeln, entscheidet die Natur: Im vergangenen Winter waren die Bedingungen für die Wildschweine günstig, denn auf eine „Eichelmast“ folgte durchweg mildes Wetter, sodass die Bachen gut genährt und die im Spätwinter geborenen Frischlinge nicht erfroren. Die sogenannte Eichelmast, bei der die Eichen massenhaft fruchten, hat sich in den vergangenen Jahren deutlich gehäuft: „Früher gab es das etwa alle zehn Jahre, in letzter Zeit etwa alle zwei“, sagt Ehlert. „Das ist ein Indiz dafür, dass es den Eichen nicht gut geht.“

Über die Jagd lassen sich die Bestände nur geringfügig regulieren, heißt es auch bei Naturschutzverbänden. Außerhalb der Wälder ist ohnehin wenig machbar: Nur etwa 20 zugelassene „Stadtjäger“ dürfen dort – mit Genehmigung des Grundstückseigentümers – die Flinte anlegen. Und sie tun es laut Ehlert nicht gern, weil sie auf eigene Verantwortung handeln und die Munition großkalibrig ist. Meist würden die Stadtjäger im Auftrag der Polizei tätig, wenn Gefahr im Verzug ist.

Als Trost für Wildschweingeplagte berichtet Ehlert, dass andere Großstädte ähnliche Probleme haben und dass gesunde Wildschweine nicht aggressiv seien – sofern man sie nicht in die Enge treibe. Die schlechtesten Abwehrchancen hätten Bewohner von Wassergrundstücken, „denn Wildschweine sind gute Schwimmer“. Und sie sind nicht die Einzigen, die in bester Lage wüten: Aus Neu-Venedig in Köpenick wurden laut Ehlert zuletzt mehrfach Biber gemeldet, die junge Obstbäume fällten – und sie wegen ihres süßen Holzes gleich im Ganzen mitnahmen in ihr nasses Reich.

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