75 Visionen für Berlin – Folge 36: „Digitalisierung ist nichts für Feiglinge“
Berlin darf das Thema nicht kurzsichtig angehen. Sonst werden andere bestimmen, wie wir leben. Ein Gastbeitrag.
Gastautor Key Pousttchi ist Wirtschaftsinformatiker. Sein aktuelles Buch heißt: „Die verblendete Republik – warum uns keiner die Wahrheit über die Digitalisierung sagt“.
Berlin gilt in vielerlei Hinsicht als Zentrum der Digitalisierung. Ein Begriff, der in aller Munde und für die Zukunft des Landes entscheidend ist.
Das Problem beginnt dann, wenn die öffentlichen Befürworter der Digitalisierung genau angeben sollen, was damit gemeint ist. Und was genau sie selbst, hinter allen Worthülsen und Nebelkerzen, von der Sache verstehen.
Denn Digitalisierung ist nicht nur sehr viel schwieriger als sie aussieht, es gibt auch noch ein weiteres Problem: Es sagt uns keiner die Wahrheit darüber.
Denn während uns der Online-Himmel auf Erden versprochen wird, sehen wir vor unserer Haustür jeden Tag das Gegenteil: wie Cyberkriminelle das Kammergericht wochenlang lahmlegen und in großem Stil Daten abzapfen können.
Wie die Berliner Verwaltung als größter Arbeitgeber ihre Mitarbeiter trotz Corona jeden Tag ins Büro kommen lässt, weil sie für großflächiges Homeoffice weder die Prozesse noch die IT-Kapazität hat.
Wie die Berliner Online-Lernplattform am ersten Schultag nach den Ferien entgegen aller Versprechungen „die Grätsche macht“, wegen Anfängerfehlern in der Datenbank-Konfiguration.
Falls Sie sich bei diesen Themen an den Hauptstadtflughafen erinnert fühlen, liegen Sie richtig: Das Digitalisierungs-Vorzeigeprojekt der Bundesregierung, die „IT-Konsolidierung Bund“, bewegt sich inzwischen bei Kostensteigerung und zeitlicher Verzögerung langsam auf die Dimensionen des BER zu.
Das alles ist kein Zufall. Denn in der Digitalisierung gibt es, wie überall im Leben, keine Abkürzungen: Wer nachhaltige Ergebnisse will, muss nachhaltig arbeiten.
Wenn Digitalisierung funktionieren soll, ist sie kein Lifestylethema, sondern eine Ingenieursaufgabe – eine sehr große und komplexe zwar, aber eine lösbare.
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Vorausgesetzt, man bringt sowohl das Know-how mit als auch den Willen, systematisch und gründlich zu arbeiten.
Die schlechte Nachricht ist: Wer uns etwas anderes erzählen will, erzählt Märchen. Oder schafft Lösungen, die am Ende eben doch nicht vernünftig funktionieren.
Digitalisierung ist auch ein Frauenthema
Die gute Nachricht lautet: Es lohnt sich für Berlin, das Thema systematisch anzugehen. Weil es in vielerlei Hinsicht bestimmt, wie wir morgen leben werden.
Und auch, weil es drei Facetten hat, die man ihm nicht auf den ersten Blick ansieht.
Erstens: Digitalisierung ist ein Frauenthema: Als ich als Professor an der Universität Potsdam vor einigen Jahren den neuartigen Studiengang Digitale Transformation eingeführt habe, hatte ich den Ehrgeiz zu zeigen, dass es geht.
Und wir haben es gezeigt – solange ich dort war, betrug der Frauenanteil in jedem Jahrgang über 40 Prozent. Wobei ich übrigens gemerkt habe, wie wenig es in Wirklichkeit geschätzt wird, wenn jemand kommt und das Problem unideologisch löst. Gerade von den Leuten, die sich das Thema am lautesten auf die Fahne schreiben. Aber immerhin: Die Presse fand es klasse, das hat uns sehr geholfen. Und die Frauen selbst fanden es klasse: machen, vorangehen!
[Vor 75 Jahren ist der Tagesspiegel als erste Berliner Zeitung nach dem Krieg gegründet worden. Wir bitten 75 engagierte Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Kultur, Sport und Zivilgesellschaft, uns ihre Ideen für die Zukunft dieser Stadt zu schildern. Alle bisher erschienenen Beiträge dieser Serie lesen Sie hier.]
Zweitens: Digitalisierung ist ein Aufsteigerthema: Wenn es um IT geht, sprechen alle die gleiche Sprache, denken alle in den gleichen Sphären. Und wenn diese beiden Barrieren fallen, wird Aufstieg durch Leistung problemlos.
Und wir können die Fachkräfte, die uns so dringend fehlen, in wenigen Jahren ausbilden, zum Nutzen aller Seiten.
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Drittens: Digitalisierung ist ein europäisches Thema: Digitalisierung gibt es auch in funktionierend. Dann kommt sie von Apple, Google, Facebook, Amazon & Co. Ebenso wie 5G-Netztechnik von Huawei.
Wenn wir wieder auf Augenhöhe kommen wollen, müssen wir die europäischen Kräfte bündeln. Und das sollten wir: Denn wer die Technik bestimmt, hat die Kontrolle und macht die Regeln.
Ich hatte in den 1980er Jahren einen Vater, der vor den Wunsch nach einem Computer den Nachweis von Programmierkenntnissen gesetzt hat.
Kinder dürfen die digitale Welt nicht erst als Konsumenten betreten
Und danach eine Schule, die Informatik als normales Fach unterrichtet hat. Diese Kombination stieß mir ein Tor auf zu einer neuen Welt. Nun muss nicht jeder Professor für Digitalisierung werden. Aber ohne das, was wir heute „digital literacy“ nennen, geht es nicht: Verstehen und Gestalten statt nur Konsumieren. Die notwendige Medienkompetenz muss bereits in der Schule vermittelt werden.
Die öffentlichen Befürworter der Digitalisierung sagen uns bei jeder Gelegenheit, wir müssten „voranschreiten“. Einverstanden.
Aber die Wahrheit dabei ist: Genau das geht nicht mit dem heute üblichen Wegducken, wenn es an Umsetzung und Technik geht. Kinder dürfen die digitale Welt nicht zuerst als Konsumenten betreten. Und Erwachsene es nicht dabei belassen. Denn Digitalisierung ist nichts für Feiglinge. Fangen wir an, sie uns zu erobern.
Key Pousttchi