Ghostkitchens: Gutes Essen aus Restaurants, die es nicht gibt
Die Fahrer mit den rosa- und türkisfarbenen Rucksäcken gehören längst zum Stadtbild. Jetzt gibt es auch in Berlin die ersten Ghostkitchens – Konzeptrestaurants, die ihre Speisen ausschließlich liefern lassen.
Jeden Abend, wenn es dunkel wird, knipst Benjamin Brudler den kleinen Schalter eines knallgelben, im Schaufenster eines Lokals in der Reinhardstraße in Mitte hängenden Leuchtschildes an – und da mit ein ganzes Restaurant. Und eine Revolution der Gastronomie.
„California Soul Kitchen“ steht auf dem knallgelben Leuchtschild in der Größe eines Serviertellers. Im Grunde wäre die genaue Lage des Restaurants und die Tatsache, dass hier Salate und bunt gemischte Schüsseln, sogenannte „Bowls“, zubereitet werden, nur der Rede wert, wenn man die Gerichte der California Soul Kitchen auch tatsächlich in der Reinhardstraße essen könnte.
Auf der Homepage des Lokals sieht zunächst alles aus wie anderswo auch: „The Sunshine State of Mind“ wirbt das Lokal in großen Buchstaben, dahinter sieht man Schalen mit Kichererbsen, Brokkoli, Rosinen, Kürbis, Pulled Pork und Granatapfelkernen, das üblichen gesunde Essen dieser Tage. „From Ocean Drive – to Karl-Marx-Allee“ verspricht die Seite, der Spinatsalat heißt entsprechend „Venice Beach“, die Bowls hören auf popkulturell und humoristisch kenntnisreiche Namen wie „Prince of Bel-Air“ (nach der Serie mit Will Smith aus den 90ern), „California Love“ (nach dem Rap-Evergreen von 2Pac und Dr. Dre) und „California uber alles“ (nach einem Hit der Punks von Dead Kennedys).
In London und New York gehören Ghostkitchens längst zum Alltag
Dass das alles wahnsinnig zeitgeistig, furchtbar clever und perfekt ausbaldowert wirkt, liegt daran, dass es genau das ist: ein gastronomisches Konzept, das gerade erst in Berlin angekommen ist, in New York und London aber längst zum Alltag gehört. „Ghost kitchen“ lautet der englische Fachbegriff für dieses gastronomische Konzept: Etwas geisterhafte Lokale ohne Gasträume, Restaurants mit wohlklingenden Namen und schmackhaftem Essen, das aber nicht durch Kellnerinnen oder Kellner, sondern ausschließlich per Fahrradkurier zu den Gästen gelangt.
Die Idee ist so simpel wie einleuchtend: Je weniger Menschen selbst kochen oder während langer Nachtschichten vor dem Computer essen, desto größer ist die Nachfrage nach Essen, das sich gut transportieren lässt. Weil der allabendliche Anruf beim Pizza-Lieferdienst auf Dauer keine kluge Idee ist, wächst die Nachfrage nach mehr oder minder gesunden Alternativen. Und weil es den Kunden letztlich egal sein kann, ob sie nun bei einem echten Restaurant mit Gastraum und Service bestellen, wovon sie ja eh nichts haben – warum nicht die Kosten sparen und stattdessen direkt eine auf Lieferessen spezialisierte Großküche betreiben?
Benjamin Brudler, der die California Soul Kitchen gemeinsam mit Anahita Alizadeh betreibt, mag den Begriff „Ghostkitchen“ nicht sonderlich, auch wenn das Essen ihres gemeinsamen Restaurants tatsächlich ausschließlich über den Bestelldienst Foodora zu bekommen ist. „Was wir machen, ist ja eben keine Geisterküche. Es sind vielleicht Geisterrestaurants – aber in unserer Küche stehen ja echte Menschen“, sagt Brudler und lacht.
Die California Soul Kitchen ist die erste Ghostkitchen in Deutschland. In New York und Chicago aber betreibt etwa das amerikanische Start-up mit dem etwas sperrigen Namen „Green Summit Group“ bereits zwei Großküchen, in denen die Gerichte von insgesamt 16 kulinarischen Konzepten, jeweils mit eigener Speisekarte, eigenem Namen und eigenem Logo produziert werden und mit den auch in Berlin längst zum Stadtbild gehörenden Fahrern mit den quadratischen rosa- oder türkisfarbenen Isolationsrucksäcken zu den Kunden bringen lässt. In den Metropolen der USA gibt es bereits Dutzende solcher Anbieter.
Brudler, ein etwas salopper, etwas ruheloser Typ mit Schnurrbart, Goldkettchen und aufgeknöpftem Hemd, ist Berliner, hat an der Technischen Universität Betriebswirtschaft studiert, in München in Marketing promoviert und in den letzten Jahren in Hamburg und Berlin für McKinsey als Unternehmensberater gearbeitet. „Ganz klassisch Consultant, Strategieberatung.“ Mittlerweile betreibt er nicht nur eine Firma namens Brudler Beteiligungen GmbH, sondern auch die Foodmatics Gmbh, die hinter der California Soul Kitchen steckt. Aber Brudlers Wirtschaftswissen ist nur ein Teil der nötigen Expertise – schließlich ist auch eine Ghostkitchen eine Wirtschaft.
Anahita Alizadeh aber, Brudlers aus dem Nordiran stammende Geschäftspartnerin, betreibt seit vielen Jahren zwei Lunchlokale in Mitte, eben das auf gesunde Küche spezialisierte CouCou in der Reinhardtstraße, von wo aus Brudler und sie auch die California Soul Kitchen betreiben, und das Sabzi in der Luisenstraße, das persische Küche für europäische Kunden serviert. Die Gerichte und das Konzept für ihre Ghostkitchen haben Brudler und Alizadeh innerhalb weniger Wochen seit November vergangenen Jahres entwickelt, seit dem 2. Januar kann man nun auch bestellen.
Die Eile hat einen guten Grund: Nach den USA und Großbritannien boomt das Geschäft mit dem gelieferten Essen auch in Deutschland, angetrieben von Foodora und Deliveroo, den beiden wichtigsten Lieferdiensten. Foodora ist dabei der mit 2600 Fahrern und 29000 Restaurants in 36 Städten Marktführer. Die Delivery Hero-Gruppe, zu der Foodora gehört, konnte ihren Umsatz im vergangenen Jahr um 60 Prozent auf über 544 Millionen Euro steigern. Ein Markt mit vielen Möglichkeiten. In Berlin stehen Cheeseburger und Pizza auf den ersten Plätzen der beliebtesten Lieferspeisen, wie die Daten von Deliveroo zeigen – in Schöneberg ist allerdings Curry mit Entenbrust noch beliebter (siehe Auflistung unten).
Brudler und Alizadeh gehen in der California Soul Kitchen mit System vor. „Ich habe bislang Essen gemacht für Gäste, die im Restaurant sind. Wir bereiten einen schönen Teller vor und bringen ihn dem Gast an den Tisch,“ sagt Alizadeh. Die Arbeit an der Karte und den Gerichten für das Lieferessen, für die sich Brudler und Alizadeh Hilfe von einem profilierten Koch mit langjähriger Catering- und Gastronomieerfahrung holten, folgt jedoch eigenen Regeln. Würde man die Gerichte, die Alizadeh sonst verkauft, einfach in Schüsseln packen und per Fahrrad transportieren – das Essen wäre matschig und wenig ansehnlich, ehe es tatsächlich verzehrt wird. „Wir haben also überlegt: Wie muss Essen aussehen, das geliefert genauso lecker und gutaussehend ankommt wie eine Mahlzeit im Restaurant, und auch noch gesund ist?“ sagt Alizadeh.
Wichtig ist, dass das Branding stimmt
Lektion 1: Anders als in ihren Restaurants muss das Essen auch lauwarm noch optimal schmecken und halbwegs schüttelresistent sein. Als die ersten Gerichte konzipiert waren, packten Alizadeh und Brudler das Essen also in Transportschüsseln, verstauten es in Rucksäcke und lieferten es persönlich zu Freunden – um herauszufinden, ob ihr Essen den Transport wirklich unbeschadet überstehen würde. Brudler und Alizadeh haben ein Baukastensystem an Zutaten der aktuellen Hipsterküche entwickelt. Das Sortiment verbindet die Geschmäcker der Küche des israelischen Kochs Yoram Ottolenghi – Okraschoten, Granatapfelkerne, Brokkoli – mit den immer beliebten Varianten asiatischer Küche – Reis, Zitronengras und Miso – mit Trendzutaten wie Protobellopilzen und Quinoa. Der Clou: Viele Zutaten finden in mehr als zwei Gerichten Verwendung.
Lektion 2: Ein normales Restaurant hat dutzende, wenn nicht hunderte Gelegenheiten, den Gast zu locken, eine Art persönlichen Kontakt aufzubauen und letztlich zu überzeugen: Den Namen, die Lage, die Speisekarte samt Aufmachung, die Atmosphäre, den Maitre, den Service, das Geschirr, das Besteck, die Wahl der Gläser. Und, nicht zu vergessen, das Publikum.
Ein Lokal wie die California Soul Kitchen hat nur: den Namen, die Homepage, die Speisekarte. „Branding“, wie Brudler die Namenswahl und alles, was das Vertrauen des Kunden stärkt, nennt, ist also enorm wichtig. Als Brudler und Alizadeh im Herbst anfingen zu planen, erstellte Brudler – ganz Berater – zuerst eine kleine Marktforschung und fragte im Bekanntenkreis ab, welcher Restaurantname den größten Zuspruch und die besten Assoziationen erhielt. 86 Teilnehmer verzeichnete Brudler, nicht viel, aber immerhin. Zur Auswahl standen vier Namen: „Blue Ocean Foods“, „California Uber Alles“, „Malibu Delights“ und eben „California Soul Kitchen“.
„‚California Uber Alles‘ auf keinen Fall! Erinnert zu sehr an die erste Strophe des Deutschlandlieds“ schrieb jemand. „Blue Ocean Foods klingt wie ein Großhandel für Tunfisch und Hummer“ fand ein anderer. Das Ergebnis war relativ eindeutig: „Malibu Delights“ und „Blue Ocean Foods“ flogen raus, „California Uber Alles“ überlebte lediglich als Name eines Gerichts. Und Brudler entschied, den Namen des jeweiligen Gerichts immer von Hand auf die Verpackung zu schreiben. „Die Seele muss rüberkommen,“ sagt er. „Auch wenn man sich nicht begegnet, ist das ja keine Fabrik hier. Hier arbeiten ja Menschen, die sich viel Mühe geben. Aber wir haben hier viel weniger Touchpoints mit den Kunden.“
Lektion 3: Das gesamte Konzept einer Ghostkitchen ergibt erst Sinn, wenn man es ausbaut – wenn man es „skaliert“, wie das im Start-up-Jargon heißt. Derzeit sind Brudler und Alizadeh auf der Suche nach einer zentral gelegenen Großküche. Einerseits wollen sie so das Geschäft mit der California Soul Kitchen aus den eher kleinen Räumlichkeiten des CouCou herausholen – und andererseits möglichst bald ein zweites virtuelles Restaurant eröffnen, vermutlich mit moderner nahöstlich-orientalischer Küche, wie sie der israelische Koch Yoram Ottelenghi populär gemacht hat. Weitere sollen folgen.
„Man kann eine Idee für vergleichsweise wenig Geld testen“ sagt Brudler. „Man braucht ein schlüssiges Konzept, sehr gute Rezepte und professionelle Fotos. Aber deutlich weniger Geld als für die Einrichtung eines ganzen Ladens.“ Das verschafft Spielraum fürs Experimentieren: Wenn ein Konzept nicht funktioniert, hat man weder Ärger mit langfristigen Mietverträgen und muss keine teure Inneneinrichtung losschlagen, sondern kann einfach ein neues Konzept ausprobieren. Je nachdem, was die Kunden wollen.
Denn es sind längst nicht mehr nur die Workaholics, die Kochfaulen und Verplanten, die bei Brudler und Alizadeh bestellen. „Vor Kurzem rief eine Frau aus Dortmund an, die Essen für ihren schlimm erkälteten Sohn in Berlin bestellt hat“, erzählt Brudler. Der Name des Restaurants, die Gerichte und das wenige, was sie im Netz über die California Soul Kitchen erfuhr, überzeugte sie. Nur, dass ihr Sohn in Neukölln und damit weit außerhalb des Lieferkreises wohnt, das hatte sie übersehen. Also setzte sich Brudler selbst ins Auto und lieferte aus. Noch ist die Ghostkitchen klein genug, dass der Chef sich Zeit nehmen kann, den guten Geist zu spielen.
Dieser Beitrag ist auf den kulinarischen Seiten "Mehr Genuss" des Tagesspiegel erschienen – jeden Sonnabend in der Zeitung. Hier geht es zum E-Paper-Abo. Weitere Genuss-Themen finden Sie online auf unserer Themenseite.
TOP 6: Die beliebtesten Lieferessen in Berlin
1. Cheese Burger | Tommi's Burger Joint
2. Pizza Margherita | Pizzare
3. Lemongrass Phad Thai | Lemongrass
4. Bulgogi BBQ Classic | Mmaah
5. Koriander-Hähnchen | Fatoush
6. Bibimbab - Honey BBQ Beef | Son Kitchen - Korean Street Food
(Quelle: Deliveroo)
Häufigste Bestellungen nach Stadtteilen
Friedrichshain: Lemongrass Phad Thai | "Lemongrass"
Mitte und Prenzlauer Berg: Cheese Burger | "Tommi's Burger Joint"
Neukölln: Bulgogi BBQ Classic - groß | "Mmaah"
Schöneberg: Curry mit Kross gebackenem Entenbrustfilet | "3 Mom's"
Wedding: Rebel Burger | "Rebel Room - Delivery"
Wilmersdorf: Bibimbab - Honey BBQ Beef | "Son Kitchen - Korean Street Food"
(Quelle: Deliveroo)
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